Kabarett in Wanne-Eickel – Die Wanzen und das Rendevouz mit der 10. Muse

Wanzenstiche sind gefährlich – ein Streifzug durch die Kabarett-Szene

„Hoch-zeiten des Kabaretts waren entweder Notstands- oder Wohlstandzeiten – Nichtmehr-Nochnicht-Intermezzi wie dem Gegenwärtigen geht das Kabarett am Stock.“ ( Klaus Budzinski in „Den Betroffenen betreffend“)

Die 1960er Jahre lassen Notstands- und Wohlstandszeiten zusammentreffen. Die Fress- und Konsumwelle rollte durch das Land. Im Bundestag peitschten Sozial- und Christdemokraten die Notstandsgesetze durch. Das Kabarett hatte Hochkonjunktur: Die Kabarettisten setzten ihre Impulse öffentlich in Szene.

Die Fernsehnation empörte sich maßlos, als die bundesdeutsche „Kabarett-Schnauze Nr. 1“ Wolfgang Neuss 1962 den neuen Volkssport „Fernsehen“ aufs Korn nahm. In einer überdimensionierten Annoncenkampagne verriet er 30 Stunden vor der Beendigung der damals sehr populären Kriminalserie „Das Halstuch“ den Mörder. 1966 sah sich der „Mann mit der Pauke“ der Pogromstimmung bundesdeutscher Saubermänner ausgesetzt. Neuss engagierte sich politisch, indem er Gelder für den Befreiungskampf des Vietcong sammelte. Diese Grenzüberschreitung musste er mit dem Parteiausschluss aus der SPD bezahlen. Sein Kommentar: „Wenn man nicht haargenau wie die CDU denkt, fliegt man aus der SPD raus.“

1965 brachte die große Koalition, bestehend aus CDU und SPD, im niedersächsischen Landtag eine Konkordats- und Schulgesetznovelle ein, die im nördlichen Bundesland zu vehementen Protestaktionen führte. Auf dem Höhepunkt dieser Protestwelle erlebten die Hannoveraner am 22. Juni 1965 Dieter Hildebrandt von der Münchener Lach- und Schießgesellschaft in der „großen kabarettistischen Konkordatsverkündung“.

Fernsehaufnahmen während der ‚1. Essener-Kabarett-Tage 1965‘, Stadt Essen, zur Veröffentlichung freigegeben, Repro Norbert Kozicki

Die Effizienz politisch-satirischen Kabaretts bekam die Sekretärin des Düsseldorfer Kom(m)ödchen“ im Oktober 1965 zu spüren. Unter zahlreichen Schmähbriefen, die alle im Zusammenhang mit kritischen Äußerungen über den ehemaligen Bundesminister Seebohm und der Tätigkeit sudetendeutscher Kreise in dem aktuellen Kom(m)öchen-Programm mit dem Titel „Prost Wahlzeit – wünsche wohl gewählt zu haben“ standen, befand sich auch ein mit einem nicht näher bestimmten Pulver ein vergifteter Brief. „Wer uns Sudeten-Deutsche angreift, wird erblinden“, drohte darin ein anonymer Neurotiker. Nach dem Öffnen des Briefes erkrankte die Sekretärin des Kabarett-Ehepaares Lorentz an einer Augenreizung.

Budzinskis Analyse der politischen Bewegungsgesetze des Kabaretts traf auch auf das Ruhrgebiet zu. 1968 fanden zwischen den Blockade-Aktionen gegen die Springerpresse nach dem Attentat auf Rudi Dutschke und den Ruhr-Protesten gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze in Essen die „4. Essener Kabarett-Tage“ statt. Die meisten der teilnehmenden Ensembles solidarisierten sich mit der außerparlamentarischen Opposition. Es herrschte die Überzeugung vor, dass nur umfassende politische Aktionen vom Flugblattverteilen bis zum Straßentheater ihren kritischen Ansprüchen genügen könnten. Die Programme der Kabarettisten sollten in Zukunft nur noch ein integrierter Teil innerhalb politischer Handlungsvollzüge sein. Man wollte nicht mehr in intimen Lokalen den Staat und der Regierung intim die Fehler vorrechnen, man wollte verändernd helfen. Diese Politisierung der Kabarett-Szene entwickelte sich außerhalb des offiziellen Festivals in Essen.

