Die Novemberrevolution von 1918 in Herne und Wanne-Eickel

„Die Stimmung der gesamten Bevölkerung ist selbstverständlich augenblicklich eine überaus gedrückte und verzweifelte. Die Unabhängigen Sozialdemokraten benutzen dies natürlich und sind eifrig dabei, durch Versammlungen und Verteilung von Hetzflugblättern die große Masse ihren Ideen gefügig zu machen…“, berichtete der Chronist des Arnsberger Regierungspräsidenten an das preußische Innenministerium am 31.Oktober 1918. Das Zitat beschrieb die Stimmung der Bevölkerung im Ruhrgebiet am Ende des Ersten Weltkriegs (1914-1918) und am Vorabend der Deutschen Revolution von 1918. Bereits am 3. November 1918 kam es in Kiel zum Aufstand der Matrosen gegen weitere militärische Aktionen, die die Befehlshaber der Flotte trotz der bereits feststehenden Niederlage des deutschen Kaiserreichs immer noch planten.

Von Kiel und den anderen Hafenstädten ausgehend, entwickelte sich eine Massenbewegung im gesamten Ruhrgebiet. Kaiser Wilhelm II. dankte auf Druck der militärischen Führung unter General Groener ab und floh nach Holland ins Exil. Der Reichskanzler Prinz Max von Baden rief den Sozialdemokraten Friedrich Ebert zu seinem Nachfolger aus. Die Regierungsmacht übernahm am 9. November 1918 der sogenannte Rat der Volksbeauftragten, der aus drei Mitgliedern der SPD und aus drei Mitgliedern der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) bestand. Überall in Deutschland gründeten sich nach dem Vorbild der russischen Revolution Arbeiter- und Soldatenräte, die zunächst die politische Macht in Deutschland übernahmen.

Die Matrosen und Soldaten initiierten eine Revolution mit dem Ziel, in Deutschland demokratische Verhältnisse herzustellen. Überall in Deutschland, auch in Herne, übernahmen Arbeiter- und Soldatenräte die politische Macht. Infolge dieser Revolution wurde in Deutschland vor 100 Jahren die parlamentarische Demokratie eingeführt und die allgemeinen Menschenrechte in der Staatsverfassung verankert. Die Frauen erhielten zum ersten Mal in Deutschland das aktive und passive Wahlrecht.

Die Novemberrevolution in Herne

Am 8. November 1918 konstituierte sich in Herne ein sogenannter Ordnungsausschuss, der den Versuch des Oberbürgermeisters Sporleder darstellte, die revolutionäre Bewegung in „geordnete Bahnen“ zu lenken. In seinen Tagebuchaufzeichnungen schreibt Oberbürgermeister Dr. Sporleder: „Auf Freitag, den 8. diesen Monats habe ich dann wieder eine Versammlung der Leiter der gewerblichen Betriebe mit über 1 000 Arbeitern zusammengerufen. In dieser Versammlung wurde dann die Bildung einer Bürger- und Schutzwehr beschlossen. Am Abend des genannten Tages fand dann im Rathaus unter meiner Leitung eine Sitzung statt, in der vertreten waren: die Arbeiterausschüsse der sämtlichen Großbetriebe, Parteisekretäre der verschiedenen Richtungen, Bürger, die Leiter der gewerblichen Betriebe, Magistratsmitglieder und Stadtverordnete sowie auch Führer der hiesigen Polen. Nach eingehender Besprechung der Lage wurde der Erlass eines Aufrufs an die Bevölkerung beschlossen. In deutscher sowie auch in polnischer Sprache wurde dieselben am Sonnabend im ganzen Stadtgebiet verbreitet.“

Wichtig ist festzuhalten, dass Sporleder erst die Versammlung einrief, nachdem er sich die Zustimmung der Schlot- und Zechenbarone für sein politisches Vorgehen holte. Dabei versuchte er durch Einbeziehung der politischen Parteien und der Arbeiterausschüsse der Betriebe die Herner Arbeiterschaft an die Politik des Ordnungsausschusses zu binden.  Charakteristisch für die Politik des Ordnungsausschusses  war die Betonung der Notwendigkeit von „Ruhe und Ordnung“ im Interesse de Sicherung der Lebensmittelversorgung.

