Von Trümmern und Menschen – Das Kriegsende in Herne und Wanne-Eickel und der 08. Mai 1945
Der 08. Mai 1945 war ein Dienstag. Der „Adolf-Hitler-Platz“ hieß wieder „Rathausplatz“ und die Stadtverwaltung arbeitete fiebrig daran, die Strom-, Gas- und Wasserversorgung in Gang zu bringen. Allerorten war man mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt, auf „Piepenfritz“ wurde sogar von neuem Kohle gefördert. Kriegsgefangene, Flüchtlinge, Heimkehrer und Einheimische strömten über die unzerstört gebliebene Bahnhofsstraße. Man „organisierte“ Lebensmittel und Kleidung, suchte Materialien, mit denen man notdürftige Reparaturen an den bombengeschädigten Häusern und Wohnungen durchführen konnte. Und irgendwann hörte man, dass die deutsche Wehrmacht kapituliert hatte.
„Ich kann mich an die Zeit des Kriegsendes noch gut erinnern, aber nicht daran, was ich am 08. Mai gemacht habe. Oder wann ich überhaupt von der Kapitulation gehört habe. Für uns in Herne war doch seit Wochen klar: Der Krieg ist vorbei, verloren“, erzählt Marianne Pieper, die damals 15 Jahre alt war. Auch ihr Mann, Karl-Josef Pieper, Jahrgang 1929, stimmt ihr zu: „Wo soll ich gewesen sein? Vermutlich habe ich aus dem Schutt Ziegelsteine geholt und geputzt. Wir waren ja längst wieder mit dem eigenen Überleben beschäftigt.“
Die Nicht-Erinnerung des Ehepaares ist typisch, nicht nur für die, die damals Kinder waren: Der 08. Mai ist ein historisches Datum, das zumeist ohne konkrete Erinnerung geblieben ist. Kein Bild, kein Ort hat sich ins Gedächtnis eingebrannt. Nicht so wie etwa beim „Wunder von Bern“ knapp zehn Jahre später, bei dem jeder Mann dieser Generation noch genau weiß, wo er war. Im Langzeitgedächtnis ist der 08. Mai höchstens als Gefühl abgespeichert: „Man war erleichtert, es war ein Neubeginn“, so Marianne Pieper.
Luftkrieg
Anfang 1945 war der Krieg schon längst in die Rhein-Ruhr-Region zurückgekehrt. Der unablässige Bombenhagel hatte die Städte verwüstet. Allein Wanne-Eickel hatte über 90 Luftangriffe, darunter zwölf Großangriffe, über sich ergehen lassen müssen. Insgesamt wurden 1.074 Bombenopfer verzeichnet, 60 Prozent aller Häuser waren schwer beschädigt oder total zerstört. Besonders schwer getroffen hatte es die Stadtteile Eickel, Röhlinghausen, Holsterhausen und Wanne-Süd, da hier kriegswichtige Unternehmen wie die Kruppschen Treibstoffwerke, die Röhrenfabrik Mannesmann und das Stickstoffwerk Gaveg lagen.
Die permanenten Luftangriffe der Alliierten zielten allerdings nicht nur auf die Industriebetriebe, sondern auch auf die Kriegsmoral der Bevölkerung. Regelmäßig ließ die britische Propagandaabteilung Flugblätter in millionenfacher Stückzahl über dem Ruhrgebiet abwerfen. In einem im September 1944 in Herne gefundenen Flugblatt heißt es: „Deutsche Frau, Du hast das Wort: Sage dem heimkehrenden Soldaten, dass Du nicht willst, dass Deine Städte und Dörfer in Grund und Boden geschossen werden; dass Du genug hast von der SS und der Partei; dass dies Volk verlangt: Schluss mit dem Krieg! Sofortfriede und Wiederaufbau Deutschlands!“
Aber das „moral bombing“ erfüllte seinen Zweck nicht. Auch die Arbeiter an der Ruhr sahen in der Kapitulation keine Alternative.
Verbrannte Erde
Während die Zivilgesellschaft zunehmend unter den Folgen des Krieges zwischen Herbst 1944 und Frühjahr 1945 zusammenbrach, setzte der Schlusskriegsterror des NS-Regimes ein. „Ein Volk, das den Krieg verliert, hat auch keine Daseinsberechtigung mehr“, lautete das Gebot des Führers. Dem entsprechenden „Nero-Befehl“ vom 19. März 1945 wurde auch in Herne Folge geleistet. Eine Fünf-Zentner-Bombe wurde in den Kabelschacht der Fernsprecheinrichtung des Postamtes versenkt, um zu gegebener Zeit gezündet zu werden. Ebenso bereitete man die Sprengung der Schachtanlagen vor. Der Feind sollte nur „verbrannte Erde“ vorfinden, die katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung spielten im NS-Kalkül keine Rolle.
