Schuhladen im Kirchturm ist einmalig

Der Campanile blieb als stummer Zeuge der Kirchengeschichte stehen, während der Rest des Gotteshauses Anfang der 70er-Jahre dem Neubau von St. Bonifatius weichen musste

Es gibt diese lustigen Wissenskategorien: 30 Dinge, die Sie nicht über Person X oder Stadt Y wussten. Wäre vielleicht mal eine Idee, so etwas für Herne zusammenzustellen. Ein Fakt, den die wenigsten Auswärtigen kennen dürften: dass es in Herne einen Kirchturm gibt, in dem ein Schuhgeschäft untergebracht ist. Das dürfte weit und breit einmalig sein. Ein Blick in die Geschichte.

Der Turm ist ein stummer, aber sehr sichtbarer Zeuge eines wichtigen Abschnitts der Herner Kirchenhistorie. Um das einordnen zu können, muss man zunächst sehr weit zurück blicken – bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals lebten nur wenige Katholiken in Herne – und die machten sich zum Gottesdienst auf den Weg nach Eickel. Dies änderte sich mit der Industrialisierung. Viele der Menschen, die zuwanderten, waren katholisch. Aus einer Notkirche an der Von-der-Heydt-Straße entstand die selbstständige Pfarrei St. Bonifatius.

Und die baute von 1872 bis 1874 die Bonifatius-Kirche. Allerdings verzichtete man zunächst auf den Bau eines Turms. 1888 fasste die Gemeinde den Beschluss, wegen des Wachstums die Kirche zu erweitern und einen Turm zu bauen. Die Kosten waren im Verhältnis enorm: Auf 80.000 Mark wurde die Investition beziffert. Schon zu Weihnachten 1889 wurde die Erweiterung eingeweiht, kurz zuvor waren drei Bronzeglocken eingetroffen.

Blick von der Behrensstraße auf die Kirche St. Bonifatius, um 1930, Foto Stadtarchiv Herne

Doch der Turm hatte von Anfang an ein ruhrgebietstypisches Problem: Bergsenkungen. Deshalb wurden schon im Jahr nach der Einweihung Stahlverstrebungen eingebaut, die dem Turm Halt gaben. Angesichts dessen scheint es fast ein bisschen überraschend, dass der Turm immer noch ein Blickfang an der Bahnhofstraße ist.

Heftige Diskussionen um Abrisspläne

Es hätte aber auch anders kommen können. Trotz aufwendiger Renovierungsmaßnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg kam 1967 eine Kommission des Erzbischöflichen Generalvikariats nach einer Ortsbesichtigung zu dem Ergebnis, dass „alle Gebäude einschließlich der Kirche abgebrochen und durch neue ersetzt werden sollen.“ Gerade angesichts der Tatsache, dass der neue Kirchenraum aus Beton bestehen sollte und nicht sakral aussah, gab es heftige Diskussionen. Und die gab es auch um den historischen Turm. Der stand zwar bereits unter Denkmalschutz, dennoch stand die Frage im Raum, ob er weichen soll. Als das neue Kirch- und Gemeindezentrum 1974 eingeweiht wurde, war über das Schicksal des Turm noch nicht entschieden.

Die Ruhr-Nachrichten, die damals noch eine Lokalausgabe in Herne unterhielten, hatten ihre Leser schon Weihnachten 1973 aufgefordert abzustimmen. Ein Wink in eine bestimmte Richtung gab es vom damaligen Stadtplaner Manfred Leyh in einer Diskussionsrunde. Er sagte: „Stellen Sie sich doch an der Bahnunterführung hin und schauen Sie die Straße hinauf. Denken Sie sich den Turm weg. Wie langweilig würde die Straße wirken.“ Das Ergebnis: Eine überwältigende Mehrheit stimmte für den Erhalt.

Der Turm wurde in die neue Ladenzeile integriert, die zum Haupteingang der neuen Kirche führt. In einer Festschrift von St. Bonifatius heißt es: „Das ergibt eine harmonische Abstimmung zu den angrenzenden Gebäuden der Bahnhofstraße, zugleich bleibt dem Kirchgänger der Anblick auf den unschönen Trakt des angrenzenden Kinos erspart.“ Zumal dieses Kino ein „sündiges“ Programm anbot.

1976 wurden die Pläne für die neue Ladengasse vorgestellt, ein Dortmunder Architekt hatte sie entworfen. In den oberen Geschossen sollten Büros eingerichtet werden. Und so könnte das Schuhhaus Schlatholt der einzige Einzelhändler sein, der seinen eigenen Campanile hat – denn das ist die Bezeichnung für einen frei stehenden Glockenturm. Im Jahr 2008 hat Schlatholt die Historie im Herner Geschäft sprichwörtlich freigelegt. Im unteren Teil wurde das Mauerwerk „abgeschält“ und das noch gut erhaltenen Eingangsportal aufs Neue sichtbar gemacht.

Ein Schuladen im Kirchturm, 2015, Foto Gerd Biedermann

Die Kombination Schuhhaus in Glockenturm sorgt nach wie vor für Erstaunen. „So habe ich das noch nie gesehen, dass ein Kirchturm erhalten blieb und drunter was anderes gebaut wurde“, heißt es in einem Interneteintrag. Und noch heute, schildert eine Mitarbeiterin, kämen Auswärtige ins Geschäft und wollten in den Kirchturm hinaufsteigen.

Tobias Bolsmann1

Anmerkung

  1. Der Text wurde am 03.04.2021 in der Herner Lokalausgabe der WAZ erstveröffentlicht. ↩︎