Wenn man heute ein Einschreiben aufgeben oder ein Paket abholen möchte, erledigt man das häufig auf der Post an der Bebelstraße, die für viele Hernerinnen und Herner noch als Hauptpostamt gilt. Das war vor mehr als 100 Jahren noch ganz anders. Wer damals seine Postangelegenheiten erledigen wollte, ging zu dem am 01. Juli 1895 bezogenen Kaiserlichen Postamt an der Bahnhofstraße, Ecke Fabrikstraße, ganz in der Nähe des Herner Bahnhofs. Davor befand sich ein paar Häuser weiter, im sogenannten Meinhardtschen Haus, eine Postnebenstelle, eröffnet im Jahr 1868. Dieses Gebäude steht noch, heute befindet sich eine Spielhalle darin. Schlechter ging es dem alten Postamtshaus, nachdem die Behörde am 26. September 1910 in dem Neubau an der Kaiser-Wilhelm-Straße, der jetzigen Bebelstraße zog. Das seinerzeit eigens für Postzwecke auf dem Gelände des Kaufmanns Otto Seher errichtete Gebäude wurde Jahre später abgerissen. Das Haus selbst war ein aus harten Ziegelsteinen errichteter zweistöckiger Bau mit Hochparterre. An der Ecke, da wo die Fabrikstraße in die Bahnhofstraße mündet, fand sich ein repräsentativer Turm mit Uhr.
Auch das Gesicht des Herner Bahnhofs zeigte sich zu jener Zeit ganz anders. Die Schienenführung des am 15. Mai 1847 eröffneten Bahnhofs „Herne-Bochum“ der Köln-Mindener-Eisenbahn verlief ebenerdig und trennte die Bahnhofstraße bei geschlossenen Schranken. Um den Fußgängern trotzdem eine Überquerung zu ermöglichen, wurde eine hölzerne Fußgängerbrücke errichtet. Der Baukauer Schriftsteller Robert Grabski berichtete von Kindern, die von der Holzbrücke aus in den Schornsteinen vorbeifahrender Züge spuckten. Auch hatten sie Spaß daran, ihren Kopf in den dichten Dampf und Qualm zu halten. Der Spaß fand allerdings spätestens zu Hause ein Ende, denn die Spuren im Gesicht und in der Kleidung sorgten bei den Eltern nicht für Erheiterung.
Je mehr die Industrialisierung voranschritt, desto länger blieben die Schranken unten. Schon 1908 befuhren täglich 69 Personen- und 312 Güterzüge die Strecke. Von 60 Minuten verhinderte der starke Zugverkehr 40 Minuten lang die direkte Überquerung der getrennten Bahnhofstraße. Ertönten die Bahnglocken, die das Nähern eines Zuges anzeigten, rannten die Menschen so schnell wie möglich, um eben noch durchzuschlüpfen, bevor die Schranken sich wieder einmal schlossen. Durch das stärker werdende Verkehrsaufkommen wurde es immer notwendiger, den Bahnhof höherzulegen bzw. zu untertunneln. Die Fertigstellung mit neuem Bahnhofsgebäude erfolgte 1914. Nun ging man ungehindert unter die Bahnanlagen durch. Auf dem Gelände des ehemaligen Postamtes und dem sich anschließenden Gebäude, in dem sich früher das Hotel „Tante Anna“ und dann der „Wienerwald“ befanden, steht nun ein Ärzte- und Apothekerhaus.
Gerd Biedermann