„In weiten Kreisen der Arbeiterschaft ist Beunruhigung dadurch hervorgerufen, dass angeblich Militär nach Herne verlegt sei. Tatsächlich sind zur Unterstützung der Polizei bei ihrem Vorgehen gegen die öffentliche Unsicherheit zwanzig ältere Landsturmleute nach Herne kommandiert, die nur dem Kommando der Schutzmannschaft unterstehen. Von den Arbeitervertretern wurde erklärt, dass Herne kein Militär gebrauche, und dass die Arbeiterschaft von sich aus Disziplin halten werde. Infolgedessen beschloss die Versammlung im Einvernehmen mit Herrn Polizeiinspektor Cuno an zuständiger Stelle den Wunsch nach Zurückziehung der Militärpersonen vorzubringen“, berichtete der Chronist in der Herner Tagespresse.

Die bisher geschilderte Entwicklung wurde von den Ereignissen der nächsten Tage überholt. Der Versuch des Obebürgermeisters, eine für ihn und für das Herner Bürgertum kontrollierbare Entwicklung einzuleiten, kann zunächst als gescheitert angesehen werden.

Am 9. November 1918 kam es zu Streikaktionen auf den Herner Zechen gegen den Krieg und gegen den Kaiser. Am selben Tag veröffentlichte die Leitung der Zentrumspartei ein Extrablatt, indem sie die Abdankung des Kaisers bekannt gab.  „Als es auf der Bahnhofsstraße verteilt wurde, umarmten sich vor Freude die Menschen, die sich nicht kannten: Der Krieg war zu Ende!“, berichtete der Chronist der Tagespresse.

An diesem Nachmittag befreiten vormittags die Arbeiterräte auf der Horsthauser Zeche „Friedrich der Große“  die Militärgefangenen. Insgesamt arbeiteten 385 Gefangene zwangsweise auf der Horsthauser Zeche.  „Auf meine Veranlassung hin haben sich die Führer der sozialdemokratischen Mehrheitspartei der Gefangenen angenommen. Ohne besondere Ausschreitungen ist es gelungen, sie in ihre Heimatgemeinden abzuschieben. Ich habe sie im Interesse des geregelten Nachschubs mit entsprechenden Fahrausweisen versehen“, berichtete Oberbürgermeister Sporleder.

Im Wartesaal erster und zweiter Klasse des Herner Bahnhofs bildeten die anwesenden Militärurlauber und Lazarettinsassen den Soldatenrat. Seine erste Tat: Befreiung der Inhaftierten im Gerichtsgefängnis und Entwaffnung der Polizei.

Um fünf Uhr nachmittags fand auf Einladung der SPD auf dem Herner Neumarkt eine große Volksversammlung statt, in der als Sprecher die Genossen Hilge und Hölkeskamp über die neue politische Situation sprachen. Im Anschluss an diese Versammlung formierte sich ein Demonstrationszug zum Rathaus, um auf dem Rathausturm die rote Fahne als Symbol der neuen Zeit zu hissen. Am Abend konstitutierte sich auch der Herner Arbeiterrat während einer Versammlung in den Räumlichkeiten der Wirtschaft Bomm.

