„Und dann kam der große Augenblick, in dem Jugendpfleger Grewe mit Tochter Dörte die Grundschritte des langsamen Walzers zeigte und die aufmerksamen Schüler plötzlich entdeckten, dass die Gedankenverbindung zwischen Kopf und Fuß nicht ganz funktionierte. Der Geist war willig, doch die Füße klebten an dem gutgebohnerten Parkett, gerieten durcheinander und schienen aus Holz zu sein“, berichtete der Chronist der Wanne-Eickeler Zeitung am 9. Januar 1956 über die seit längerer Zeit erste Tanzveranstaltung des Jugendamtes der Stadt Wanne-Eickel im eigenen Jugendzentrum Heisterkamp. Das Repertoire der Schallplattensammlung reichte von der Ouvertüre zu „Dichter und Bauer“ bis zum „Bösen-Buben-Boogie“, so der Originalton aus den 1950er Jahren.
Der aktive Jugendpfleger Grewe lud zum „Jugendgemeinschaftsnachmittag‘“ alle jugendlichen Heimbewohner und die Mitglieder der Jugendorganisationen ein. Programmatisch erklärte Grewe, die Linie der Volkstänze sollte verlassen werden, man widme sich in Zukunft mehr dem Gesellschaftstanz. Diese vom Jugendamt initiierten Tanzvergnügen besaßen für die Jugendgruppenleiter der Verbände den Charakter von Fortbildungsveranstaltungen. Grewe beabsichtigte eine „richtungsweisende Einstellung zum Tanzvergnügen“ zu vermitteln. Dieser produktive Umgang mit der „Methode Musik“ erscheint angesichts der Handhabung von Rockmusik in der späteren Jugendarbeit als geradezu revolutionär. Der Jugendpädagoge der 1980er Jahre erlittt einmal wöchentlich die nicht zu verhindernde Disco. Alle weiteren musikalischen Themen delegierten die Jugendarbeiter an die teilweise elitären Musikschulen.
„Bitte keine Klammergriffe, meine Herren“, gab der Jugendpfleger die moralische Devise des Tanznachmittages aus. Den langsamen Walzer demonstrierte er höchstpersönlich mit seiner Tochter Dörte. „Merken Sie sich, wenn dreihundert Paare auf einer Fläche von hundert Quadratmetern sich bewegen, kann man nicht mehr vom Tanzen, sondern nur noch vom ‚Vorwärtsrobben im Boogie-Schritt“ reden‘, klärte Grewe die über siebzig erschienenen Mädchen und Jungen auf. Tango, Foxtrott und Boogie standen weiter auf dem Programm. Der Vorschlag des Jugendpflegers, diese Tanzveranstaltungen möglichst jeden Sonntag anzubieten, fand bei der Wanne-Eickeler Jugend stürmische Zustimmung. Grewe stellte in Aussicht, in etwa vierzehn Tagen die Schallplattensammlung durch ein kleines Jugend-Tanz-Orchester zu ersetzen.
Das Wanne-Eickeler Jugendamt reagierte mit dieser Angebotsform der Jugendarbeit auf großformatige Presseberichte, die für einen verstärkten Jugendschutz im Karneval polemisierten. Von Zeit zu Zeit kontrollierten die staatlichen Ordnungshüter die Tanzkneipen, um die Wirte an die Bestimmungen des Jugendschutzgesetzes zu erinnern. Die Wirte begrüßten offiziell diese polizeilichen Aktivitäten, weil „es könnte ja immer wieder mal passieren, dass sich Jugendliche bei Mitternachtsbällen einschlichen“. Die sogenannten Halbstarken-Krawalle der Jahre 1956-1958, die bei Rock´n´Roll-Veranstaltungen zu beobachten waren, ließen die Wellen der Diskussion um das Thema „Jugendschutz“ hochschlagen. Im Sommer 1956 gipfelten diese öffentlichen Diskussionen in einer großen Bundestagsdebatte zum „Halbstarken-Problem“.
