Wie mein Vater das Krupp Treibstoffwerk in Wanne-Eickel verteidigte

Ich bin Klaus Fiedler, geb. am 25.01.1942 in Wanne-Eickel, das jüngste Kind von Else und Otto Fiedler, wohnhaft während meiner Kindheit in der Kurhausstraße (vorher Goebenstraße) 55a. Meine derzeitige Adresse ist: c/o Mzuzu University, P/Bag 201, Mzuzu, Malawi, wo ich Professor (emeritus) of Theology and Religious Studies bin.

Ich bitte darum, dass das Stadtarchiv Herne diese Erinnerungen, die ich von meinem Vater gehört habe, in seinen Bestand aufnimmt und gegebenenfalls Historikern und anderen Interessenten zugänglich macht.

Mein Bruder Othmar (geb. 1935) hat diese Informationen bestätigt.

Geschrieben am 25.6.2021 in Zomba.

Mein Vater, Jahrgang 1897, war im Ersten Weltkrieg während der letzten zwei Jahre Soldat. Am ersten Tag der Mobilmachung zum Zweiten Weltkrieg erhielt er einen Stellungsbefehl, wurde aber UK (unabkömmlich) gestellt, weil er in der synthetischen Benzinproduktion (Fischer Tropsch Verfahren) im Krupp Treibstoffwerk arbeitete als kaufmännischer Angestellter. Er erhielt mehrere Stellungsbefehle im Laufe des Krieges, und in jedem Fall bestanden seine Vorgesetzten darauf, dass er unabkömmlich sei. Mein Vater sagte wiederholt: „Ich wäre, ohne mit der Wimper zu zucken, Soldat geworden, wenn verlangt.“1 (Aber er machte auch klar, dass er es nicht freiwillig geworden wäre.)

Mein Vater wurde dann zur Heimatflak einberufen auf der Steinhalde an der Goethestraße (jetzt Dürerstraße) machte tagsüber seine Arbeit im Treibstoffwerk und verteidigte nachts seine Heimat.2 Er zeigte mir einmal, ein wenig stolz wie es mir schien, sein Soldbuch, in dem bescheinigt war, dass er an sechs Abschüssen mitbeteiligt war.

Als das Ende des Krieges für Wanne-Eickel offensichtlich war (meine Eltern berichteten, dass die Alliierten am anderen Ufer des Rhein-Herne-Kanals 14 Tage aufgehalten wurden) und die Alliierten Truppen im Anmarsch waren, erhielt er den Befehl, das Krupp Treibstoffwerk zu verteidigen. Ich weiß nicht, wer ihm den Befehl erteilte, aber ihn abzulehnen, hätte zur standrechtlichen Erschießung auf der Stelle führen können. Daraufhin teilte er die vorhandenen Waffen aus, wies den Verteidigern ihre Plätze an, und gab den strikten Befehl: „Keiner schießt außer auf meinen Befehl.“ Mein Vater hatte keine Absicht, den Befehl zu geben, und er tat es auch nicht, so dass bei der Eroberung3 kein Schuss fiel. Das war nicht im Sinne dessen (oder derer), die ihm den Befehl gaben, das Treibstoffwerk zu verteidigen, aber in einem tieferen und moralischen Sinn hat er das Werk in der Tat verteidigt.

Nach diesem Bericht möchte ich einiges zum Hintergrund und zur Motivation hinzufügen:

Mein Vater und meine Mutter waren überzeugte Christen, im Rahmen der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde (bis 1942 Baptistengemeinde). Über die Ortsgemeinde hinaus war mein Vater ehrenamtlich der Leiter der Jugend in der „Vereinigung Westfalen.“

Mein Vater war nie Mitglied der NSDAP, wozu er verschiedentlich aufgefordert wurde. Er antwortete dann, dass „er der Partei nur beitreten werde, wenn es Pflicht für alle Deutschen würde.“4 Das wurde es nie. Mein Vater konnte es mit seinem Gewissen als Christ nicht vereinbaren, den Nationalsozialismus zu bejahen oder gar zu unterstützen, anders als mein Onkel, Mitglied derselben Gemeinde, der mit meiner Tante schon vor 1933 Parteimitglied wurde.5

Ein wesentliches Argument war für meine Eltern die Verfolgung der Juden. Meine Eltern waren überzeugt, dass die Juden das Volk Gottes seien, und sie zitierten den Propheten Sacharja: „Wer euch [die Juden] antastet, tastet meinen Augapfel an“ (Sacharja 2, 12). Und ich erinnere mich dass meine Mutter mehrfach den Evangelisten Johannes zitierte: „Das Heil kommt von den Juden“ (Johannes 4, 22).