Über die Zusammensetzung des Arbeiterrates liegen unterschiedliche Einschätzungen vor. Während Oberbürgermeister Dr. Sporleder in seinen Tagebuchnotizen von 25 Mitgliedern der sozialistischen Parteien (SPD, USPD) spricht, berichtet Karl Hölkeskamp, dass der Rat aus 15 Mitgliedern der SPD und einem Vertreter der Verwaltungsbeamten bestand. Der Herner Arbeiter- und Soldatenrat nahm zu zentralen Frage in jenen Tagen klar Stellung: parlamentarische Demokratie oder Rätesozialismus lautete die Alternative. Der Vorsitzende des Rates, Karl Hölkeskamp, bekannte sich zur „baldmöglichsten Anordnung der Wahlen zur Nationalversammlung“. Weiterhin erklärte er, dass das Herner Revolutionsorgan „in scharfem Gegensatz“ zur Spartakusgruppe (KPD) stehen würde. Der Soldatenrat bestand inzwischen aus acht Mitgliedern. Aus der Mitte des Arbeiter- und Soldatenrates wurde ein Vollziehungsausschuss gewählt, deren Mitglieder die Stadtverordneten Hölkeskamp, Wietermann, Hilge, Benz und Seltmann waren, alle Mitglieder der SPD.  Eine der ersten Amtshandlungen des Herner Arbeiter- und Soldatenrates war die Auflösung des konterrevolutionären Ordnungsausschusses. Die Leitung des gesamten Sicherheitsdienstes wurde von Polizeikommissar Klingemann und dem Soldatenrat Wietermann übernommen.

Das Bürgertum blieb in Herne nicht untätig. Am 28. November 1918 zogen die geschlagenen Fronttruppen von West nach Ost durch das Stadtgebiet in Richtung ihrer Heimatgarnisonen. Der Arbeiter- und Soldatenrat verfügte, dass neben der roten Fahne auch die schwarz-weiß-rote Fahne der Monarchisten auf dem Rathausturm gehisst werden sollte. Die Zentrumspartei nutzte die Anwesenheit der Fronttruppen, um für ihre Politik zu werben. Im Rahmen einer öffentlichen Volksversammlung erklärte Schulrektor Scheifers: „Was die Zukunft bringt ist dunkel. Sorgen wir dafür, dass die jetzigen Führer die Massen in der Hand behalten, die Zügel ihnen nicht entgleiten. Das Haus brennt, alle müssen löschen helfen. Es handelt sich um Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung, um die Zurückdämmung des Bolschewismus. Es handelt sich um unsere Zukunft, die Zukunft unserer Kinder, die Zukunft des deutschen Volkes.“ In der Zukunft sollte der Brandstifter aber von ganz Rechtsaußen kommen.

Matrose Schilla ruft zur Revolution in Sodingen

Im Amt Sodingen genügte die politische Initiative eines einzigen Matrosen, um der „Revolution zum Durchbruch zu verhelfen“, so die Tagespresse.

„Am Sonntag, den 10.November 1918, fand auf Einladung des Mitgliedes des Arbeiter- und Soldatenrates Bremen, Matrose Schilla (ein gebürtiger Sodinger), eine öffentliche Versammlung bei dem Wirt Feiertag statt. Der Einberufer hielt eine Ansprache, in der er kurz den Entwicklungsgang und die inneren Gründe der Bewegung schilderte, die zum dem Vorgang in Bremen, Hamburg und Kiel führten“, berichtete der Chronist der Tagespresse am 14. November 1918. Matrose Schilla stellte anschließend die Machtbefugnisse des Arbeiter- und Soldatenrates von Dortmund dar, zu dessen Bezirk damals auch das Amt Sodingen gehörte. Danach beschloss die Versammlung, dass im Amt Sodingen ein Arbeiter- und Soldatenrat gewählt wurde, der aus 14 Mitgliedern bestand.

Der Arbeiter- und Soldatenrat beschloss als Erstes, mit dem Sodinger Amtmann über die Gestaltung der Kommunalpolitik zu beratschlagen. Der Amtmann seinerseits erklärte, dass er sich und seine Kenntnisse dem Arbeiter- und Soldatenrat zur Verfügung stelle.  Seine Beamten werde er befragen und das Ergebnis dem Arbeiter- und Soldatenrat mitteilen. Nach weiteren Beratungen stellten sich alle politischen Kräfte im Amt Sodingen auf den Standpunkt, dass „man von Verfolgungen und Außerbrotsetzungen einzelner und missliebiger Beamter und Angestellten des Amtes und der Polizei…“ absehen wolle, „…um die neue Sache nicht zu beschmutzen. Diejenigen, die sich besonders unbeliebt gemacht haben, sollten rasch sehr eingehend verwarnt werden, neue Verfehlungen rücksichtslos bestraft werden“.

