Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? – Bergbaukrise und Zechensterben im Pott

„Einst nannte man mich den Helden der geschlagenen Nation, und setzte mir Denkmale aus Druckerschwärze und Papier. Jetzt sind die Sockel leer und die Inschriften sind verwaschen. Mit Mühe kann ich noch entziffern: Wir werden dich niemals vergessen!“ (Kurt Küther)

Der Bergmann und Arbeiterliterat Kurt Küther bringt mit dieser lyrischen Fassung die weitverbreitete Hilflosigkeit, Resignation und Enttäuschung auf den Punkt, die bei den Menschen im Ruhrgebiet während der 1960er Jahre zu beobachten war. Trotz des Wirtschaftswunders herrschte Krisenstimmung im Kohlenpott. Von 1958 bis 1964 schlossen über 27 Zechen für immer ihre Pforten. Über 53.000 Arbeitsplätze gingen verloren. Innerhalb von zehn Jahren sank die Kohlenförderung um über 27 Prozent. Die Beschäftigtenzahl halbierte sich in diesem Zeitraum, wobei jeder verlorengegangene Arbeitsplatz enorme Auswirkungen auf die Zuliefererbetriebe hatte. In den meisten Ruhrgebietsstädten blieb das wirtschaftliche Wachstum aus. Damit koppelte sich das Revier von der Wirtschaftswunderlokomotive ab: Die nationale Ökonomie der Bundesrepublik expandierte kräftig, die regionale des Reviers stagnierte stetig. Die Kohlenkrise drohte die gesamte Region in das ökonomische und soziale Chaos zu stürzen, so dass sich die verantwortlichen Kommunalpolitiker freuten, wenn der Status Quo gesichert werden konnte. Die Städte Herne, Wattenscheid und Bottrop erzielten in jenen Tagen eine Wirtschaftskraft, vergleichbar einer Gemeinde aus einem unterentwickelten Eifelkreis.

Die erste Nachkriegsrezession in der Bundesrepublik im Jahre 1966 bedeutete dann auch für das Revier mehr als einen zwischenzeitlichen Einbruch im Wachstumstrend: „Der Rezession folgte nicht allein eine Krise, sondern es drohte eine Katastrophe. Die Bergleute wussten, dass es in dieser schlechten Situation für sie auf anderen Zechen oder in anderen Industriezweigen keine oder keine vergleichbaren Arbeitsplätze geben konnte, falls ihre Anlage stillgelegt werden sollte“, berichteten Zeitzeugen.

Die Liste der im Rahmen des Rationalisierungsverbandes vorsorglich zur Stilllegung angemeldeten Zechen, Repro Norbert Kozicki
Die Liste der im Rahmen des Rationalisierungsverbandes vorsorglich zur Stilllegung angemeldeten Zechen, Repro Norbert Kozicki

Dabei markierte das Jahr 1963 ein schicksalsschweres Datum: Der sogenannte Rationalisierungsverband wurde gegründet. Ziel: Gesundschrumpfung der deutschen Steinkohle. Die von der CDU geführte Bundesregierung unter Kanzler Erhard garantierte den Unternehmern pro Tonne verwertbarer Förderung eine Stilllegungsprämie von 25 DM, wobei die Verteilung dieser Prämien allein den Kapitaleignern überlassen blieb.

„Die Kohlenkrise an der Ruhr und die wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen über den Konkurrenzkampf Kohle gegen Öl haben gestern einen neuen Höhepunkt erreicht: In Essen wurde bekanntgegeben, dass 34 Millionen Tonnen Steinkohle-Jahresförderung im Rahmen des Rationalisierungsverbandes vorsorglich zur Stilllegung angemeldet wurden. Damit stehen noch 26 große und 4 kleine Schachtanlagen mit einer Jahresförderung von 22 bis 23 Millionen Tonnen auf der Stilllegungsliste“, meldete die Westfälische Rundschau im Oktober 1964. Auch hochmoderne, mit Millionenaufwand neu eingerichtete Schachtanlagen ließen die Besitzer über die Klinge springen, denn die Abkassierung der horrenden Stilllegungsprämien war in vielen Fällen profitabler als die Förderung des schwarzen Goldes. 60.000 Bergarbeiter waren von diesen Maßnahmen direkt betroffen.

Wanne-Eickel und Herne – Zwei Bergarbeiterstädte am Scheideweg:

„Wanne-Eickels Kumpel demonstrieren – Protestmarsch gegen Zechensterben: Heute ab 10 Uhr werden Wanne-Eickeler Bergleute demonstrieren! Arbeiter, die durch den Vorstand der bundeseigenen Hibernia AG den Stilllegungsantrag für die Schachtanlage ´Shamrock´und die Kokerei zur Kenntnis nehmen mussten.“ (Wanne-Eickeler Zeitung, 31. 10.1964).

Am 27. Oktober 1964 meldete das Westdeutsche Fernsehen in seiner Sendung „Hier und Heute“, dass zwei Schachtanlagen der Hibernia Aktiengesellschaft, „Shamrock 1/2“ in Herne und „Shamrock 3/4“ in Wanne-Eickel vorsorglich zur Stilllegung angemeldet worden sind. Betroffen waren davon über 3.800 Herner und Wanne-Eickeler.

Die Förderungsleistung dieser Bergleute konnte sich im europäischen Vergleich sehen lassen. Mit der Untertageleistung von 2,6 Tonnen pro Mann und Schicht erzielten die Shamrocker eine europäische Spitzenleistung. Zur damaligen Zeit förderten z.B. französische und belgische Zechen mit einer Schichtleistung von 1,5 Tonnen pro Mann. Der Schock bei den Betroffenen saß tief, denn diese Maßnahme übertraf das Vorstellungsvermögen der dort beschäftigten Bergleute. Zudem hatte das Vorstandsmitglied von Dewall noch einen Tag zuvor während einer geschäftsführenden Ausschusssitzung des Gesamtbetriebsrats der Hibernia AG energisch alle Gerüchte um die Stilllegungsprämie der Bergbaugesellschaft bestritten.