Im Sommer des Jahres 1956 änderte der Gesetzgeber die Straßenverkehrsordnung: die Benutzung von Mopeds und Motorräder zum ziellosen „Durch-die-Gegend-Fahren“ wurde behördlich verboten. Das Adenauer-Deutschland reagierte auf die neue Mobilität der Jugendlichen via Kreidler oder NSU-Quickly. „Man kann nicht gerade behaupten, dass Mopedfahrer unter den übrigen Verkehrsteilnehmern sehr beliebt sind“, stellte die Wanne-Eickeler Zeitung fest, als sie über den Winterplan des Jugendamtes großformatig berichtete. Es war die Zeit, als Mopedfahrer noch keine Fahrprüfung ablegen mussten. In den Spalten der Verkehrsberichterstattung häuften sich dramatisch die Meldungen über Unfälle mit Mopedbeteiligungen. Der Regierungspräsident forderte die Jugendämter zur Ausbildung junger Moped- und Radfahrer auf. Verkehrswacht und Berufsschule entwickelten ähnliche Pläne.
Mit dem veröffentlichten Winterprogramm reagierte das Wanne-Eickeler Jugendamt auf diese aktuellen Probleme. Neben den Angeboten wie Volks-, Jugendgemeinschafts- und Gesellschaftstanz formulierten Grewe und seine Leute die aufreizende Frage: „Sollen Männer Geschirr spülen?“ Hinter dieser für die 1950er Jahre revolutionären Frage versteckten sich die neuen Ehekurse für junge Frauen und Männer.
Pädagogisch ausgebildete Erwachsene vermitteln „praktische Hinweise für das künftige Familienleben“. Wer vielleicht vermutete, hier würde es um die Aufhebung der traditionellen Arbeitsteilung von Frauen und Männern gehen, der irrt gewaltig. „Die Mädchen erfahren etwas über Schönheits- und Gesundheitspflege, Haushalten, geschmackvolle Heimgestaltung, das erste Kind und Erziehungsaufgaben beim Säugling. Für die jungen Männer heißen die Themen ´Was muss ich als Haushaltsvorstand vom Umgang mit Kassen, Versicherungen und Behörden wissen?´, ´Meine Frau ist krank – was koche ich und wie?´“ formulierte man im Programmheft des Jugendamtes.
Weitere Angebote im Winterhalbjahr 1956/1957: ein Tanzfest im Jugendheim, ein Abend festlicher Hausmusik, ein Jugendwettbewerb, eine Begegnung mit französischen Jugendlichen, die Feier zum „Tag des Baumes“, ein Klassensprechertreffen und ein Jugendgemeinschaftsnachmittag für Entlassungsschüler. „An Möglichkeiten zur sinnvollen Freizeitgestaltung sollte also in den kommenden Monaten kein Mangel herrschen“, resümierte die Lokalpresse sechs Wochen vor „Rock Around The Clock“, als die Roch´n´Roll-Welle die Wanne-Eickeler Jugendlichen erfasste. Aber bereits einen Tag nach der Veröffentlichung des zitierten Programmheftes erhielt die lokale Öffentlichkeit schlagartig ihre „Halbstarken-Problem“.
„Jugendliche Bande warf Schüler ins Wasser“, so die reißerische Titelzeile in der Lokalpresse. „Auch in Wanne-Eickel tritt das Halbstarken-Problem in ein kritisches Stadium! Am Dienstagabend gegen 21 Uhr rotteten sich im Wanner Stadtgarten etwa zehn Jugendliche zusammen und griffen einen 18jährigen Gymnasiasten an. Sie schlugen auf ihr Opfer ein und warfen es schließlich in den Stadtgartenteich.“ Das Opfer, der Gymnasiast, rettete sich aus dem siebzig Zentimeter tiefen Teich ans Ufer und erstattete gleich Strafanzeige auf dem 22. Revier an der Wilhelmstrasse. Im Laufe des nächsten Vormittags ermittelte die Polizei fünf Übeltäter, sämtlich Jugendliche aus Wanne-Eickel. Nach erfolgreicher Festnahme führte man sie dem Haftrichter vor. Ihnen drohte ein Verfahren wegen Landfriedensbruch.
So rau waren die juristischen Sitten in den 1950er Jahren, wenn Arbeiterjugendliche Gymnasiasten verprügelten. Der klassenpolitische Instinkt der Strafverfolgungsbehörden funktionierte. Ein lokales Nachrichtenorgan assistierte bereitwillig, im Interesse eigener Umsatzsteigerungen: „Der Vorfall zeigt, dass man ohne energisches Einschreiten gegen derartige Halbstarken leider nicht mehr auskommt. Es handelt sich in diesem Fall um mehr als einen Dummenjungenstreich. Wenn ganze Banden Halbwüchsiger sich zusammenrotten und in unmittelbarer Nähe eines Polizei-Reviers Spaziergänger angreifen, scheinen sie darauf zu bauen, dass man ihnen im Grunde nichts anhaben kann. Den Rowdies das Gegenteil zu beweisen, wäre Aufgabe der Justiz.“
Leider konnte über den Fortgang des Verfahrens nichts mehr in Erfahrung gebracht werden.