„Die Kabarettisten brachten ihr Publikum buchstäblich in Bewegung. Als arrivierte Protestsänger Dieter Süverkrüpp die Jung-Kabarettisten Floh de Cologne nach ihrem sex- und beatgeladenen Programm auf der Bühne ablöste, löste sich bald auch das Publikum auf. Viele gingen nach Hause, noch mehr auf die Straße. Süverkrüpp hatte zum Protestmarsch gegen die Notstandsgesetze aufgerufen. Über 200 Kabarettfreunde formierten sich und zogen spontan und gesittet in die Innenstadt“, berichtete die WAZ am 29. April 1968.

Die für den Protestmarsch benötigten Utensilien standen im Essener Jugendzentrum bereit: Transparente und Schilder mit politischen Losungen „Notstandsgesetze und Demokratie – unvereinbar“ und „Nicht das Grundgesetz ändern – die Politik ändern“. Der Protestmarsch der 200 Kabarettfreunde führte am Springer-Pressehaus in der Sachsenstraße vorbei. Am Hauptbahnhof endete die spontane Kundgebung.

„Sie sagten sich los vom herkömmlichen Kabarett und proklamierten und probten den Aufstand gegen ihre längst ergrauten geistigen Väter der professionellen Kleinkunst, bei denen sie formal das kabarettistische Laufen gelernt hatten. Sie legten die alten Vorbilder und Lehrmeister a la Kom(m)ödchen und Lach- und Schießgesellschaft kurzerhand aufs Sterbebett und ihre Hand an den Puls der alten Kranken“, diagnostizierte der Journalist Georg Krieger in seinem Artikel „Am Sterbebett der zehnten Muse“ im Rheinischen Merkur.

Im Programm der „Stichlinge“ las man:“Die zehnte Muse ist als Schutzheilige für das Kabarett zweifelhaft. Die Leichtigkeit, die dieser leichten Muse gern zugewiesen wird, führt zu einer Paralysierung der kritischen Funktion.“

Die Wanzen 1964 in typischer Kleidung : graue Melone und Flickenhemd. V.l.n.r. Peter Refke, Detlef Aktories, Doris Strunk, Reinhard Mertens und Friedrich Lengenfeld, Repro Norbert Kozicki

Die Abnabelung der Nachwuchsgruppen von den geistigen Vätern und Müttern führte jedoch zu der Fehleinschätzung, sie hätten die politische Funktion des Kabarettisten entdeckt. Der große Übervater Dieter Hildebrandt wäre da bestimmt anderer Meinung gewesen und zu Recht.

Zeit- und Augenzeugen dieser Kabarett-Tage waren die beiden Wanne-Eickeler Peter Refke und Friedrich Lengenfeld, die als Beobachter von der Stadt Essen eingeladen waren. Beide parodierten und persiflierten während der 1960er Jahre im literarischen Kabarett „Die Wanzen“. Ihr Urteil über die Kabarett-Tage 1968: “Die künstlerische Qualität ließ bis auf wenige Ausnahmen zu wünschen übrig.“ Peter Refke und Friedrich Lengenfeld vermissten bei dem Überangebot an politischem Kabarett literarisch Engagiertes. Beide gewannen den Eindruck, dass viele Vertreter innerhalb des studentischen Kabaretts an einer Ausbildung ihrer kabarettistischen Fähigkeiten nicht interessiert waren, sondern – so Peter Refke im Originalton – „…das Essener Treffen missbrauchen wollten“.

„Wir wären da in diesem Jahr fehl am Platze gewesen“, resümierte Friedrich Lengenfeld, wenn er über eine erneute Beteiligung der Wanne-Eickeler Wanzen am 68er Treffen nachdenkt.