„Als die Nachricht über den Westdeutschen Rundfunk raus war, habe ich sofort meinen Werksdirektor Mende angerufen“, erinnerte sich der Herner Erwin Muhs, der über 20 Jahre lang Betriebsratsvorsitzender auf der Schachtanlage „Shamrock 1/2“ war. „Ich schlug vor, dass er sofort mit dem Vorstand der Hibernia Kontakt aufnehmen sollte, um festzustellen, ober diese Nachricht der Wahrheit entspricht.“

Erwin Muhs setzte den Bergwerksdirektor unter Druck, indem er erklärte, die Betriebsräte würden die Belegschaft am nächsten morgen nicht einfahren lassen. Für den folgenden Morgen verabredete man, eine Belegschaftsversammlung der Frühschicht um viertel vor sechs in der Waschkaue durchzuführen, um dort die Kumpel umfassend zu informieren. Der Bergwerksdirektor erschien mit einem Stapel Zeitungen unter dem Arm und erklärte kurz und knapp: „Herr Muhs, was hier geschrieben steht, stimmt nicht.“ Direktor Mende lehnte es aber ab, vor den versammelten Bergleuten zu reden. „Somit konnte ich mir schon denken, was los war“, betonte Erwin Muhs.

An diesem grauen Herbstmorgen gab es auf beiden Schachtanlagen der Zeche Shamrock heftige und aufgeregte Diskussionen in der Kaue, in der Grube und überall dort, wo sich die Kumpel trafen. „Für Wanne-Eickel war das der härteste Schlag, der überhaupt kommen konnte“, meinte im Rahmen des historischen Rückblicks Richard Hoh, der frühere Betriebsratsvorsitzende der Schachtanlage „Shamrock 3/4“. Die Menschen konnten und wollten die Tatsache der angekündigten Zechenschließung weder glauben noch verstehen, denn noch in den Jahren nach den pompösen Feierlichkeiten zum einhundertjährigen Bestehen des Bergwerks im Jahre 1957 investierte das bundeseigene Unternehmen übe 200 Millionen DM in die Modernisierung der Anlagen. Verglichen mit heutigen Preisen, setzte die Bonner CDU/FDP-Regierung hier mehr Geld in den Sand, als beim Wahnsinnsbau der Atomruine im bayerischen Wackersdorf in den 80er Jahren.

Auf den Schultern der gewählten Betriebsräte lastete die Organisation des gewerkschaftlichen Kampfes für den Erhalt der Zeche. Richard Hoh und seine Kameraden sprachen bei Wanne-Eickels Oberbürgermeister Edmund Weber (SPD) vor, der sich mit den Kumpel spontan solidarisierte. Das Stadtoberhaupt sicherten den Bergleuten zu, dass er alle Stadtverordneten auffordern würde, sich an den Protestmärschen zu beteiligen. Edmund Weber erklärte sich bereit, vor den protestierenden Bergleuten im städtischen Saalbau zu sprechen.

Am Samstag, dem 31. Oktober 1964, sammelten sich vor dem Zechentor der Schachtanlage 3/4 in Wanne-Eickel die Bergleute. Transparente gegen die Vernichtung der Arbeitsplätze und gegen die Stilllegungspläne lehnten an der Zechenmauer. Über die Straßen der Ruhrgebietsstadt zogen über 1.500 Kumpel zum städtischen Saalbau. Die Knappen in ihren Uniformen mit Trommeln und schwarzen Fahnen gingen voran.

Parallel zu den Protestaktionen in Wanne-Eickel demonstrierten über 700 Kumpel der Herner Schachtanlage für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Die Kumpel von „Shamrock 1/2“ in Herne schreckten ihre Mitbürger mit dumpfen Trommelschlag aus der Wochenendruhe. Sie zogen, Frauen und Kinder neben sich, mit schwarzen Fahnen durch die  Straßen, und ihre Transparente, an denen Trauerflore wehten, forderten: „Keine leeren Versprechungen mehr, wir wollen endlich Taten sehen!“

Der Betriebsratsvorsitzende Richard Hoh eröffnete die Protestkundgebung mit der lapidaren Feststellung: „Der Vorstand unserer Gesellschaft hat das Vertrauen zu uns gebrochen!“ Hoh teilte weiterhin mit, dass Protestschreiben an den damaligen Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU), an den Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier (CSU), an den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Heinz Meyers (CDU) und seine Minister Kienbaum (FDP) und Grundmann (CDU) verschickt worden seien.

Unter dem donnernden Applaus der Bergleute trat Oberbürgermeister Edmund Weber an das Rednerpult. Er stellte fest, dass Wanne-Eickel eine Bergarbeiterstadt ist. „Auf der Kohle steht sie, von der Kohle lebt sie“, erklärte er lyrisch. „Wir, die Stadtvertreter, werden mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln ein solches Vorgehen zu verhindern suchen, damit jeder Bürger unserer Stadt in Ruhe, Frieden und Sicherheit seiner Arbeit nachgehen kann.“

Protestmarsch der Bergarbeiter von 'Shamrock 3/4' über die Landgrafenstraße, Repro Norbert Kozicki
Protestmarsch der Bergarbeiter von ‚Shamrock 3/4‘ über die Landgrafenstraße, Repro Norbert Kozicki