Die schlagzeilenträchtige Aktualität des Halbstarken-Problems bei Arbeiterjugendlichen veranlasste die schreibende Zunft zu Lobeshymnen auf die bürgerliche Jugend, wenn diese den von pädagogisch interessierten Erwachsenen aufgestellten Bahnen folgten. Zwölf Obertertianer machten Schlagzeilen: sie engagierten sich in der Wanne-Eickeler Volkshochschule. Während etliche Arbeitsgemeinschaften ausfielen, fand der Kursus „Ein Hörspiel machen“ regen Zuspruch. Der Kursleiter, Studienrat Dr. Joswig, vertröstete die erschienen drei Mädchen, denn er brauchte ein Dutzend Jungen für die Hörspielproduktion. Er wählte die handfeste Komödie „Herr Peter Squentz“ von Andreas Gryphius aus. „Die ganze Arbeitsgemeinschaft wäre übrigens diese ausführliche Würdigung nicht wert, wenn sie nicht mehr repräsentierte als irgendeinen anderen Lehrgang“, gewichtete der Lokalreporter unter der Zwischenüberschrift „Halbstarke…“ seinen Artikel. Er zitierte Studienrat Dr. Joswig, der lächelnd von „seinen Halbstarken“ sprach, die sich alle „im gefährlichen Alter“ befanden. Diese Arbeitsgemeinschaft war der angebliche Beweis für phantasievolle Ansprache von Jugendlichen, aus denen dann „prachtvolle junge Menschen“ wurden, die „über diese noch andere Freude bereiten“.
Ein weiteres Beispiel für die angebliche Barbarei unter den Arbeiterjugendlichen lieferte der Öffentlichkeit der Prozess vor dem Bezirksschöffengericht gegen fünf Jungbergarbeiter im Alter zwischen 18 und 21 Jahren. Wegen räuberischer Erpressung und Nötigung verurteilte das Gericht diese fünf zu sieben bis zehn Monaten Gefängnis, wobei die Untersuchungshaft mitangerechnet wurde. Nun zu den Hintergründen: alle fünf arbeiteten erst seit dem Monat März 1956 auf der Zeche Unser-Fritz, nachdem sie in den Westen kamen und „ihre Freiheit in erschreckender Weise missbrauchten“. An einem lauen Spätsommerabend leisteten sie sich „eine Palastrevolution“ im Ledigenheim an der Dorstener Straße. Während einer Fete ging ihnen gegen 22 Uhr bereits das Bier aus. Als sie hörten, dass der Kollege S. von der Mittagsschicht heimkehrte, bedrängten sie den Mitbewohner, er möge eine Kiste Bier springen lassen. Als er sich weigerte, gab ein Wort das andere. Die Beschuldigten „verdrehten dem Arbeitskollegen die Arme auf den Rücken und schlugen ihn“. So unter Druck gesetzt, unterschrieb Arbeitskollege S. eine Quittung, dass er „ohne jeglichen Zwang eine Kiste Bier an verschiedene Arbeitskollegen bezahlen wird“.