Drei Jahre zuvor hatte das Jugendamt der Stadt Essen und der Essener Jugendkulturring zum ersten Mal die Kabarett-Tage durchgeführt. Das erklärte Ziel lautete damals: Amateure und Berufskabarettisten ins Gespräch zu bringen, um Grundsätzliches der zehnten Muse zu besprechen. Als professionelle Gesprächspartner waren in diversen Arbeitsgemeinschaften zu den Themen „Spiel“, „Team“, „Text“ und „Regie“ erschienen: Kai Lorentz, Leiter des Düsseldorfer Kom(m)ödchen, Rolf Ulrich, Texter und Regisseur der Berliner Stachelschweine, Volker Ludwig, Texter der Stachelschweine und des Bügelbretts, Klauspeter Schreiner, Texter der Münchener Lach- und Schießgesellschaft und Dr. Ilka Broll, die Chefdramaturgin der Städtischen Bühnen Essen.

Die Stadt Essen erließ bundesweit einen Aufruf für die Beteiligung am Festival, der nicht ungehört verhallte. Über 38 Kabarettgruppen bewarben sich. Auch die Wanne-Eickeler Wanzen schickten ihre Bewerbung mit Texten und Fotos nach Essen. Das Ensemble um Friedrich Lengenfeld besaß das notwendige Quentchen Glück, denn die Wanzen gehörten zu den 11 Gruppen, die für die Zeit vom 12. bis 14. Februar 1965 in die Ruhrmetropole eingeladen wurden. Insgesamt besuchten über 1.700 zumeist junge Menschen die Veranstaltungen an den drei Tagen der „1. Essener Kabarett-Tage“. Diese Popularität des Kabaretts zeigte, welche Breitenwirkung dieses Medium in den 60er Jahren im Revier hatte. „Politisches Kabarett in der Bundesrepublik gibt es nicht nur in Berlin, Düsseldorf und München“, resümierte Günther Verheugen in seinem Artikel „Junge Jünger der zehnten Muse“ in der Neuen Ruhr Zeitung.

Die drei Gründungs-Wanzen Links Friedrich Lengenfeld, oben Peter Refek, unten Detlef Aktories, Repro Norbert Kozicki

„Die Verantwortlichen des Essener Jugendamtes und des Kulturrings Essener Jugend konnten deshalb nach drei Tagen Kabarett und zwei durchdiskutierten Nächten beruhigt aufatmen. Die Amateure und die zur ihrer Belehrung anwesenden Profis fragten sich übereinstimmend, warum diese Idee nicht schon früher verwirklicht wurde. “Volker Ludwig, Texter der „Stachelschweine“ und des „Bügelbretts“, bilanzierte: „Man sollte Amateurkabarett ernst nehmen“.

„Die Amateurkabarettisten, die sich in Essen ein Stelldichein gaben, waren von Haus aus Schüler und Studenten, Arbeiter, Volontäre und Angestellte bei kommunalen und staatlichen Behörden, bei Industrie- und Wirtschaftsbetrieben, Techniker, Handwerker, Kaufleute. Es waren Sekretärinnen, Stenotypistinnen, Assistenten, Verkäuferinnen, Studentinnen, Post- und Bankangestellte, auch Mediziner, Juristen und Finanzbeamte waren darunter“, konnte der schreibende Kollege der Springerzeitung Die Welt aufzählen, als er in einem groß aufgemachten Vierspalter über die „1.Essener Kabarett-Tage“ berichtete.

„Das Jugendamt der Stadt Essen organisierte das Festival schon doll“, schwärmt heute noch Friedrich Lengenfeld. Beide deutschen Fernsehanstalten erschienen mit ihren Kamerateams. Dazu gesellten sich fünf verschiedene Redaktionen der Rundfunkanstalten. Das Interesse der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten an den kulturellen Veranstaltungen im Kohlenpott war nicht immer so groß.

„Vorher hatten wir nur eine begrenzte Öffentlichkeit für das Kabarett. Der Westdeutsche Rundfunk zeigte wenig Interesse an dem Ruhrgebiet. Die einzige Chance für die öffentliche Präsentation des Kabaretts erhielten wir von den kulturbeflissenen Chefredakteuren der Lokalpresse. Diese Unterstützung war einfach phantastisch“, erinnert sich Friedrich Lengenfeld.