Am Montag, dem 2. November 1964, reiste eine Delegation der Betriebsräte zum Arbeits- und Sozialminister des Landes Nordrhein-Westfalen. Minister Grundmann empfing die Bergarbeitervertreter, die vom Landtagsabgeordneten Erich Schönewolf (SPD) und dem Bezirksleiter der Industriegewerkschaft Bergbau, Ernst Bartsch, beide aus Herne, begleitet wurden. In der offenen Aussprache erzielten die Betriebsräte ein wichtiges Verhandlungsergebnis. Der CDU-Minister Grundmann brachte diplomatisch seinen Bereitschaft zum Ausdruck, die Kumpel der bundeseigenen Hibernia Bergwerksgesellschaft in ihrer Forderung auf Verzicht der Stilllegung zu unterstützen. Auch der liberale Wirtschaftsminister Kienbaum, gleichzeitig Mitglied des Aufsichtsrates der Hibernia AG, gab eine gleichlautende Erklärung ab, die aber keine Folgen hinsichtlich seines konkreten Abstimmungsverhaltens in der entscheidenden Aufsichtsratssitzung haben sollte. Nicht nur durch dieses Ablenkungsmanöver von Ministern der Landesregierung, die ihren Amtseid zum Wohle des Bürgers abgelegt hatten, fühlten sich Herner und Wanne-Eickeler Bergleute arglistig getäuscht.

Am Montag, dem 23. November 1964, tagte dann der Aufsichtsrat im Kasino der Hauptverwaltung in Herne, um endgültig die Frage „Vorsorgliche Stilllegungspläne: ja oder nein?“ zu klären. Über 200 Betriebsräte demonstrierten während der Sitzung vor dem Zechenkasino. Bis in den späten Abend harrten die um ihre Existenz bangenden Kumpel aus, um schließlich die lapidare Antwort zu erhalten: „Der Aufsichtsrat hat sich entschlossen, die Sitzung auf den 21. Januar 1965 zu vertagen.“

Erwin Muhs, der zwischenzeitlich zum Sprecher der protestierenden Bergleute gewählt wurde, teilte der Öffentlichkeit mit, dass sich die NRW-Minister Grundmann und Pütz zunächst für diese Aufsichtsratssitzung abgemeldet hätten, auf Weisung von Ministerpräsident Meyers aber erscheinen mussten. Muhs betonte weiterhin, dass beide Minister den Auftrag gehabt hätten, für die Vernichtung der Arbeitsplätze zu stimmen. Erwin Muhs Prophezeiung sollte zwei Monate später traurige Wirklichkeit werden. Der Aufsichtsrat beschloss mit den Stimmen beider Minister der nordrhein-westfälischen Landesregierung die Schließung der Zechen Shamrock bis spätestens 1968.

Dennoch blieb der Kampf der Herner und Wanne-Eickeler Bergarbeiter und ihrer Familien nicht ganz ohne Erfolg: Keiner der betroffenen Kumpel wurde in die Arbeitslosigkeit entlassen, sondern auf benachbarte Schachtanlagen verlegt, z.B. auf die Zeche „General Blumenthal“ nach Recklinghausen, die ebenfalls zum Konsortium der bundeseigenen Hibernia AG gehörte. In der für die Wanne-Eickeler und Herner Stadtgeschichte so bedeutungsvollen Aufsichtsratssitzung vom 21. Januar 1965 beschloss die Bergwerksgesellschaft, einen über neun Kilometer langen unterirdischen Tunnel zwischen der Zeche „General Blumenthal“ und der Zeche „Shamrock 3/4“ zu bauen, damit die hochmodernen Förderanlagen in Wanne-Eickel genutzt werden konnten. Die in Bergarbeiterkreisen sogenannte Röhre stellte in jeden Tagen eine technologische Großtat dar. Über 60 Millionen DM investierte die Hibernia AG in dieses Projekt. Noch heute transportiert die Ruhrkohle AG das schwarze Gold durch die Röhre zur stillgelegten Zeche „Shamrock 3/4“, wo sie dann ans Tageslicht befördert wird.

Mit der Schließung der Zeche „Shamrock“ wurde das Ende von Wanne-Eickel und Herne als Bergbaustadt unwiderruflich eingeläutet. Richard Hoh stellte am Ende seiner beruflichen Tätigkeit fest: „Viele schimpften auf den Pütt, aber als die Zeche zumachte, hatten viele Tränen in den Augen.“

Kanzler Erhard und die Uhus

„Die bisher stürmischste Wahlversammlung im Ruhrgebiet erlebte Bundeskanzler Erhard am Mittwoch in Wanne-Eickel. Eine Minderheit von etwa viertausend Zuhörern störte Erhard während seiner Rede fast pausenlos mit Sprechchören wie Maßhalten´,Abhauen´ und Erhard weg´ sowie mit dem Absingen des RefrainsAber eins, aber eins, das bleibt bestehn, die SPD wird niemals untergehn´, nach der Melodie, die man sonst nur auf Fußballplätzen hört.“ (Wanne-Eickeler Zeitung, 7.7.1966).

Bundeskanzler Ludwig Erhard, im Revier auch Mister Schweinebacke genannt, zeigte Courage: Obwohl er zur Symbolfigur für den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang des Reviers avancierte, plante er eine umfangreiche Wahlkampfreise von Dortmund nach Duisburg quer durchs Revier, die ihn an diesem 7. Juli 1966 nach Wanne-Eickel führte, ehe sie in Gelsenkirchen-Buer ihr vorzeitiges Ende fand.