Am nächsten Morgen legten die fünf der 20jährigen Verkäuferin in der Zechenkantine die Erklärung vor. Man hatte immer noch Durst. „Nun fielen sie auch über das Mädchen her, drehten ihm die Arme derart auf den Rücken, dass es vor Schmerzen aufschrie“, stellte der Prozessbeobachter fest. Insgesamt leerten die Jungbergarbeiter zwei Kästen Bier an jenem Morgen. Nach diesem Vorgang verhaftete sie die Wanner Polizei, man überführte sie nach Bochum ins Untersuchungsgefängnis. Besonders vermerkte noch der Chronist, dass sie vor Gericht versuchten, ihre Handlungen zu bagatellisieren. Der Staatsanwalt rückte in seinem überaus lautstarken Plädoyer die Dinge wieder zurecht. „Diese Angeklagten sind wie Räuber zu bestrafen. Sie haben nicht das Gefühl für das, was sie aus der Gesellschaft der Anständigen ausschließt… Man könnte sich die Haare raufen, wenn man hört, dass diese jungen Burschen so viel verdienen, dass sie mit 25 Jahren eine eingerichtete Wohnung haben könnten, dass sie aber ihr ganzes Geld versaufen.“ Elf Jahre nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus mit seinem justiziablen System der sogenannten Volksrichter konnte es sich dieser Anklagevertreter erlauben, diese jungen Menschen aus der Gesellschaft der Anständigen auszuschließen. Interessant für unsere Betrachtungsweise erscheint noch die Randbemerkung, dass zwanzig Gymnasiastinnen im Rahmen ihres Rechtskundeunterrichts den Prozessverlauf beobachteten, die beim Vortrag des aggressiven Staatsanwaltes „erschrocken ihre Köpfe einzogen, als säßen sie mit in der Anklagebank“. Im Jahre 1956 fällte das Bezirksschöffengericht etliche drakonische Urteile gegen Arbeiterjugendliche, die in Konflikt mit dem Strafgesetz gerieten.
Im Jahre 1956 ereigneten sich mehrere für die Jugendlichen relevante Vorgänge: die Aufstellung erster Bundeswehreinheiten und die allgemeine Wehrpflicht, Verbot der kommunistischen Partei und ihrer Jugendorganisation, das Wirtschaftswunder auf dem Höhepunkt.
Die Kommunisten verfügten als Arbeiterpartei traditionell über einen starken Rückhalt im Ruhrgebiet. Der erste Wanne-Eickeler Oberbürgermeister nach 1945 hieß Wilhelm Heimüller und war Mitglied der KPD. Aufgrund bestimmter politischer Entwicklungen schmolz der Massenanhang der KPD dahin. Adenauer brachte gegen eine arg dezimierte kommunistische Partei den Verbotsantrag durch. Am 17. August 1956 illegalisierte das Bundesverfassungsgericht die Partei. Die Jugendorganisation, Freie Deutsche Jugend, erlebte bereits 1951 ihre Auflösung. Als Vorwand des Parteienverbots diente den Verfassungsschützern das sogenannte Herner Programm der KPD von 1948, das zum Inhalt die revolutionäre Veränderung der kapitalistischen Gesellschaft hatte.
Nach dem FDJ-Verbot ging die kommunistische Jugendarbeit auch in Wanne-Eickel in den Untergrund. Im Stadtteil Bickern warben Altkommunisten über Flüsterpropaganda für ihre Bildungsveranstaltungen, die in Privatwohnungen abgehalten wurden. Genosse Helmut zeigte den Ernst-Thälmann-Film in seinem Wohnzimmer, drei Jahre nach der Verkündigung des Grundgesetzes, an dem die Kommunisten konstruktiv mitwirkten.
In den 1950er Jahren, wie z. B. am 30.04.1956, sang die organisierte Wanne-Eickeler Jugend den Mai ein. Trotz Regenwetters besuchte eine stattliche Anzahl von Wanne-Eickelern die Veranstaltung auf dem Steinplatz in Wanne-Süd. Zu Beginn musizierte der Instrumentalkreis der Zeche Shamrock 3/4. Ewald Brenne, Vorsitzender des DGB-Ortsjugendausschusses begrüßte alle Kundgebungsteilnehmer. Brenne betonte, dass dieses Jahr schon zum sechsten Mal die Jugendverbände des DGB, der Falken, der Naturfreunde und die „Deutsche Jugend des Ostens“ den Mai einsingen. Nicht nur Lieder und Volkstänze sollte man erleben, sondern auch an die politischen Ziele der demokratischen Jugend denken. Der Jugendsekretär vom Hauptvorstand der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie ging in seinem Referat auf diese Ziele ein. Er erinnerte die Jugendlichen an die Kampfzeit der Arbeiterklasse, denn die heutige Jugend erfährt die „Vergünstigungen im Berufsleben als Selbstverständlichkeit“. Die Arbeiterschaft hätte alle sozialpolitischen Errungenschaften hart erkämpfen müssen. Wörtlich führte er aus: „Die Jugendlichen hätten keine Opfer zu bringen brauchen, um etwa einen geregelten Urlaub zu erhalten“.