Bekanntmachungen des Amtes Sodingen, Repro Norbert Kozicki
Bekanntmachungen des Amtes Sodingen, Repro Norbert Kozicki

In einem Bericht an den königlichen Landrat in Dortmund äußerte sich der Amtmann Max Wiethoff ähnlich: „ Jedoch wird schon festgelegt, dass Stichproben für die Vergangenheit unterbleiben sollen, damit kein alter Zündstoff in die neue Zeit übernommen wird. Unter die Vergangenheit soll eben ein dicker Strich gezogen werden, weil sich jetzt alles neu aufbaut.“

Der Arbeiter- und Soldatenrat des Amtes Sodingen verfügte als erste Amtshandlungen die Kontrolle über die Lebensmittelversorgung und über den kommunalen Sicherheitsdienst. Der Rat entsandte drei Delegierte in das städtische Lebensmittelamt, die nicht nur Kontrollaufgaben wahrnehmen, sondern auch Lebensmittel beschaffen sollten. Matrose Schilla kontrollierte persönlich die Sodinger Polizeiverwaltung. Drei Delegierte des Soldatenrates übernahmen ebenfalls polizeiliche Aufgaben. Die Protokolle der Sitzungen des Sodinger Arbeiter- und Soldatenrates wurde immer veröffentlicht, so dass sich jeder Einwohner ein eigenes Bild von der Politik des Revolutionsorgans machen konnte.

Am 11. November 1918 beschloss der Sodinger Rat, dass alle Zechenbelegschaften einen Sympathie-Streik für die demokratische Revolution durchführen sollten. „Dabei wurde einstimmig betont, dass es erste Pflicht aller sei, unter keinen Umständen länger als morgen zu feiern, da sich die Umwälzung ruhig vollziehen und ohne Arbeitsstörung verlaufen müsse“, positionierten sich die Sodinger Räte.

Auf einer Konferenz der Vorsitzenden der Arbeiter- und Soldatenräte des Landkreises Dortmund unter dem Vorsitz des Landrats am 16. November 1918 im Sitzungssaal des Kreishauses erklärte der Vorsitzende des Arbeiter- und Soldatenrates von Sodingen, Keuper, dass sich die Zusammenarbeit mit der örtlichen Verwaltung durchaus „harmonisch und fruchtbringend gestalte“. Seine weiteren Ausführungen veranlassten den Landrat im Verlauf der Konferenz den Arbeiter- und Soldatenrat Sodingen als Beispiel und Vorbild für die übrigen Bürgermeister und Amtmänner herauszustellen.

Im Laufe der politischen Entwicklung während der ersten Tage der Novemberrevolution im Amt Sodingen wurden auch Bürger und Vertreter des Zechenkapitals in den Arbeiter- und Soldatenrat aufgenommen.

Die Novemberrevolution in Wanne

Vom 8. auf den 9. November 1918 zogen etwa 40 bis 50 Soldaten im Amt Wanne ein, die in der Wanner Polizeistation erschienen und unter Androhung von Gewalt die Freilassung der militärischen Gefangenen verlangten. Der durch die Wachhabenden herbeigeholte Polizeiinspektor Otlinghaus wurde gezwungen, die Militärarrestanten aus der Haft zu entlassen. Als der Polizeiinspektor eintraf, war bereits die gesamte Bahnhofswache entwaffnet. Ansonsten war die Einziehung von sämtlichen Waffen der Militärpersonen im Gange. Nachdem die Gefangenen befreit waren, eröffnete der Führer der Soldatengruppe dem Inspektor, dass im Laufe des Tages eine Kommission wegen Übernahme der öffentlichen Gewalt mit dem Amtmann verhandeln werde. In der Gemeindeversammlung von Wanne am 9. November wurde von den Ereignissen im Industriebezirk Kenntnis genommen.

