„Als wenn Elvis Presley nach Kumpmann kam…“ oder „Rocken konnten wir als erstes…“

Rock´n´Roll -Stadtmeisterschaften während der fünziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts

Samstag, 31. Oktober 1987:  Rock´n´Roll-Tanzweltmeisterschaften in Wanne-Eickel. Als an diesem Samstagabend die Tanzformationen in die Sporthalle Wanne-Süd einmarschierten, hat sich wohl niemand an die Zeit erinnert, als die heißen Rhythmen noch neu waren und die Jugendlichen im Kohlenpott begeisterten, die Eltern eher erzürnten.

„Wenn Kutte Widmann mit seiner Band irgendwo auftrat, war das so, als wenn Elvis Presley nach Kumpmann kam,“ erinnern sich Günter und Helga Robatschewski von der Gelsenkircher Straße in Wanne-Eickel. Beide sind in der Gaststätte Kumpmann am Steinplatz in Wanne-Süd vor mehr als sechzig Jahren zu den Stadtmeistern im Rock´n´Roll gekürt worden. In der Gaststätte Kumpmann veranstaltete der Wirt regelmäßige Tanzwettbewerbe, um die inoffiziellen Stadtmeister des Rock´n´Roll zu ermitteln.

Der ehemalige Bergmann und seine Ehefrau lernten sich auf der Tanzfläche kennen. Trotz der wilden Sache Rock´n´Roll und der heißen Musik ging es betont höflich zu. Mit der Auffordeung „Darf ich bitten ?“ eilten die Tanzpartner auf das Rock´n´Roll-Parkett.

„Also, ich muss vorausschicken, ich konnte überhaupt nicht tanzen, als ich ihn kennenlernte. Als er mich dann einmal zum Tanzen holte, guckte er mich groß an und fragte mich: ´Mein Gott, was bist du denn für ein Stockfisch ?´“, beginnt Helga Robatschewski ihre Erzählungen. Zum Glück hatte sie eine tanzbegeisterte Freundin, die ihr alle wichtigen Tänze beibrachte.

Helga und Kurt Robatschewski in Aktion, Foto Norbert Kozicki
Helga und Günter Robatschewski in Aktion, Repro Norbert Kozicki

Viermal in der Woche waren die Robatschewskis in Sachen Boogie-Woogie unterwegs: mittwochs im „Tiergarten“ in Gelsenkirchen, donnerstags bei „Mehring“ in Bismarck, samstags bei „Kumpmann“ in Wanne-Süd und sonntags in Erle in der „Apachenhöhle“.

„Wo heiße Musik war, da ging das dann los,“ erinnert sich Günter Robatschewski über das Rock´n´Roll-Fieber in den fünfziger Jahren. Erste Bekanntschaft mit der heißen Musik machte er auf der Cranger Kirmes, die für die Jugendlichen damals die zentrale Rolle spielte: an der Raupe und den Musikfahrgeschäften hörte man die neueste Musik aus Amerika und Großbritannien, die sonst nur von den Soldatensendern gespielt wurde. „Wir trafen uns an der Raupe unter den Lautsprechern, haben uns die heiße Musik angehört und fingen dort an zu wirbeln,“ erzählt Günter, der während dieser Zeit als Berglehrling auf der Zeche Pluto arbeitete. Dort verdiente er in zehn Tagen zwanzig Mark, so dass er dankbar das Angebot eines Schaustellers annahm, auf der Raupe den Stimmungsmacher für täglich 5 Mark zu spielen. Wenn kein Betrieb an der Raupe war, legte Günter oben an der Kasse eine flotte Sohle aufs Parkett, zum Vergnügen vieler Kirmesbesucher, die dann zur Raupe strömten. Die Raupe bildete nicht nur den Treffpunkt für Arbeiterjugendliche. Auch Rock´n´Roll besessene Studenten kamen hierhin und übersetzten für die anderen die Texte der neuen Stars. Berglehrling Günter Robatschewski lernte seinen ersten Hot-Schritte von einem dieser musikbegeisterten Jungakademikern. Die Raupe war während der fünfziger Jahre so etwas wie der Schmelztiegel der unterschiedlichen Jugendkulturen.