Bis in die letzten Kriegstage hinein wurde die Verfolgung und Ermordung politisch Oppositioneller vorangetrieben. Per Standgericht erschoss der Volkssturm „Plünderer“ und außerhalb der Lager angetroffene Kriegsgefangene. Als die U.S. Army bereits am Kanal stand, wurde im Stadtgarten ein angeblich fahnenflüchtiger Soldat aus Bochum exekutiert und im ausgetrockneten Teich verscharrt.
Betroffenheit entstand bei den NS-Funktionsträgern nur in eigener Sache. „Der Oberbürgermeister verabschiedete sich von uns mit feuchten Augen und bat uns dabei in einem wohl ehrlichen Pathos, weiterhin unsere Pflicht zu tun, möge kommen, was wolle. Der Mann tat mir leid“, berichtete der Stadtoberamtmann Abbracht über den Abschied von Hugo Peiter vor einem kleinen Kreis von Beamten im Rathaus Ende März.
Die letzten Kriegstage
Am 30. März 1945 schlug die erste Granate auf dem Herner Stadtgebiet ein. „Das bittere Ende nahte. Auf der Bahnhofstraße hatte der Volkssturm Straßenbahnschienen herausgerissen und mit Pflastersteinen zu einer Mauer errichtet. Es gab nur einen schmalen Durchgangsspalt, den wir gehen mussten, wenn wir zum Rathaus wollten. Als Kriegerfrauen mussten wir unser Geld dort abholen. Da sind wir dann von Baukau aus gelaufen und wurden beschossen. Es war schon riskant. Die kleinen Hitlerjungen standen in Deckung der Häuser und jeder von ihnen hielt eine Panzerfaust. Sie warteten auf den Einmarsch der Amerikaner“, erinnert sich eine Zeitzeugin, die bei Kriegsende 26 Jahre alt war.
In dieser aussichtslosen Situation regte sich endlich der Widerstand. Eine Gruppe Bergleute um den Bergrat Helmuth Heintzmann und den Fahrsteiger Wilhelm Kunz verhinderte am 30. März die Sprengung der Schächte der Zeche Friedrich durch den Volkssturm. Wenige Tage später wurden die beiden „Rädelsführer“ von der Gestapo festgenommen und von einem Sondergericht zum Tode verurteilt. Der Einmarsch der Alliierten verhinderte glücklicherweise die Vollstreckung des Urteils.
Auch die Bombe bei der Post ging nicht hoch. Erst versagte die Zündschnur, dann verhinderte das Eingreifen des Leiters des Postamtes weitere Sprengversuche. Zu dieser Zeit standen die Amerikaner schon am Herner Bahnhof, und Jagdbomber im Tiefflug scheuchten mit ihren Maschinengewehrsalven Soldaten und Uniformierte von der Straße. „Die Jabos sausten über unsere Köpfe hinweg. Man hatte das Gefühl, dass man sie mit einer Fliegenklatsche herunterholen konnte“, erzählt Willi Hesse, 1932 in Herne-Süd geboren. Auch er verbindet mit dem 08. Mai 1945 kein konkretes Erlebnis. Plötzlich waren bloß die Nazis in ihren braunen Uniformen verschwunden: „Da lag so manches Parteiabzeichen im Straßendreck.“
Als die Amerikaner am 09. und 10. April 1945 in Herne und Wanne-Eickel einmarschierten, trafen sie auf keinen nennenswerten Widerstand. Das „Freikorps Sauerland“ versuchte auf der Vödestraße eine neue Kampflinie aufzubauen, aber viele der Freiwilligen begriffen die Sinnlosigkeit des Kampfes und verließen die Stellung.