Die Industriegewerkschaft Bergbau und die Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken organisierten die Begleitmusik zu dieser für Kanzler Erhard unerfreulichen Tour de Ruhr. „Wir hatten mit einigen Hunderten Jungsozialisten und Falken den Steinplatz in Wanne-Eickel hermetisch abgeriegelt“, erinnerte sich einer der Initiatoren der Störaktionen in Wanne-Eickel, der damalige SPD-Stadtverordnete und Bezirkssekretär der Falken, Helmut Hellwig. „Wir besorgten Luftballons mit der Aufschrift ´SPD´ und verteilten diese. Wenn da die Luft rausging, machten die einen bestimmten Summton, der in der Masse einen ohrenbetäubenden Lärm verursachte.“

Der Protestlärm setzte schon bei den Begrüßungsworten des westfälischen CDU-Vorsitzenden Dufhues ein, nach dessen Worten die Sozialdemokraten dauernd vom Chaos redeten, weil Chaos der Nährboden für den Sozialismus sei. Zum Abschluss seiner Begrüßung rief Dufhues in die schreiende Menge: „Das ist organisierter SPD-Terror. Wanne-Eickel und unser Land dürfen nicht dem Terror der sozialdemokratischen Funktionäre zum Opfer fallen.“ Der Bundeskanzler, sichtlich erregt über die fortgesetzten Proteste und Pfiffe gegen seine Person, beschimpfte mit hochrotem Kopf die Demonstranten. Besonders wollte er gegen die Jugendorganisation Falken polemisieren. Doch Ludwig Erhard fand das Wort „Falken“ nicht und schimpfte wie ein Rohrspatz über die Uhus.

Die Rache der 'Uhus', Repro Norbert Kozicki
Die Rache der ‚Uhus‘, Repro Norbert Kozicki

„Als der Erhard dann in seinen dicken Mercedes kletterte, nass-geschwitzt, kurbelte er sein Autofenster herunter, um frische Luft zu bekommen. In dem Moment tritt der in Wanne-Eickel stadtbekannte Kirmesboxer Conni Kobowski an das Kanzlerauto, greift die Nase von Ludwig Erhard und raunzte ihn an, lass dich nicht noch einmal in Wanne-Eickel sehen“, erinnerte sich Helmut Hellwig.

Dass der angestaute Volkszorn zu eskalieren drohte, erscheint verständlich, wenn man berücksichtigt, dass Bundeskanzler Erhard während der Wahlkundgebung nur mit wenigen Worten auf die Bergbaukrise und das massenhafte Zechensterben einging. „Der Strukturwandel erfordert, dass Menschen umgesetzt werden müssen“, dozierte der Nachfolger Adenauers im höchsten Regierungsamt der Republik.

Keinen leichten Stand hatte an diesem Tag Hauptkommissar Bruno Kuhle. Energisch musste der „eleganteste Polizist von Wanne-Eickel“ gegen jede Art von Demonstration vorgehen. Allerdings unterlief ihm, als er mit kühnem Griff ein Papiertransparent zerriss, ein kleiner Formfehler. Was er zerfetzt in seinen Händen hielt, war ein Transparent, auf das die Junge Union „I like Ludwig“ gemalt hatte. Die Verwirrung steigerte sich noch, als die Kumpel von der Zeche Shamrock glauben, dass die Jugendlichen Mitglieder der IG Bergbau seien. IG Bergbau und Junge Union gegen die Polizei ?! „Dann wollte er sogar Pfiffe unterbinden“, erzählt Drahtzieher Helmut Hellwig, „da habe ich eine Auseinandersetzung mit ihm gehabt. Wenn man in einer Demokratie während einer Veranstaltung Beifall klatschen kann, kann man auch pfeifen.“

Doch die Tour de Ruhr wurde für Ludwig Erhard nicht nur in Wanne-Eickel zur „Tour der Leiden“. In Gelsenkirchen-Buer erlebte der selbsternannte Vater des westdeutschen Wirtschaftswunder sein blaues Wunder. 7.000 Bergarbeiter der zur Stilllegung angemeldeten hochmodernen Zeche „Graf Bismarck“ machten mobil.

„Da haben sie den ´Wirtschaftswundermann´, den ´Vater des Zechensterbens´, den ´Maßhaltekanzler´ Aug in Aug vor sich stehen. Und der will gar noch um ihre Stimmen für seine Partei werben ? Ob das kein Wagnis ist? Schon auf dem Erler Marktplatz hatte es von den Transparenten gerufen: „CDU – Zechen zu“, berichtete der Arbeiterschriftsteller Josef Büscher aus Gelsenkirchen über die Stimmung im Revier am Rhein-Herne-Kanal.

Der Spruch, den man an diesem Nachmittag am häufigsten hören konnte, lautete kurz und präzise: „Erhard weg ! Raus aus Buer!“ Als der Bundeskanzler schweren Schrittes ans Rednerpult trat, „…war das der Augenblick, auf den die Phalanx der schwarzen Fahnen der Bismarck-Kumpel gewartet hatte. Wie Lanzen zum Angriff neigten sich die Fahnenstöcke nach vorn. Ihre Träger kämpften sich Schritt um Schritt Richtung Empore vor. Gleichzeitig drängte sich ein noch stärkerer Polizeikordon vor die bereits aus Beamtenleibern gebildete Schutzmauer. Wie auf Kommando flogen Hunderte von Bierdeckeln in Richtung des Podiums. ´Jetzt müsste der Kanzler kehrtmachen und mit seinem Gefolge einfach davonfahren!´dachte ich. Doch nein! Bleich vor Wut schleuderte er seine Worte in den Hexenkessel. ´Noch nie zuvor habe ich soviel Frechheit und Gemeinheit auf einen Haufen gesehen!´ Das veranlasste eine Gruppe Jugendlicher, die in Mikrofonnähe stand, nur noch lauter zu skandieren: ´Erhard weg´. Der aber goss erst recht Öl ins Feuer, als er mit erhobener Hand auf sie weisend ausrief: ´In meinen Augen sind diese Lümmel Uhus. Sie hätten schon in den Windeln sterben müssen!´ Klar, dass die Wut der so Herausgeforderten jetzt keine Grenzen mehr kannte. Erhard fuhr fort: ´Ich habe die Absicht gehabt, zu den Bürgern dieser Stadt zu sprechen. Aber ich habe keine Lust, vor dem organisierten Mob zu reden. Ihr habt die beste Wahlpropaganda gemacht, denn nun weiß man, wie es um unsere Freiheit bestellt ist, wenn dieses Gesindel, dass da vor mir steht, zum Zuge kommt !´ ‚Sich den Schweiß von der Stirn wischend und ein wenig taumelnd trat Erhard zurück“, berichtete Josef Büscher weiter.