Mein Vater besaß zwei Exemplare von „Mein Kampf„. Ich weiß nicht, wieviel er davon gelesen hatte, aber er wusste sehr genau Bescheid über Hitlers Ideologie und seine Absichten.6

Mein Vater war der Leiter der Jugendarbeit der Baptisten in Westfalen. Im Sommer leitete er oft eine Freizeit, und als er einmal so eine Freizeit auf der Freusburg im Siegerland leitete, war die Hitlerjugend auch dort. Er legte deshalb sein Eisernes Kreuz II. Klasse an, erhalten im Ersten Weltkrieg (19.06.1918) an, so dass alle Hitlerjungen ihn, den christlichen Jugendführer, grüßen mussten.

Nach der Machtübernahme 1933 bemühte sich die Regierung, alle Jugendgruppen in die Hitlerjugend zu integrieren, was ihnen wohl mit dem CVJM auch gelang. Mein Vater sah dies kommen, und er schlug deshalb die Selbstauflösung der (bündischen) baptistischen Jugend vor. Von den 12 Vereinigungleitern der Jugend stimmten nur er und Hans Herter in Stuttgart für die Selbstauflösung, aber der Jugendbund wurde dann doch aufgelöst, und die Jugendgruppen konnten weiter existieren, unorganisiert, zum Bibellesen usw.

Mein Vater war kein Widerstandskämpfer, aber hätten mehr seine Einstellung geteilt, wäre Hitler nicht an die Macht gekommen.

Die Veröffentlichung dieser Lebenserinnerung erfolgte mit Erlaubnis von Klaus Fiedler

Anmerkungen

  1. Dieses und andere Zitate sind nicht phonographisch aufgenommen, geben aber die Wirklichkeit korrekt wieder. ↩︎
  2. Für eine Bericht über einen solchen Angriff, der direkt auf das Treibstoffwerk zielte, siehe: Luftangriff auf das Treibstoffwerk am 9.11.1944. ↩︎
  3. Meine Eltern sprachen immer von den Besatzungstruppen, machten aber deutlich, dass sie die Besatzung als Befreiung erlebten. ↩︎
  4. Ich habe seine maschinenschriftlichen Entnazifizierungsschein gesehen, in dem stand, dass er nie NSDAP Mitglied war, und dass er nur zwei Parteiorganisationen angehört habe, die Pflicht für alle waren. (Es war wohl die Krankenversicherung und die Rentenversicherung, die als Parteiorganisationen organisiert waren.) ↩︎
  5. Meine Mutter erzählte mir, dass meine Tante ihr wiederholt gesagt habe: „Wenn ihr damals der Partei beigetreten wäret, würdet ihr jetzt eine Weihnachtsgans bekommen.“ Meine Mutter antwortete, dass sie gerne auf die Gans für die „alten Kämpfer“ verzichte. ↩︎
  6. Als nach der Befreiung die Engländer anordneten, dass Naziliteratur abgegeben werden sollte, sagte er sich: „Ich habe nie die Nazis unterstützt, und da lasse ich mir die Bücher auch nicht von den Engländern wegnehmen.“ Als Kind hatte ich immer Zugang zu den Büchern meines Vaters, habe aber „Mein Kampf“ nie gesehen. Als nach seinem Tode mein Bruder Vaters Erbe verteilte (ich lebte damals in Tansania), erhielt ich ein Exemplar. Das habe ich Wort für Wort gelesen, es war nicht einfach. Ich stellte fest, dass Hitler wohl alles was er vor hatte, außer der physischen Ausrottung der Juden, auch in dem Buch vorhergesagt hatte. Es ist möglich, dass meine Eltern von Auschwitz und den anderen Vernichtungslagern nichts wussten während des Krieges, aber sie wussten genug, um nicht auf Hitler hereinzufallen, auch nicht, als eines seiner neuen Gesetze meinen Vater von der jahrelangen Arbeitslosigkeit befreite. ↩︎