Der 1. Mai 1956 stand im Zeichen des gewerkschaftlichen Kampfes für die 40-Stunden-Woche und für ein fortschrittliches Jugendarbeitsschutzgesetz, denn im Jahre elf nach der Befreiung vom Faschismus herrschte noch immer das betreffende NS-Gesetz. Am nächsten Tag sah der auf dem Steinplatz errichtete Maibaum eine für heutige Verhältnisse riesige 1. Mai-Kundgebung, an der „die Jugend, trotz Regenwetters, in stattlicher Anzahl teilnahm.“ Der Hauptredner dieser Kundgebung, Edmund Duda, Sekretär im Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes, hob den Charakter des 1. Mai-Tages hervor, der ein Tag des Kampfes sei. Die gute wirtschaftliche Situation verführte einige zu der Vorstellung, „als gäbe es keine Ziele mehr, für die einzusetzen es sich lohne.“ Edmund Duda sprach weiter von der sich anbahnenden Revolution des Arbeitslebens, in dem durch die Technik mit geringeren körperlichen Anstrengungen die Produktivität erhöht würde. Beide Probleme stellen sich in den 1980er Jahren wieder: die technologische Veränderung stellte alle soziale Beziehungen und politischen Ziele in Frage.
Für den 1980er Zeitgenossen ist die charakteristische Form der 1. Mai-Veranstaltung interessant, die noch die Betriebs- mit der Stadtteil-Öffentlichkeit verband. In insgesamt elf Marschsäulen zogen die Gewerkschafter zum Steinplatz. Die Treffpunkte bildeten die einzelnen Betriebe und Zechenplätze, von wo aus die Kolleginnen und Kollegen über festgelegte Routen zum Steinplatz marschierten. Der 1. Mai als Gewerkschaftstag wurde so für viele Menschen spürbar und sichtbar, als die politisch bewussteren Arbeiterinnen und Arbeiter unter ihren Fenstern vorbeizogen.
Rund tausend Wanne-Eickeler Jugendlichen schlug am 1. April 1957 das Herz etwas schneller. Für sie begann der erste Arbeitstag. „Das Leben in einer Welt der Leistung“. „Erfahrene Betriebsmitglieder nahmen sich ihrer jungen Kollegen an und führten die Jungen und Mädchen behutsam in ihre künftigen Wirkungsbereiche ein“, berichtete der Chronist.
Für Karl-Heinz Josefiak begann der erste Arbeitstag mit einem Schreck in der Morgenstunde. Der 13-Jährige war von seiner neuen Würde als Druckerlehrling der Wanne-Eickeler Zeitung so beeindruckt, dass er in der Nacht zum Montag zuerst keinen Schlaf finden konnte – und anschließend das pünktliche Aufstehen verschlief. Als Karl-Heinz aufwachte, gab es eine fürchterliche Hetze und drei Minuten nach dem allgemeinen Arbeitsbeginn fand sich der neue Lehrling in der Druckerei ein.
„Obermaschinenmeister Kalkhoff nahm die Verspätung bestimmt nicht so tragisch wie sein jüngster Stift, der über dieses Debüt ganz unglücklich war“, amüsierte sich ein wenig der Kollege aus der schreibenden Abteilung. Karl-Heinz kam aber schnell auf andere Gedanken, als er als erste Lehrhandlung die große Schnellpresse reinigen durfte. Anschließend passte er am Heidelberger Tiegel auf, dass sich die frisch gedruckten Etiketten ordentlich stapelten. Die richtige Druckereiarbeit hatte sich der 13-jährige Karl-Heinz anders vorgestellt. Auf die Frage, warum er sich der „schwarzen Kunst“ widmen möchte, antwortete der junge Wanne-Eickeler: „Ich glaube, dass diese Arbeit nie langweilig wird.“
Ein weiterer Jünger der schwarzen Kunst machte in einem technischen Betrieb der Wanne-Eickeler Zeitung seine ersten Gehversuche: Hans Erhard Ploner (14) wurde als Setzerlehrling eingestellt und bemühte sich krampfhaft, hinter das System zu kommen, nach dem die Buchstaben in die Schriftkästen eingeordnet wurden. Mit dem in der Schule erlernten Alphabet war da nicht zu machen. Zu allem Überfluss schickten ihn seine älteren Arbeitskollegen noch zweimal in den April.