In einem Dreispalter glossierte die Westdeutsche Allgemeine Zeitung des Kanzlers Worte: „In Gelsenkirchen gibt es also Uhus. Komisch, viele von uns kennen doch Gelsenkirchen, außerhalb des Ruhrzoos jedoch hat man nie etwas davon bemerkt. Aber der Kanzler hat sie mit eigenen Augen dort gesehen. ….Sollte jedoch Erhard wirklich Gelsenkirchener gemeint haben, dann wollte er womöglich ausdrücken, sie seien ganz seltene Vögel…Mag man auch manches nicht verstehen, was er sagt und tut. Man möchte aber doch etwas davon haben, wenn der Kanzler schimpft.“

In Gelsenkirchen endete die Wahlkampfreise von Bundeskanzler Erhard für seine christliche Partei im NRW-Wahlkampf 1966. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Sozialdemokraten aus der Landtagswahl als stärkste politische Kraft hervorgingen, nicht zuletzt wegen der aktiven Unterstützung der „Uhus“ im Revier.

Zeche Pluto: Die letzte Zeche geht…

„Der liebe Gott würde diese Anlagen nicht schließen, aber er ist nicht im Spiel.“ (Hermann Josef Abs, Bankier, guter Freund von Ex-Kanzler Adenauer)

Als Folge der wirtschaftlichen Krisenerscheinung im Revier machte sich in der SPD, die mittlerweile an den Schalthebeln der politischen Macht Platz genommen hat, eine große Unruhe bemerkbar. Der stellvertretende Parteivorsitzende, Herbert Wehner, wurde auf Parteikonferenzen in Oberhausen und Dortmund mit herben Vorwürfen regelrecht überschüttet. „Auch stellvertretende Vorsitzende können abgewählt werden“, rief ein aufgebrachter Dortmunder Delegierter dem Zuchtmeister der SPD zu. Die Stimmung war mehr als gereizt.

„Das hatte ich noch nicht erlebt. Auf einmal kam alles auf den Tisch“, wundert sich noch heute einer der Parteifunktionäre. Verärgerte Bergleute prägten in Recklinghausen das Wort von der „sozialen Demontage“. Die parteipolitischen Schwierigkeiten, denen sich die sozialdemokratischen Funktionäre im Revier ausgesetzt sahen, ließen sich in einem Satz zusammenfassen: „Die Menschen erwarteten von der SPD ein Wunder.“ Nach dem Eintritt der SPD in die nordrhein-westfälische Landesregierung und in die Bonner Bundesregierung im Jahre 1966 waren die Erwartungen mehr als groß. Die geplante Fortsetzung der Zechenstilllegungen ein Jahr später führte den Ruhrkumpeln drastisch vor Augen, dass sich durch die Regierungsbeteiligungen der Sozialdemokraten in Bonn und Düsseldorf die alte Politik nicht veränderte. Der fast kindliche Glaube an die alte Sozialdemokratie war erschüttert. Viele SPD-Genossen fanden sich nicht mit dem Gedanken ab, dass die Partei in der Bonner Großen Koalition mit dem früheren politischen Gegner paktieren musste.

„Die Bergleute in der SPD haben von der Großen Koalition mehr erwartet“, stellte ein Dortmunder Funktionär der Industriegewerkschaft Bergbau fest. Auch aus der Metallgewerkschaft hörte man ähnliche Töne. Die sozial- und wirtschaftspolitischen Vorgänge im Revier belasteten spürbar das traditionell gute Verhältnis zwischen der SPD und den Gewerkschaften. In den Gruppen der aktiven Gewerkschafter entwickelte sich die Erkenntnis, dass die Interessen der Arbeiter in der SPD nicht mehr die ausschlaggebende Rolle spielten. Die sozialdemokratischen Kader reagierten mit folgender Replik: „Wir sind manchmal gezwungen, den Gewerkschaften Dinge zu sagen, die ihnen nicht immer angenehm sind.“

Konsequenterweise kamen die entscheidenden Warnungen von den westdeutschen Gewerkschaften vor der Fortsetzung der schwarz-roten Koalition in Bonn. „Wir sollten als Partei endlich den Mut aufbringen, aus der Koalition auszutreten, um nicht Verrat an der Arbeitnehmerschaft begehen zu müssen“, erklärte ein einflussreicher Betriebsratsvorsitzender aus Recklinghausen. Diese Kritik der Gewerkschaften an die Adresse der Sozialdemokraten erhielt kräftigen Aufwind durch die Protestaktionen der Wanne-Eickeler und Dortmunder Bergleute Ende des Jahres 1967 anlässlich der geplanten Stilllegungen der Zechen „Pluto“ in Wanne-Eickel und „Hansa“ in Dortmund.

Die Gelsenkirchener Bergwerksaktiengesellschaft ließ am Freitag, dem 13. Oktober 1967, über die Fernschreiber der Agenturen tickern, dass die Stilllegung der beiden Zechen zum Herbst 1968 geplant sei, wenn sich aus den Neuordnungsmaßnahmen für den Ruhrbergbau keine neuen wirtschaftlichen Entscheidungshilfen ergäben. Der Aufsichtsrat der Zechengesellschaft beschloss weiter, über die angestrebte Stilllegung Anfang Dezember 1967 konkret zu entscheiden. Mit dieser Verlautbarung aus der Vorstandsetage der Bergwerksgesellschaft drohte die Schließung der letzten Zeche in der Bergarbeiterstadt Wanne-Eickel:

Im Jahr 1957 verdienten dort über 14.000 Bergarbeiter ihr Geld vor Kohle, im Jahr 1967 nur noch 4.600. Im Stadtgebiet der ehemaligen Bergbaustadt wurden innerhalb von zwei Jahren drei Zechen geschlossen:

  • am 29. November 1965 die Kokerei und am 31. Oktober 1967 die Schachtanlage „Shamrock 3/4“ mit 1.866 Beschäftigten,
  •  am 28. Februar 1967 die Schachtanlage „Königsgrube“ in Röhlinghausen mit 487 Beschäftigten,
  •  am 30. September 1967 die Schachtanlage „Unser-Fritz“ mit 1.904 Beschäftigten.