Während der Sitzung wurde die von der Soldatengruppe angekündigte Kommission dem Amtmann gemeldet: der Arbeiter- und Soldatenrat von Wanne. Die Gemeindevertretung stellte daraufhin alle weiteren Beratungen ein und delegierte die zu bewältigenden Aufgaben an den Arbeiter- und Soldatenrat, der sich sofort mit einem Aufruf an die Bevölkerung von Wanne wandte. 200 Sicherheitsmannschaften übernahmen im Amt Wanne die Bewachung der öffentlichen Gebäude.

Am 10. November 1918 wurden die Einwohner von Wanne in einer großen Volksversammlung auf dem Rathausplatz vom Arbeiter- und Soldatenrat informiert.

„Am Amtshaus Wanne stieg langsam die rote Fahne empor als Symbol der neuen Zeit, als Verkörperung der von Scheidemann in Berlin verkündeten deutschen Volksrepublik“, berichtete der Chronist über die am 10. November 1918 vom Arbeiter- und Soldatenrat Wanne veranstaltete Volksversammlung. Der erste Sprecher an diesem Sonntagnachmittag, der Bergmann Kicinski (SPD), begrüßte leidenschaftlich die neue deutsche Republik, die das Kaiserreich ablöste. Seine Rede beendete er mit einem „Hoch auf die deutsche Republik“. Während der Volksversammlung sprach auch ein Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokraten Neysters aus Gelsenkirchen. Insbesondere warnte er die Bergleute vor Störungen der Arbeit. Inhaltlich führte er aus, dass gerade in der jetzigen kritischen Zeit der ungestörte Fortgang der Werktagsarbeit in allen Berufsarten dringend erforderlich sei, um Not und Elend von allen fernzuhalten. Die Ernährung sei sichergestellt, wenn keine Verkehrsstörungen eintreten. Für eine gleichmäßige und ganz unparteiische Verteilung der Nahrungsmittel werde gesorgt werden. Das bisherige Markensystem aber müsse vorläufig beibehalten werden, denn mit den knappen Vorräten ist sorgsam hauszuhalten, wenn nichts da ist, kann auch keine Sozialismus helfen.

In Wanne wurde der Arbeiter- und Soldatenrat um die Vertreter der lokalen Arbeiterschaft erweitert.  Fast alle Mitglieder gehörten zu diesem Zeitpunkt der SPD an. Die Vollversammlung des Rates setzte sich aus Vertretern der SPD, den Vertretern des Bergarbeiterverbandes und den Delegierten der Soldaten zusammen. Zu den Beratungen wurden die Arbeiterausschüsse der Zechen „Unser-Fritz“, „Pluto“ und „Königsgrube“ hinzugezogen.

Am 13. November 1918 konstituierte sich der Vorstand des Wanner Arbeiter- und Soldatenrates. Die Wahlen brachten folgendes Ergebnis: Vorsitzender Peter Kicinski, Bergmann (SPD), 2. Vorsitzender Unteroffizier Neuwisch, erste Schriftführer Podella und Brosius (beide SPD), zweite Schriftführer Friedrich Nagel und Orzechowski (beide SPD), Beisitzer Johann Heinen, Pollex, Friedrich Woroschinski Rettich, Johann Wielgroß (alle SPD). Juristischer Beirat: Dr. Wolf (Rechtsanwalt), Garnisonsältester Hauptmann Franke.