Am Freitag, dem 12. Februar 1965, eröffnete der amtierende Oberbürgermeister Nieswandt die drei „aggressiven Tage“ von Essen mit einem großen Empfang. Für den Freitagabend sah das Programm folgende Auftritte vor: „Die Kabaretten“ aus Stuttgart, „Die Knallerbse“ aus Mannheim und „Die Wanzen“ aus Wanne-Eickel. Von den Räumlichkeiten waren die Wanne-Eickeler Amateurkabarettisten nicht gerade begeistert. Die Auftritte erfolgten auf der Bühne im riesigen Saal des Jugendzentrums, im gleißenden Scheinwerferlicht, bei abgedunkeltem Zuschauerraum. Dadurch erschwerten – um nicht zu sagen verhinderten – die Organisatoren den für die Kabarettisten notwendigen Kontakt mit dem Publikum.

Als die Wanzen den Festivalort erreichten, erhielten sie zu ihrer Überraschung die Nachricht: Bitte sofort für den Auftritt fertig machen, denn die Stuttgarter Kabaratten fielen an diesem Abend aus. Die Wanzen krabbelten auf die Bühne. In der so entstandenen Hektik konnte der Beleuchter nicht mehr in das ausgetüftelte Programm der Wanne-Eickeler Kabarettisten eingewiesen werden. Zudem wussten Friedrich Lengenfeld, Peter Refke, Detlef Aktories und Doris Strunk nicht, ob das schriftliche Programmheft im Publikum verteilt worden war.

Aus: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 27.5.1967

Ein Unglück kommt selten allein. Die Wanzen benutzten für ihren Themenwechsel den „black out“. Das Zwischenspiel am Klavier besorgte Ursula Lüchtemeier, aber die dafür benötigte Lampe am Klavier fehlte… Improvisation wurde an diesem Abend groß geschrieben. Die Presse meinte zu der halbwegs nach Hause geschaukelten Vorstellung: „Den zweiten Teil des Abends bestritten ´Die Wanzen´ aus Wanne-Eickel, die sich selber als bissig und blutsaugend parodierten. Ihren oft zielsicher angelegten Attacken auf faule Stellen im politischen Alltag beiderseits der Zonengrenze mangelte es jedoch manchmal an geschliffener Darbietung und gekonnter Pointierung.“

Trotz aller technischen Probleme genossen „Die Wanzen“ ihren verdienten Erfolg. Aus dem gesamten Bundesgebiet erhielten sie weitere Anfragen und Einladungen, deren Wahrnehmung durch die beruflichen Verpflichtungen der Wanne-Eickeler Amateure häufig verhindert wurde.

In der Bergarbeiterstadt Wanne-Eickel gehörte das Kabarett zu den regelmäßigen Angeboten der städtischen Jugendarbeit unter der Leitung des Stadtjugendpflegers Franz Lengenfeld, einem Bruder der „Leitwanze“ Friedrich Lengenfeld. Auch die „Wanzen“ Friedrich Lengenfeld, Detlef Aktories und Peter Refke hatten dort als Jugendkabarett „Die Kaffeekanne“ begonnen. Der wesentliche Grund für die Abnabelung der drei vom Jugendkabarett war das Bedürfnis nach Entfaltung persönlicher Kreativität und Originalität. „In der Kaffeekanne spielen wir jedoch nur die Texte der Frankfurter Schmiere nach“, erinnert sich Friedrich Lengenfeld.

Während ihrer dreijährigen Mitgliedschaft in der „Kaffeekanne“ entwickelten sie eine andere Auffassung vom Kabarett. Mit dem Anspruch, Unterhaltung mit künstlerischem Niveau zu bieten und abseits des bürgerlichen Unterhaltungsbetriebes moderner Dichtung und Kunst Gehör zu verschaffen, entwickelten die jungen Wanne-Eickeler mit den Mitstreitern Doris Strunk und Reinhard Mertens über 20 Stücke, die das erste Gesamtprogramm der „Wanzen“ bildeten. „Wie es uns missfällt…“ feierte am Sonntag, dem 31. Mai 1964, in der Gaststätte „Am Stöckmannshof“ im Wanner Norden Premiere.