Nun sollte die Zeche „Pluto“ mit dem Schacht Wilhelm am 30. September 1968 gedeckelt werden. Dabei bestand erstmalig keine Handhabungsmöglichkeit, die rausgeschmissenen Bergarbeiter bei anderen Zechengesellschaften unterzubringen. Ersatzarbeitsplätze in anderen Wirtschaftsbereichen waren ebenfalls nicht vorhanden.

Für die Stadt Wanne-Eickel bedeutete die Schließung der letzten Zeche eine finanzielle Zäsur erster Größe. Das Gewerbesteueraufkommen betrug im Jahr 1967 nur noch 44 Prozent der Gewerbesteuereinnahmen des Jahres 1957.

Die Nachricht von der Schließung kam für die betroffenen Menschen keineswegs überraschend, denn schon seit Monaten wollten die Gerüchte von einer drohenden Zechenschließung nicht verstummen, obwohl der Vorstand der Bergwerksgesellschaft, ähnlich im Fall Shamrock, bis zu dieser Agenturmeldung diese so wirtschaftlich dramatische Maßnahme immer wieder dementierte.

Die sonst so reservierten, auf Seriosität und Ausgewogenheit bedachten Vertreter der schreibenden Zunft empörten sich zu recht über die Tatsache, dass vier Wochen vorher noch der Vorstandssprecher der Gelsenkirchener Bergwerksaktiengesellschaft keine Stellungnahme zu einer offiziellen Anfrage der Lokalpresse abgegeben hatte.

Demonstration der Bergleute der Zeche 'Pluto' in Dortmund-Huckarde, Repro Norbert Kozicki
Demonstration der Bergleute der Zeche ‚Pluto‘ in Dortmund-Huckarde, Repro Norbert Kozicki

Aber auch die gewählten Parlamentarier schwiegen: Noch während der Ratssitzung in Wanne-Eickel vom 12. Oktober 1967, einen Tag vor der offiziellen Bekanntgabe der Schließung, gaben sie keine Stellungnahme zu den sich verdichtenden Gerüchten vom bevorstehenden Zechensterben ab. In seiner Rede bemerkte der Stadtkämmerer Friedrich Steffen (SPD) im Zusammenhang mit der Problematik von Steuerausfällen lediglich, „…dass uns heute Nachrichten erreicht haben, die keine Besserung der Verhältnisse erwarten lassen“. Zeitzeugen können berichten, dass die Vertreter der Stadt bis zum folgenden Samstag zum Schweigen vergattert wurden.

„Es bedarf keines besonderen Hinweises, dass die finanzielle Situation angesichts dieser Entwicklung zu einer Bedrohung der Lebenskraft unserer Stadt führen muss“, erklärten allerdings etwas später in einer gemeinsamen Resolution die Fraktionschefs von SPD und CDU.

Vier Tage nach Bekanntgabe der Stilllegung, am Dienstag, dem 17. Oktober 1967, reisten die Betriebsräte der beiden betroffenen Zechen nach Düsseldorf, um dort mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Heinz Kühn (SPD) und dem Wirtschaftsminister Kaßmann zu konferieren. Kaßmann informierte die Gesprächsrunde über die gegebene Zusicherung des Bonner Wirtschaftsministers Karl Schiller (SPD), wonach Zechen nur parallel mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze geschlossen werden könnten.

Die Betriebsräte der Zechen erklärten unmittelbar nach ihrem Gespräch mit den beiden Vertretern der nordrhein-westfälischen Landesregierung, dass sie jetzt noch Hoffnung auf Rettung der beiden Schachtanlagen hätten. „Wenn es gelingt, die Stilllegung hinauszuschieben, besteht auch die Chance, sie später zu verhindern“, glaubten zum damaligen Zeitpunkt die Vertreter der Zechenbelegschaften. „Wenn es nach unseren Vorschlägen schnell zu einer Neuordnung des Bergbaus, also zu einer Einheitsgesellschaft kommt, wird man die unwirtschaftlichen Schachtanlagen aussieben und die rentablen wie Hansa und Pluto erhalten können“, meinte der stellvertretende Bezirksvorsitzende der IG Bergbau, Herbert Giesen, aus Dortmund.

Ministerpräsident Kühn fürchtete, dass zusätzliche Ankündigungen über weitere Stilllegungen zu einer Radikalisierung der Arbeiterschaft im Ruhrgebiet führen werden. Ein wirtschaftspolitisches Faktum galt in jenen Herbsttagen als sicher: Für die Mehrheit der Kumpel ließen sich innerhalb der vorgesehenen Stilllegungszeiten keine qualitativen Ersatzarbeitsplätze schaffen. Heinz Kühn sicherte zu, dass ein Minister der Landesregierung während der Protestkundgebung der Bergleute am darauffolgenden Samstag in Dortmund-Huckarde sprechen werde. Die Betriebsräte Siegfried Baranowski und Heinz Krüger forderten den Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller telegrafisch auf, ebenfalls zu den Ruhrkumpel zu sprechen.