„Der Arbeiter- und Soldatenrat erstrebt die politische und soziale Umwälzung im Sinne der Demokratie und des Sozialismus“, proklamierten die Arbeiter und Soldaten. Als konkrete politische Forderungen nannte man: Anerkennung der demokratischen Befugnisse der Rätebewegung, Übergabe der Militärgewalt an die demokratisch gewählten Räte, Kontrolle und Sicherheit der Lebensmittelversorgung und Einführung der Achtstundenschicht. Die Arbeiter- und Soldatenräte betrachteten sich mehrheitlich nur als „Übergangsorgane“ bis zur Wahl des neuen Parlaments. „Die jetzige aus den Arbeiter- und Soldatenräten im ganzen Land vollziehende Gewalt betrachtet sich selbst nur als ein Provisorium, welches die Vorbereitungen zu treffen haben für den Aufbau des neuen Volksstaates… Die Grundlage hierzu wird von der Nationalversammlung gegeben werden, die sobald als möglich zu wählen ist, nach dem Grundsatz des Verhältniswahlsystems….“, erklärte der Reichstagsabgeordnete Sachse (SPD), der zu einer Versammlung des Arbeiter- und Soldatenrates in Wanne erschien. Die Wahlen zur ersten Nationalversammlung der Weimarer Republik wurden am 19. Januar 1919 durchgeführt. Die beiden sozialdemokratischen Parteien (SPD und USPD) gingen als Sieger aus den Wahlen hervor.

Die damalige politische Stellung der Sozialdemokratie wird an folgendem Vorgang deutlich: Im Rahmen des beginnenden Wahlkampfes zur Nationalversammlung veröffentlichte die Wanner Zeitung „Der Westdeutsche Herold“ einen Aufruf, der mit der Aufforderung „Nieder mit der Sozialdemokratie“ endete. Inhaltlich warf die Zentrumspartei der Sozialdemokratie vor, dass sie es sei, die Frieden und Brot dem Volke vorenthalte und zwar durch ihre Misswirtschaft in Berlin.

Nach der Veröffentlichung zog nachmittags der Soldatenrat mit einem Trupp von 600 Soldaten vor die Druckerei des Zentrumsblattes, um gegen diese Presseverlautbarung zu protestieren. Die Soldaten drohten zunächst mit der Zerstörung des Betriebs. Dann einigte sich der Soldatenrat mit der Geschäftsleitung darauf, dass die Zeitung bis zur Wahl der Nationalversammlung nicht mehr erscheinen darf. Den Arbeitern in der Druckerei wurde bis zum 19.Januar 1919 der Lohn weitergezahlt.

Am 1. Januar 1919  durfte das Zentrumsblatt wieder erscheinen. Auf der Titelseite veröffentlichte die Redaktion eine Erklärung, in dem der Aufruf zur Bekämpfung der Sozialdemokratie mit dem Ausdruck des Bedauerns zurückgenommen wurde:

„Zu dem auf der ersten Seite des Westdeutschen Herold in der Ausgabe vom 27.12 erschienen Aufruf betreffend Bekämpfung der Sozialdemokratie erklären wir: Wir bedauern die Veröffentlichung des betreffenden Aufrufs und missbilligen den Inhalt. Die Aufnahme ist nur einem Versehen zuzuschreiben und die Veröffentlichung des Aufrufs würde nicht erfolgt sein, wenn er der Aufmerksamkeit der Redaktion nicht entgangen wäre.“

Erklärung des 'Westdeutschen Herold', Repro Norbert Kozicki
Erklärung des ‚Westdeutschen Herold‘, Repro Norbert Kozicki

Nach diesen Ereignissen veröffentlichten die Beamten und Angestellten des Amtes Wanne folgende Erklärung: „Die Beamten und Angestellten des Amtes Wanne und der Gemeinden Wanne und Röhlinghausen wiederholen ihre frühere Erklärung, dass sie sich auf den Boden der Tatsachen und hinter die jetzige Regierung stellen und dass sie bereit sind, mit allen Kräften an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung dem Wiederaufbau des Vaterlandes mitzuarbeiten…“

