Herner Hafen, wie St. Pauli und Schanghai

Als der Stichkanal noch Wasser hatte – Was Frau Gilbert, Wilhelm Ostermann und Josef Damm erzählen

Seit einiger Zeit ist der westliche Ausgang der Kanalstraße zugemauert. Damit ist ein Stück der Kanalstraße zur Sackgasse geworden. In alter Zeit war sie völlig offen. Vor ein paar Jahren setzte man dort einen Zaun, der aber nicht sehr hinderlich war, wenn die Anwohner schnell zur Bahnhofstraße wollten. Jetzt kam das Bergpolizeigesetz und verlangte, damit Unfälle verhütet werden, eine stabile Mauer. Ihren Namen hat die Straße von dem früheren Stichkanal.

Die schwärzesten aller schwarzen Häuser

Bis auf die Häuser Scheer, Schnitzler, Fischer und Rusche gehören alle Bauten der Zeche Friedrich der Große. Über zwei Stockwerke kommt kaum ein Bau hinaus. Einige Fachwerkhäuschen lugen aus der langen Reihe der schwarzen Koloniebauten heraus. Dort gibt es die schwärzesten Häuser der Stadt. Die Ursache erzählte uns Fördermaschinist a. D. Kroilhofer. Neben der Kanalstraße stand einst die ‚Chemische‘ mit Teer, Naphthalin und Benzol. Dazu kam einst der Verladehafen und die Kranbahn der Zeche. Was die ‚Chemische‘ nicht verstänkerte, das schwärzte die Kohlenladung.

Ein Blick aus dem Fenster

Ein Fenster dort aufzuhalten, war unmöglich, wenn man nicht fingerdicken Staub von Bett, Schrank, Tisch und Fensterbank wischen wollte. Frau Gilbert weiß davon ein Lied zu singen, und mit einem Lächeln meint sie: ‚Von der Welt sind wir abgeschnitten.‘ Das kann man glauben, denn wenn man in der Kanalstraße aus dem Fenster schaut, blickt man vor eine Mauer. Schaut man nach hinten heraus, sind es die langgezogenen Stallbauten, die den Blick auffangen. Damit haben sich die ‚Piepenfritzer‘ schon seit 30, 40 und mehr Jahren, solange sie dort wohnen abgefunden.

Der Stolz der Hausfrau

Aber ganz so ‚dunkel‘ ist das Wohnen in der Kanalstraße nicht. Von dem Schwarz der Bauten auf das Innere der Wohnungen zu schließen, ist ein Irrtum. Viele Wohnungen gleichen wahren Schmuckkästchen. Soviel Wohnkultur und wohnliche Beschaulichkeit in den hellen Wohnungen, wie wir sie bei unserer Stippvisite vorfanden, vermutet man nicht.

Was die Straße weniger hat, haben die Wohnungen mehr. Für eine Drei- Zimmer-Wohnung zahlte man dort vor dem ersten Weltkriege 9,00 Goldmark. Heute im Durchschnitt 18,00 DM.

Der alte Stichkanal, Repro Gerd Biedermann
Der alte Stichkanal, Repro Gerd Biedermann

Babylonisches Sprachgewirr

Früher ging es dort lebendiger zu. Das war damals, als tagtäglich der Stichkanal voller Kähne gepumpt war. Am Abend fanden sich dann Holländer, Norweger, Franzosen, Belgier, Hamburger usw. in den Kneipen ein. Die Namen der Gastwirte Rembold, Fischer, Nagel, Köhlboff und Reffelmann erinnern daran. Oft herrschte ein tolles Sprachgewirr und wenn mehrere Buddel Rum vertilgt waren, spielten sich Episoden ab, die an St. Pauli oder Schanghai erinnerten ohne dass Pistole oder Messer eine Rolle spielten. Heute denken die Alten nur noch bei Plauderstunden an Hernes alte Hafenkneipen. Den Kindern klingt alles wie eine Sage, wenn die Alten aus der lebendigen Zeit der Kanalstraße plaudern.

Zwei alte Piepenfritzer

Dem Stichkanal weint man keiner Träne nach. Noch weniger der ‚Chemischen‘ und dem Zecheneisenbahngeratter. Viel Gemütlichkeit ist heute eingezogen: Keine Autos, keine rasenden Motorräder und andere Schrecken für den Stehkonvent der Alten. In gemütlicher Ruhe fanden wir eine Gruppe alter ‚Piepenfritzer‘ dort auf der Straße stehen.

Der uralteingesessene Wilhelm Ostermann, 68 Jahre, in die Kanalstraße schon als Junge eingezogen, freute sich, als wir sein Herner Platt akzeptierten. Stolz sagte er: ‚Bi uss wonnt olle Pohlbürgerslüe, un et wörd Platt geküert!‘ Josef Damm, 70 Lenze, alter Hauer, bestätigte das. Beide sind die lebende Chronik der Kanalstraße und von Friedrich der Große.

Jeder kehre vor seiner Tür!

Selbst unser Hinweis, dass die Kanalstraße trotz ihres Namens und der zehn Minuten, die sie von der Bahnhofstraße entfernt ist, keine Hauskanalisation hat und die stinkigen Abwässer durch eine lange Rinne die Straße ablaufen, ließ die Gruppe der Alten unberührt. Sie lieben ihre Straße, so wie sie ist, brauchen keine Pflasterung ‚und auch nicht die Stadt Herne‘, wie sie sagten, denn sie müssen die Straße selbst fegen. Dafür haben sie aber ihre Ruhe und kennen keinen Verkehrsschutzmann. Die Kleinen spielen stundenlang ‚votür‘. Ein Verkehrsunfall auf der Kanalstraße? Das kann nur eine Fabel sein.

Nur ein Kuriosum

Ein Kuriosum ist die Kanalstraße. Die Häuser gehören der Zeche, die Straße jedoch der Provinz. Wilhelm Ostermann, macht da seinem Kölner Namensvetter seligen Angedenkens mit seinem sprichwörtlichen Bergmannsinvalidenhumor alle Ehre, wenn er sagt: ‚Im ollen Herne war schon alles möglich.‘

Der Text wurde von Gerd Biedermann entdeckt und für das digitale Geschichtsbuch aufbereitet.

Quelle:

  • Westfälische Rundschau, Ausgabe Herne, 28.12.1953; Hinweis: In der Zeitungsüberschrift wurde Chinas bedeutende Industriestadt mit der nicht üblichen Schreibweise ‚Schanghai‘ anstatt ‚Shanghai‘ geschrieben.