Die Stilllegungspläne riefen in Wanne-Eickel alle relevanten politischen Kräfte auf den Plan. Im betroffenen Stadtteil Bickern diskutierten am folgenden Tag bis in den späten Abend hinein die Vertrauensleute, die Funktionäre der Gewerkschaft, die Vertreter der Kirchen, der Stadtverwaltung und der Parteien. In der Gaststätte Dörendahl vor dem Zechentor an der Ecke Thiesstrasse und Wilhelmstrasse berichteten die Betriebsräte Baranowski und Janus über das Gespräch in Düsseldorf.

Belegschaftsversammlung der Zeche 'Pluto' im Astoria-Filmtheater, Repro Norbert Kozicki
Belegschaftsversammlung der Zeche ‚Pluto‘ im Astoria-Filmtheater, Repro Norbert Kozicki

Im Einzelnen stritten die in Bewegung geratenen Bergarbeiter über die konkrete Form der Beteiligung an der Protestkundgebung in Dortmund, wo neben dem Vorsitzenden der IG Bergbau, Walter Arendt, auch Ministerpräsident Heinz Kühn sprechen sollte. „Wir müssen den Bundestag überzeugen, dass mit Quacksalbereien, mit Prämien für die Unternehmer, der Bergbau nicht zu retten ist“, postulierte der Gewerkschaftssekretär Erwin Piotrowski. „Wir müssen auch in Wanne zeigen, was für Kerle wir sind, ordentliche Kerle“, stellte ein Betroffener klar. Die Frage der Erhaltung der Arbeitsplätze kristallisierte sich in den lebhaften Debatten immer wieder als zentrales Problem heraus. Die Angst grassierte in den betroffenen Regionen des Reviers.

„Wir haben durch unsere Arbeit das Recht erworben, hier zu leben“, bemerkte ein Vertrauensmann, um dann zu ergänzen: „Wenn Pluto stillgelegt wird, so ist das für mich die fünfte Anlage, die dichtgemacht wird.“ Die Angst vor sozialer Entwurzelung saß tief. Zum Abschluss der Beratungen verabschiedeten die Betriebsräte und Vertrauensleute eine Resolution, in der die Aussetzung der Zechenschließungen gefordert wurde, bis ausreichende Ersatzindustrien angesiedelt seien.

Über 1.000 Wanne-Eickeler Bergleute reisten mit Sonderbussen zur Protestkundgebung in Dortmund-Huckarde an, um gegen die Vernichtung ihrer Existenzgrundlage zu protestieren. In Huckarde solidarisierten sich die Geschäftsleute und Einzelhändler mit den protestierenden Bergarbeitern und hielten ihre Geschäfte geschlossen. Über 15.000 Bergleute empfingen den NRW-Ministerpräsidenten Heinz Kühn mit Pfiffen und dem Schmähvers: „Kühn und Schiller – Zechenkiller“. Bonns SPD-Wirtschaftsminister hatte sich mit seinem Ruhrprogramm – danach mussten bis 1970 über 25 Zechen stillgelegt werden – den Zorn der Kumpel zugezogen.

In den Straßen des Dortmunder Stadtteils Huckarde stellte sich der Chef der Industriegewerkschaft Bergbau und SPD-Bundestagsabgeordnete Walter Arendt einem Protestzug von 15 000 aufgebrachten Kumpeln entgegen, die gegen die angekündigte Schließung der GBAG-Zechen Hansa und Pluto demonstrierten. Die Bergarbeiter schwenkten schwarze Fahnen und stimmten die Internationale an. Arendt versuchte auf seine zynische Art den Kumpel-Zorn zu beschwichtigen: „Singt mal ruhig weiter, die zweite Strophe kennt Ihr ja doch nicht mehr.“ Davon ließen sich die Kumpel nicht ins Bockhorn jagen. Vorne in der ersten Reihe stand ein Pfarrer in vollem Amtsornat, mit Talar und Beffchen. Um ihn herum standen die Kumpel und sangen wiederholt die Internationale.

„Männer, Frauen und Kinder – auf die Straße“, hallte es aus dem Lautsprecherwagen der Gewerkschaft. Die Demonstration mit anschließender Kundgebung verdeutlichte: Nach Jahren des gewerkschaftlichen Abwehrkampfes gegen die Vernichtung von Arbeitsplätzen im Ruhrbergbau stand die Front der Solidarität. Allerdings zu spät…

Für Samstag, dem 28. Oktober 1967, setzten die Vertrauensleute im Wanne-Eickeler Astoria-Filmtheater eine außerordentliche Belegschaftsversammlung an, zu der auch ein Vertreter der Zechengesellschaft erschien. „900 Pluto-Bergleute warteten auf ihrer Belegschaftsversammlung Samstagmorgen im Astoria-Theater vergeblich auf Klarheit“, resümierte die Lokalpresse zwei Tage später. Der große Tumult, die gnadenlose Abrechnung, wie die Reklametafel des Kinos für den im Programm laufenden Film verkündete, blieb aus. Der Sprecher der Bergwerksgesellschaft wiegele zum hundertsten Mal ab und erging sich in Belanglosigkeiten. Er erklärte, dass der Zechenvorstand seine Bemühungen zunächst auf die Zeche Hansa konzentrieren wollte, weil in Dortmund das Problem der Ersatzarbeitsplätze wesentlich gravierender sei. Dr. Messerschmidt, der Sprecher der Unternehmerseite, verkündete großherzig, dass für die gewiss harte Konsequenz der Gesellschaft einzig und allein die Energiepolitik des Bundes verantwortlich sei.