Die Novemberrevolution im Amt Eickel

„An die Bevölkerung von Eickel! Die öffentliche Gewalt ist mit dem heutigen Tag in die Hände des Soldaten- und Arbeiterrates übergegangen“, proklamierten die Arbeiter und Soldaten im Amt Eickel zu Beginn der Novemberrevolution am 10. November 1918.  Im Aufruf hieß es weiter: „Der Arbeiter- und Soldatenrat richtet an alle das Ersuchen, im eigensten Interesse vollkommene Ruhe zu bewahren. Das Leben geht seinen gewohnten Gang. Eigentumsvergehen (Raub, Plündern, Diebstahl usw.) werden mit dem Tode bestraft. Jeder füge sich den Anordnungen des Soldaten- und Arbeiterrates. Kinder unter 14 Jahren dürfen von 6 Uhr abends bis 6 Uhr morgens die Straßen und öffentlichen Plätze nicht mehr betreten, widrigenfalls die Eltern mit Geldstrafen belegt werden. Eickel, den 10.November 1918“.

Den Eickeler Aufruf unterzeichnete ein gewisser Matrose Menne für den Soldatenrat und August Nieblich für den Arbeiterrat.  Im Unterschied zur Bildung des Arbeiter- und Soldatenrates im Amt Wanne – dort wurde der Rat durch die Vertreter der SPD, des Bergarbeiterverbandes und der Soldaten gebildet – vollzog sich die Bildung des Eickeler Arbeiter- und Soldatenrates in einer öffentlichen Volksversammlung am 10. November 1918 im Lokal des Wirtes Aldejohann. Aus heutiger Sicht würde man formulieren: Die Eickeler Revolutionäre waren basisdemokratischer als ihre Wanner Genossen. Im Rahmen der Volksversammlungen legte der Eickeler Arbeiter- und Soldatenrat Rechenschaft über seine Kommunalpolitik ab, so z.B. am 9. Dezember 1918 im Ortsteil Holsterhausen mit dem Mitglied des Herner Arbeiterrates Karl Hölkeskamp.

Eine besondere Ursache für dieses basisdemokratische Element bildete die politische Stärke der Syndikalisten, einer besonderen Gewerkschaftsbewegung im frühen 20. Jahrhundert, die bei den Bergarbeitern der Krupp-Zechen Hannover und Hannibal viele Sympathisanten hatten. Die Belegschaften dieser Zechen wählten während der Novemberrevolution eigene Betriebs-Arbeiterräte. Von einem ähnlichen Vorgang in Wanner Betrieben oder in anderen Orten des Ruhrgebietes ist in der historischen Forschung nichts bekannt. Am 21. November 1918 berichtete die Eickeler Lokalpresse: „Bezeichnenderweise mahnt die hiesige Arbeiterzeitung die Arbeiterschaft der Kruppschen Werke zur Rücksichtnahme auf die technischen Verhältnisse bei den Forderungen und verurteilte es, dass in einer Reihe von Betrieben planlos Arbeiterräte gewählt worden sind, die Forderungen stellten, die nicht gut geheißen werden könnten.“ Diese Betriebs-Arbeiterräte standen oft in scharfem politischen Gegensatz zum offiziellen Arbeiter- und Soldatenrat, der die politischen Beschlüsse der Betriebsräte häufig für ungültig erklärte. Häufige Forderungen der Betriebsräte waren: Absetzung von autoritären Vorgesetzten. „Vor allem müsse man sich gegen die massenhaft gestellte Forderung nach Entlassung der Vorgesetzten wenden. Die Arbeiter müssen Besonnenheit wahren“, schrieb die bürgerliche Presse.

Zur Bildung von revolutionären Arbeiterräten riefen am 7. Oktober 1918 die Spartakusgruppe und die Syndikalisten auf. Ein bekannter Historiker der Ereignisse im Ruhrgebiet stellte in diesem Zusammenhang die Frage: „Führte diese Proklamation der revolutionären Arbeiterräte zu irgendwelchen praktischen Ereignissen ?“ Diese Frage lässt sich für den Eickeler Raum während der Novemberrevolution mit einem klaren Ja beantworten.