Bei den sinnlosen April-Kämpfen kamen allein in Herne noch 172 Personen ums Leben. Für Wanne-Eickel sind keine Zahlen bekannt, aber nicht jeder wird so viel Glück gehabt haben wie der 18-jährige Soldat Herbert Tregel. Als er aus seinem Bunker in Unser Fritz trat, gab ihm ein GI nur einen Tritt in den Hintern und sagte: „Kleiner Nazi, geh‘ nach Hause!“
Die letzten Tage des Krieges in Herne und Wanne-Eickel
31. März 1945: Recklinghausen wird kampflos aufgegeben. Im Gefechtsstand der Wehrmacht im Schloss Strünkede, in dem auch die NSDAP-Kreisleitung und der Oberbürgermeister Unterschlupf gefunden haben, plant man die „Schlacht um Herne“. In der Nacht sprengt die Wehrmacht mit Bombenblindgängern sämtliche Kanalbrücken. Die Propaganda verkündet: „Vor dem Rhein-Herne-Kanal haben unsere heldenhaften Truppen den Feind zum Stehen gebracht. Der Kampf ums Ruhrgebiet hat begonnen.“
01. April 1945: Herne und Wanne-Eickel werden zum unmittelbaren Kampfgebiet. Beide Städte stehen unter Artilleriebeschuss. Volkssturmmänner, Polizeieinheiten, Angehörige des unzureichend ausgerüsteten „Freikorps Sauerland“ und bewaffnete Hitler-Jungen warten auf die Amerikaner.
06. April 1945: Die Amerikaner besetzen den Dannekamp. In den Anlagen von Unser Fritz 2/3 richten sie einen Beobachtungsstand ein.
07. April 1945: Die US-Armee setzt auf der ganzen Front zum Durchbruch der Kanallinie an. Bewaffnete HJ-Mitglieder und Soldaten der Wehrmacht ziehen sich über die Dorstener Straße in Richtung Bochum zurück.
08. April 1945: Castrop wird von der US-Armee eingenommen. In Holthausen entwickeln sich heftige Nahgefechte mit Granat- und Maschinengewehrfeuer. In Recklinghausen sprengen US-Pioniere dicht am Kanal stehende Häuser und schieben die Trümmer mit Raupen in das Wasserbett. Über den Damm erreichen die Panzer das Südufer. Auch in Wanne-Eickel klappt die Kanalüberwindung: Eine riesige Menge Koks dient als Behelfsbrücke.
09. April 1945: Die Wehrmacht räumt Herne. Die Amerikaner marschieren in Horsthausen und Baukau ein und nehmen mit Maschinengewehrfeuer die Bahnhofsstraße unter Beschuss. In Wanne erfolgt der Einmarsch überraschenderweise aus Richtung Gelsenkirchen ‑ diesseits des Kanals. Die Truppen schreiten über die Eisenbahnstrecke Unser Fritz in Richtung Schachtanlage Pluto-Wilhelm voran. Nachmittags rollen die ersten Panzerspähwagen über die Wilhelmstraße.
10. April 1945: Am frühen Morgen endet auch in Herne der Beschuss, beide Städte sind um 10 Uhr fest in amerikanischer Hand. Auf dem Herner Rathaus weht eine weiße Flagge. Die Einwohner kommen aus den Bunkern und Kellern heraus. In Wanne verkündet der zukünftige Stadtkommandant Major Fox: „Wir kommen nicht als Feinde, sondern als Befreier.“
Friedrich Schrage – Ermordet in den letzten Kriegstagen
Anfang April 1945. Die amerikanischen Truppen stehen unmittelbar vor dem Ruhrgebiet. Im Gestapo-Hauptquartier in Dortmund-Hörde wird Friedrich Schrage frühmorgens zusammen mit anderen Häftlingen, zumeist russischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, von Mitarbeitern der Sipo (Sicherheitspolizei) aus seiner Zelle geholt und auf einen LKW verfrachtet.
Schrage, ein einfacher Arbeiter aus Wanne-Eickel, Schmelzer beim Schalker Verein, war im November 1944 verhaftet worden. Beim Kohleschippen in der Saarstraße in Holsterhausen hatte einer der Unverbesserlichen wieder einmal vom Endsieg getönt, als ihm der Geduldsfaden gerissen war. Lautstark hatte er seiner Empörung über Hitler und den Krieg Luft gemacht. Nur wenige Tage später stand die Gestapo vor seiner Tür, eine Nachbarin soll ihn verpfiffen haben.
Gefesselt auf dem LKW wird er geahnt haben, dass es kein Zurück mehr gab. Im Rombergpark angekommen, werden die Gefangenen zu einem Waldstück getrieben und vor einem Bombentrichter in die Knie gezwungen. Per Genickschuss werden sie getötet und verscharrt. Bei den Massenexekutionen in der Bittermark in den Ostertagen 1945 wurden etwa 300 Menschen ermordet.