Die Bergleute kommentierten diese dürftigen Mitteilungen mit beißendem Spott. Ein Kumpel stellte sich als Markennummer 1150 vor: „Wir haben bereits durch die Presse mehr erfahren als heute durch Herrn Messerschmidt.“

„1945, da waren die Aktionäre noch nicht da. Erst 1947 kamen die fetten Wanzen aus ihren Löchern heraus.“ – „Der Staat soll die Stilllegungsprämie nicht an die Zechen, sondern an die Kumpel zahlen.“ – „Man könnte meinen, dass die Zechenherren die armen Teufel sind.“

Enttäuscht verlassen die Bergleute der Zeche 'Pluto' das Astoria-Filmtheater, Repro Norbert Kozicki
Enttäuscht verlassen die Bergleute der Zeche ‚Pluto‘ das Astoria-Filmtheater, Repro Norbert Kozicki

Das waren Stimmen, die während der Belegschaftsversammlung zu hören waren. Einstimmig verabschiedeten die Kumpel eine Resolution, in der zum Protestmarsch nach Bonn aufgerufen wurde. Die Zuspitzung dieses politischen Konflikts im Revier stellte aber auch traditionelle Politikformen und -organisationen in Frage. Die SPD sowohl im Land als auch im Bund an der Regierung – und dennoch sollten Pluto und Hansa geschlossen werden. Die Arbeiter kehrten der SPD und der IG Bergbau den Rücken zu. Von Landtagsabgeordneten der SPD konnte man in jenen Tagen die Auffassung hören, dass einer neuen radikalsozialistischen Linkspartei im Augenblick nur das organisatorische Gerippe fehle. Bei einer weiteren wirtschaftlichen Abwärtsbewegung müsste man mit neuen linken politischen Kräften rechnen.

Die Radikalisierung der Arbeiter und Kumpel im Kohlenpott äußerte sich mit aller Vehemenz bei den Betriebsratswahlen im Frühjahr 1968 auf der Zechen Pluto. Ein sogenannter Bergarbeiterverband errang auf Liste Zwei insgesamt 6 Betriebsratssitze, während die offizielle Wahlliste der IG Bergbau nur noch auf 9 Mandate kam. Von 2.043 wahlberechtigten Bergleuten gaben 1.532 ihre Stimme ab. Davon entfielen auf die Liste der IG Bergbau 875 und auf die Liste des Bergarbeiterverbandes 657 Stimmen.

„Man sieht nicht die Leistungen der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie, sondern die nicht vorhandenen des Bergarbeiterverbandes“, kommentierte sichtlich geschockt der zuständige Bartsch aus Herne. „Es spielt zu viel mit. Die unsichere Lage. Niemand kann bis heute sagen `Pluto wird stillgelegt!´ Ferner spielt die Verbrüderung der Deutschen Angestelltengewerkschaft mit dem Bergarbeiterverband eine Rolle.“ Im historischen Rückblick erscheint die persönliche Ursachenforschung des Gewerkschaftsfunktionärs reichlich naiv, wenn Bartsch noch im Frühjahr 1968 behauptete, die Stilllegung der Zeche Pluto sei noch nicht beschlossene Sache.

Einer der Wortführer des Bergarbeiterverbandes auf der Wanner Zeche war Hermann Riedemann, Mitglied der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Riedemann kandidierte auf der so erfolgreichen Liste des Bergarbeiterverbandes. In einer Stellungnahme erklärte er: „Das überraschende Wahlergebnis beweist, dass die Belegschaft der Schachtanlage Pluto nicht länger gewillt ist, die Interessensgemeinschaft von Betriebsrat und IG Bergbau und Energie widerspruchslos hinzunehmen.“ Riedemann wurde vor der Wahl aus der Gewerkschaft ausgeschlossen.

Das Ergebnis der Betriebsratswahl auf der Zeche Pluto war ein Signal für die mittlerweile einsetzende Radikalisierung der Bergarbeiter. In einem Leserbrief an die Gewerkschaftszeitung „Einheit“ schrieb ein Bergmann: „Bei der nächsten Wahl wähle ich wie so viele meiner Arbeitskameraden die NPD.“ Horst Niggemeier, Chef des Gewerkschaftsblattes, nahm die Voraussage ernst: „Ich glaube nicht, dass die nur damit drohen, sie werden sie auch wählen.“ Groß war die Enttäuschung vieler Bergarbeiter über das Verhalten der SPD in Düsseldorf und in Bonn. Eins muss in diesem Zusammenhang gesehen werden: Zum Zeitpunkt der Proteste gegen die Schließung der Zechen waren bereits über zehntausende Bergleute arbeitslos.

Zum Ergebnis der Betriebsratswahl auf der Zeche Pluto bezog auch der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Heinz Westphal Stellung. Westphal brachte seine „persönliche Bedrückung“ zum Ausdruck, angesichts der großen Zahl der Stimmen, „…die für eine Liste mit NPD und DFU (Deutsche Friedensunion – d.Verf.) nahestehenden Kandidaten abgegeben wurde.“ Für ihn spiegelte diese Tatsache wieder, dass die Kumpel von Pluto noch immer nicht wussten, ob ihre Arbeitsplätze erhalten blieben. Die Bergarbeiter hätten dem bisherigen Betriebsrat eine Schlappe zugefügt, die er einfach nicht verdient habe, ergänzte Heinz Westphal.

In diesem Zusammenhang verwies er auf den vorbildlichen Einsatz des amtierenden Betriebsratsvorsitzenden Siegfried Baranowski und seiner Kollegen zur Verhinderung der Zechenschließung. Heinz Westphal hoffte, dass dieses für die Gewerkschaft so unerfreuliche Ergebnis der Betriebsratswahl die Bonner Politiker zu noch schnellerem Handeln in Sachen Einheitsgesellschaft antreibe.

Tatsächlich forcierten die Protestaktionen der Dortmunder und Wanne-Eickeler Bergleute entscheidend die politischen Bemühungen in Düsseldorf und in Bonn zur Gründung einer einheitlichen Bergwerksgesellschaft aller Zechen, die in der Form der Ruhrkohle Aktiengesellschaft realisiert wurde.

Norbert Kozicki

Quelle:

„Die Kinder von Karl Marx und Coca-Cola“, Banana Press Verlag Herne, 1990 und Ergänzungen