Der Eickeler Arbeiter- und Soldatenrat verteilte sofort die wichtigen Aufgaben unter sich auf: die Verantwortlichkeiten in der Lebensmittelversorgung, die Belange der sozialen Unterstützung und die Versorgung der Bevölkerung mit Bekleidung. Um die kommunalpolitischen Aufgaben bewältigen zu können, richtete der Arbeiter- und Soldatenrat an die Eickeler Bevölkerung die Aufforderung, „Beschwerden sowie Wünsche allgemeiner Natur“ an das Büro des Arbeiter- und Soldatenrates in der Lutherschule  zu richten.

Auch in Eickel kam es zu Beginn der Novemberrevolution zu politischen Auseinandersetzungen mit dem Bürgertum. Nach Lebensmittelschiebereien setzte der Rat den Amtmann Berkermann ab. Der Wachtmeister Flächsner wurde ebenfalls seines Postens enthoben, nachdem er sich weigerte, den Anordnungen des Arbeiter- und Soldatenrates Folge zu leisten.

Am 1. Dezember 1918 organisierte der Eickeler Rat eine große Konferenz, zu der alle Berufsvereinigungen eingeladen wurden. Ziel dieser Konferenz war die Wahl von Ausschüssen, die die kommunalpolitischen Aufgaben mitbewältigen sollten. „Zweck und Ziele der Ausschüsse gab der Vorsitzende des Arbeiterrates Nieblich den anwesenden Delegierten in kurzen Zügen noch einmal kund…Die Anwesenden begrüssten es, dass endlich der Tag gekommen sei, wo alle Schichten der Bevölkerung selbst mitarbeiten können, um das Wohl der gesamten Einwohnerschaft zu fördern…Der Arbeiter- und Soldatenrat dankte den Anwesenden für die angebotenen Dienste und ermahnte nochmals alle Delegierten zur freudigen Mitarbeit an dem großen Werke der Völkerbefreiung.“

Einer der führenden politischen Köpfe im Eickeler Rat wurde der Röhlinghauser Bergmann Gustav Sobottka. Zunächst Mitglied der SPD gründete Sobottka in Eickel 1917 die „Unabhängige Sozialdemokratische Partei“ (USPD) aus Protest gegen die Politik der SPD während des Ersten Weltkriegs. Einige Zeit später vertrat er die neugegründete Kommunistische Partei (KPD) im Preußischen Landtag als Abgeordneter. Während der Nazi-Diktatur emigrierte Sobottka mit seiner Familie in die Sowjetunion, wo einige Familienangehörige zu den Opfern der Diktatur Stalins wurden. Nach 1945 war Gustav Sobottka einer der politischen Führungskräfte neben Ulbricht, Pieck und Ackermann in der DDR. Als Abteilungsleiter im Kohleministerium beendete Sobottka von der Füsilierstrasse (heutige Martinistrasse) seine politische Karriere, die wesentlich durch die Ereignisse während der deutschen Revolution von 1918 in Eickel beeinflusst wurde.     

Aufruf zur Demonstration für die Sozialistische Republik, Auszug aus 'Der Kaiser ist weg', Repro Norbert Kozicki
Aufruf zur Demonstration für die Sozialistische Republik, Auszug aus ‚Der Kaiser ist weg‘, Repro Norbert Kozicki

Norbert Kozicki  

                                                                                                                                                                                                      

Dank an Jürgen Kotbusch, der das Material für Herne und Sodingen recherchierte.

 

Quelle:

  • Reihe Spurensicherung: Norbert Kozicki, „Der Kaiser ist weg!“ – Die Novemberrevolution in den Ämtern Wanne, Eickel, Sodingen  und der Stadt Herne – Ein Beitrag zur lokalen Geschichte der Arbeiterbewegung, 1988