Überall schossen die Rock- und Hot-Clubs wie Pilze aus dem Boden, als der neue Rhythmus die Jugendlichen erfasste. Die Gaststätte Becker an der Ecke Rathausstraße und Dorstener Straße beherbergte einen der bekanntesten Hot-Clubs von Wanne-Eickel. Der Aktionsradius der Robatschewskis begrenzte sich nicht auf Wanne-Eickel. Wenn etwas los war, fuhr man nach Buer oder Recklinghausen, mit dem Zug versteht sich. Zu den bereits erwähnten anderen Treffpunkten war man zu Fuß unterwegs. Die Rock´n´Roller latschten etliche Sohlen durch, bis das Kleingeld reichte, um sich ein Moped oder gar ein Auto kaufen zu können.

„Die Tanzschulen waren in dieser Beziehung hochnäsig, ´So was wie Boogie-Woogie wird bei uns nicht geführt ´, hörte man damals in den Schulen,“ berichtet Helga Robatschewski. „Da jeder seinen persönlichen Tanzstil hatte, konnten die Tanzschulen ja keinen eigentlichen Tanz vermitteln.“

Die von den traditionellen Tanzschulen an den Tag gelegte Arroganz störte Helga wenig, denn die damaligen Teenager verspürten nicht den Drang, in die Tanzschule zu gehen. Ihr Parkett bildeten die überfüllten Musikkneipen, wo sie sich erfolgreich bewegen konnten. Die Pennäler, die ihre ersten Tanzschritte in den Tanzschulen erlernten, kamen nach und nach ebenfalls in diese Kneipen, um zur heißen Musik zu hotten.

Die Nackenrolle, Foto Norbert Kozicki
Die Nackenrolle, Repro Norbert Kozicki

Den Jugendlichen blieb keine andere Wahl, als ihr neues Freizeitinteresse selbst zu organisieren. Clevere Gastwirte stellten den Jugendlichen ihre Säle zur Verfügung. Einige ältere Stammgäste bildeten die Jury, die die einzelnen Tänze bewerteten. Die nicht immer fachkundigen Wettkampfrichter orientierten sich meistens an die Applausstärke des Publikums.

„Besonders Wert legten wir auf Harmonie und Beinarbeit, die Schmeißerei stand nicht so hoch im Kurs,“ resümiert Günter Robatschewski, wenn er seinen damaligen Tanzstil mit dem heutigen sportlichen Rock´n´Roll vergleicht. „Je krummer und persönlicher der Tanzstil, desto besser wurde das angesehen. Uns hat keiner etwas beigebracht, wir haben uns die Tanzfiguren und Schritte selbst angeeignet.“

Auf einen wichtigen Unterschied wiesen beide in diesem Zusammenhang spontan hin. Die Paare tanzten nicht in Sportbekleidung, sondern in „voller Montur“: sie in enganliegendem Kostüm mit Stöckelschuhen, er mit Anzug, Hemd und Krawatte.

Das neue Lebensgefühl dieser Jugendlichen dokumentierte sich auch in der Kleidung: Jeans mit breitem Umschlag, Ringelsocken, Schuhe mit Kreppsohle und das legendäre Samba-Hemd.

„Meine Fotos von früher zerriss meine Mutter,“ erzählt Günter zum Leidwesen des historisch-interessierten Interviewpartners. „Sie sagte, wer so rumlief wie du, der war einfach verrückt.“

Deshalb musste Günter sich erst einmal woanders umziehen, bevor er tanzen ging. Er erzählte von der Masche mit dem extrakurzen Mantel, der gerade den Hintern bedeckte. Solch einen Mantel durfte er nicht tragen. Wenn er auf Tour ging, zog er zunächst seinen normallangen Mantel an, den Mutter gekauft hatte. „Und dann haben sie mich gesehen und erzählten das meiner Mutter, ‚Du, ich hab deinen Sohn mit so einem Mantel gesehen.  Was? Mein Sohn, der hat gar nicht solch einen Mantel`, erwiderte meine Mutter.“

Etwas traurig berichtete Günter, dass sich die Eltern „allmählich an den Spaß gewöhnten“.