Ausgebrannte Häuser und bizarre Formen
„An der Straße entlang sieht man bizarre Formen, besonders da, wo die Häuser ausgebrannt sind. Die Rippen der Zentralheizung sind häufig stehengeblieben, wo das Haus einstürzte, eigenartig verbogen, an der Mauer anhängend wie Früchte an einem exotischen Gewächs. Der Schutt ist meist an den Straßenrändern aufgehäuft, wie Schnee im Winter, dahinter laufen die Fußgänger entlang der vernichteten Häuser. Es sind immer viele Menschen auf der Straße, man fragt sich unwillkürlich, wo diese Menschen herkommen, und wo sie sich aufhalten. Sie wohnen in Kellern, in Zimmern ohne Fenster, in Behelfsheimen zwischen nackten Mauern unter löcherigen Dächern, aber sie wohnen irgendwo und leben.
Man sieht keine Bettler, die Leute sind ziemlich ordentlich gekleidet, und doch ist eine Traurigkeit in all diesen Menschen. Viele Frauen tragen schwarz, viele junge Frauen, selbst noch Kinder, sind schon Witwen. Bunte Farben gibt es so gut wie gar nicht. Die Zerstörungen der Städte sind schwer zu beschreiben, aber die Verwüstungen in den Menschen sind noch gravierender. Und doch geht das Leben weiter. Man legt Eisen- und Blechplatten auf sein Dach, damit der Regen nicht mehr durchtropfen kann, man zieht Wände hoch und räumt Schutt weg.“
Der Text aus dem Herbst 1945 stammt von Fritz Günzburger. Im September 1945 war er nach Herne zurückgekehrt. Die Verfolgung durch die Nazis hatte er in den Niederlanden, versteckt im Untergrund, überlebt.
Das Kriegsende des NSDAP-Kreisleiters Karl Nieper
09. April: Abends gegen 18 Uhr Aufgabe der Dienstelle in Herne. Fahrt zum Kreisbefehlsstand nach Gevelsberg.
13. April: Die Stimmung der Kameraden war sehr gedrückt und man bekam allmählich das Gefühl des Verlassenseins. Ich fasste den Entschluss, mich am anderen Morgen auf die Reise zu begeben und mich in Iserlohn von den feindlichen Panzern überrollen zu lassen.
14 . April: Gegen Mittag traf ich den Gauamtsleiter von Iserlohn, Pg. Hutwohl. Bei der Unterhaltung bekam ich den Eindruck, dass derselbe vollständig daneben war. Er hat sich angeblich am selben Abend noch erschossen.
15. April: Gegen 8 Uhr Aufbruch. Die vordringenden amerikanischen Infanterieverbände brachten den gesamten Straßenverkehr durcheinander. Wir wanderten über Feldwege und Gehsteige nach Vorhauen, einem kleinen Bauerndorf. Hier verbrannte ich meine gesamten Parteipapiere und versteckte meine beiden goldenen Ehrenzeichen der Partei unter dem Gartenzaun.
16. April: Nunmehr wurde es auch für mich Zeit, meine Wanderung ins Ungewisse zu beginnen, mit dem Rucksack auf dem Rücken, darin die nötigsten Habseligkeiten verpackt, ging ich den anrückenden Truppen entgegen.
Am 09. Juli 1945 kehrte Nieper nach Herne zurück und stellte sich den britischen Militärbehörden. Auf deren Anweisung verfasste er nachträglich die tagebuchartigen Aufzeichnungen über sein „Kriegsende“. 1947 wurde dem ehemaligen NSDAP-Kreisleiter der Prozess gemacht. Fast jedes wichtige Schreiben zur Behandlung örtlicher Angelegenheiten war über seinen Schreibtisch gegangen – auch die späteren Todesurteile der Standgerichte. Vor Gericht pochte er darauf, nur seine „nationale Pflicht“ getan zu haben, von Unrechtstaten habe er nichts gewusst: „Es ist mir nicht bekannt geworden, dass jüdische Geschäfte zwangsweise geschlossen oder arisiert worden sind. Ich habe nicht gewusst, dass man in den Jahren 1941-42 die Juden zwangsweise aus Deutschland, zum Teil auch in KZ-Lagern, geschafft hat.“ Am 07. April 1948 wurde Karl Nieper zu vier Jahren Haft verurteilt ‑ unter voller Anrechnung der Internierung. 1949 kehrte er nach Herne zurück und starb im Januar 1968.
Fotos: Bildarchiv der Stadt Herne
Erstveröffentlichung des Textes in der WAZ, Ausgabe Herne, 08. Mai 2015