Kino, Sport und die neue heiße Musik standen in der Hitparade der Freizeitbeschäftigungen an erster Stelle. „Jeden Sonntag um 18 Uhr hieß die Devise ab ins Kino, ab ins Union“, erinnert sich der frühere Berglehrling Friedhelm Kozicki. „Wenn Lohntag war, trafen sich alle Lehrlinge der Zeche Wilhelm im Cafe Steinmetz an der Hauptstrasse zum Kuchenessen. Manchmal wurde zusammengeschmissen, eine Kuchenplatte gekauft und im Union aufgefuttert“.
Das wirtschaftliche Filmjahr endete mit dem Monat September im Jahr 1956. Die Wanne-Eickeler Lichtspieltheater waren mit dem Kassenabschluss sehr zufrieden. Jährlich liefen über fünfhundert Filme in den Wanne-Eickeler Kinos, wöchentlich zwei Filme pro Theater. Ihre Namen: Astoria, Atrium, Lichtburg, Lito, Rex, Regina, Kammerspiele, Corso, Union. Die Bestseller des Jahres waren „Die Saat der Gewalt“ mit der Titelmusik „Rock Around The Clock“ von Bill Haley und seinen Kometen. „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ mit James Dean in der Hauptrolle. „Schöne Mädchen, süß a la Brigitte Bardot, schmollend und grazil verführerisch, sind die beste Reklame für einen Film“, stellte Fräulein Grünewald von den Kammerspielen fest.
In den Jahren nach 1955 engagierten sich die Geschäftsführer der Wanne-Eickeler Filmtheater nicht nur im Filmgeschäft. Die rapide steigenden Umsatzzahlen der Schallplattenindustrie nach der Erfindung der Rockmusik veranlasste die Manager, in ihren Kinosälen Musikveranstaltungen zu organisieren. So drehte sich am 9. Oktober 1956 das Schlagerkarussell im Union-Theater mit Rudi Schuricke, der die Capri-Fischer berühmt machte. Zwei Monate später stieg der heitere Jahresausklang mit der fröhlich lachenden Funk-Star-Parade mit Rene Carol, Liselotte Malkowsky, Rene Körner, Kurt Rolf Thelen und vielen anderen mehr.
Das Astoria-Filmtheater unter der Leitung seines Geschäftsführers Dr. Carl Jacobi stand dabei nicht zurück. Es gastierten die „Wiener Sängerknaben“, Willy Millowitsch, Peter Frankenfeld und Lonny Kellner mit der durchs junge Fernsehen bekanntgewordenen Sendung „1:0 für Sie“. Im Jahre 1957 jammte kein Geringerer als die Jazz-Größe Bill Coleman mit seiner Band auf der Bühne des Wanne-Eickeler Lichtspieltheaters. Nach Mitternacht setzte man die Jam-Session im benachbarten Germania-Hotel an der Hauptstraße unter Beteiligung der heimischen Musiker fort. Mit von der Partie waren unter anderem: Heinz Oelmann von der späteren „Jazz-Wanne“ und Hans Dieter Verhülsdonk vom „Modern Rhythm Quartett“.
„Elvis Presley verdrängt Bibi Jones“ lautete die Schlagzeile Mitte des Jahres 1957 über die Situation auf dem Schallplattenmarkt. Beruhigend nahm der Chronist der schreibenden Zunft die Entwicklung zur Kenntnis, dass sich die Zeit der Heimatschnulzen ihrem Ende zuneigt. Statt „Försterliesel“ oder „Heideröslein“ machte sich ein anderer auf dem Wanne-Eickeler Schallplattenmarkt breit, „der hüftenwackelnde, kaugummilutschende Elvis Presley, der mit seinen Urwaldlauten vor allem die Jugend in helles Entzücken versetzt.“ Auf der Beliebtheitsskala deutscher Popmusik kletterte Freddy Quinn auf den ersten Platz mit seinem Titel „Heimweh“, gefolgt von Vico Torriani, Caterina Valente und Peter Alexander. Dagegen fielen Bibi Johns, Gitta Lind, Rudi Schuricke und Rene Carol in Ungnade beim Wanne-Eickeler Publikum. Ob das bei den Letztgenannten mit ihren Auftritten im Wanner Union-Theater zu tun hatte?
Norbert Kozicki
Quelle:
„Als wenn Elvis nach Wanne käme…“, Banana Press Verlag Herne, 1988