Die Krawatte spiele in jenen Tagen eine Schlüsselrolle beim Kreieren des persönlichen Tanzstils. Sie war kein Statussymbol, wie bei den heutigen Poppern oder Yuppies, sondern ein persönliches Ausdrucksmittel bei den entsprechenden Tanzfiguren: die Krawatte als Inszenierungsmittel.

„In einem solchen Musikstück gibt es immer einen Höhepunkt. Dann warste eben in Hochextase, da haste alles gegeben, wenn z.B. das Solo des Saxophons einsetzte. Du hast alles gegeben, was überhaupt drin war. Verstehste das ? Ich mein, du musstest ja deine Platte abwirbeln, dann musstest du immer dran bleiben. Du weisst, genau wie beim Fußballspielen, da haste mal Stellen, wo du mal Luft holen kannst. Das ist eine harte Nuss. Aber du weißt, als junger Bursche hat dir das nichts ausgemacht. Desto mehr Wirbel, desto besser geht die Rutsche“, beschreibt Günter heute seine frühere Einstellung zum Tanz.

Die männliche Frisur wurde mit Margarine zum sogenannten Entenschwanz mit Elvis-Locke gekämmt. „Wenn du am nächsten Tag drei bis vier Stunden unter Tage geschwitzt hast, war die Margarine ranzig“, amüsiert sich Günter. Bei seinen Arbeitskollegen von der Zeche Pluto kam er immer gut an. Das beweist auch die Anekdote über die Fete nach der bestandenen Knappenprüfung. „Die haben ja alle gehört, dass ich getanzt habe. Da musste ich einen auf die Fläche legen. Die wollten mal sehen, was ich da bringe. Das hat mir damals nichts ausgemacht. Geld in die Musikbox und dann einen getanzt. Da war ich immer gut angesehen“, erzählt Günter mit stolzem Unterton.

An zwei Musikkapellen der fünfziger Jahre erinnern sich beide spontan: an Kutte Widmann mit seinem Orchester und an die Musikgruppe „Cherries“, die häufig in der Gastätte Mehring in Gelsenkirchen-Bismarck gastierten. Das Musikrepertoire der „Cherries“ variierte von Walzer, Tango bis zur „heißen Musik“. Wenn die Stunde der „heißen Musik“ nahte, verkleideten sich die Bandmitglieder mit schwarzen Gummimasken. Dazu setzten sie sich breite Strohhüte auf und spielten lateinamerikanische Rhythmen bei abgedunkeltem Licht. Auf der Wand an der Rückseite der Bühne prangte ein Bild vom Zuckerhut aus Rio, „aber original“, wie die Robatschewski betonten. „Da waren die Kneipen immer voll. Da kamste um acht Uhr nicht mehr rein.“

Die Robatschewskis mit ihren ergatterten Preisen, Foto Norbert Kozicki
Die Robatschewskis mit ihren  Preisen, Repro Norbert Kozicki

Als Preis für den inoffiziellen Titel eines Stadtmeisters im Rock´n´Roll erhielt die Dame eine Tafel Schokolade und der Herr eine Flasche edlen Tropfens.

Dass es bei diesen Tanzturnieren nicht immer friedlich zur Sache ging, zeigte eine handfeste Auseinandersetzung in der Gaststätte Kumpmann nach einem Tanzwettbewerb. Nach der Entscheidung der Jury sollte ein Herner in Wanne-Eickel den ersten Platz belegen, womit das Wanne-Eickeler Publikum nicht einverstanden war.

Norbert Kozicki

Quelle:

„Als wenn Elvis nach Wanne kam…“, Banana Press Verlag, Herne, 1988