Suche der Themen, Schreiben der Stücke, Pfeilen der Texte, Form der Darbietung, Komposition der Lieder: Alle diese Aufgaben lösten die „Wanzen“ innerhalb einjähriger Probezeit. „Wir stechen zu, wenn uns was nicht gefällt, wir beißen, stechen immer zu, der Nächste, das bist Du.“ Mit diesem Wanzenlied eröffneten die Wanne-Eickeler ihr Programm, das über die Berliner Impressionen zu den Problemen der geteilten Stadt an der Spree bis hin zum Wanne-Eickeler Kulturleben reichte, nach dem Motto „Esel sei der Mensch…“

Bereits in ihrem ersten Programm benutzten „Die Wanzen“ ein Stilmittel, das in den 1980er Jahren durch den Düsseldorfer Thomas Freytag erst richtig populär wurde: die Sprachimitation von Personen des öffentlichen Lebens. Friedrich Lengenfeld imitierte den damaligen regierenden Bürgermeister von Westberlin Willy Brandt.

„Eigentlich kamen nur die Stücke mit einem Schwergewicht in der Darstellung oder die mit den Holzhammerpointen beim Publikum an. Da das Wanne-Eickeler Publikum nicht gerade verwöhnt ist in Sachen Kabarett, können mildernde Umstände gewertet werden. Erstaunt konnte man jedoch feststellen, dass lokale Probleme von den Zuschauern mit großem Interesse aufgenommen wurden und auch allgemein bekannt waren. Schüsse auf den Rathausneubau und das Wanne-Eickeler Kulturleben wurden stark beachtet. Ein Tipp vielleicht fürs nächste Mal: mehr lokale Probleme und Ereignisse auswerten und ins Programm aufnehmen“, kritisierte die Tagespresse. Kabarett-Macher Lengenfeld wehrt sich noch heute gegen diese Art der Kritik, wenn er nüchtern feststellt: „Auch außerhalb von Wanne-Eickel gibt es wichtige Dinge!“

Alle Aktivisten der ersten Stunde verband nicht nur das Interesse am literarischen Kabarett. Alle fünf arbeiteten bei Wanne-Eickeler Kreditinstituten und konnten so, als sonst immer adrette und freundliche Angestellte, ihrem Publikum die Meinung sagen. „Wir wollten als Kabarettisten aufrütteln“, betont der heutige Sparkassen-Filialleiter Friedrich Lengenfeld.

Als Handlungsprinzip formulierten die „Wanzen“ die absolute Unabhängigkeit in Sachen Kabarett. Anfang des Jahres 1964 erließ die Stadt Wanne-Eickel einen Aufruf an die Kulturschaffenden, sich bei der Stadtverwaltung zu melden, um den Bedarf an finanziellen Kulturförderungsmitteln errechnen zu können. „Die Wanzen“ lehnten dankend ab.

So dauerte es bis 1967, ehe das zweite Programm folgte: „Lasset uns treten…“ bestimmte ihre neue Handlungsmaxime. Die Themen: „in memoriam“ – Grabrede für die deutsche Steinkohle, „Fragmente“ – zur Problematik des Neo-Nazismus,  „Wusste er, dass…“ – über den Vietnamkrieg, „Klagelied, in der Flensburg zu singen..“ – das Hohelied auf den deutschen Autofahrer, und „Kennwort casu..“, das sich mit der Beschwerde eines Arbeitslosen bei einem Computer auseinandersetzt, weil seine Unterstützungsgelder ausbleiben. „Zuhörer sollten sich dick anziehen! Wanzenstiche sind gefährlich“, warnte die WAZ vor dem Besuch des neuen Programms der Gruppe in der Besetzung Jutta Band, Doris Strunk, Detlef Aktories und Peter Refke unter der künstlerischen Leitung von Friedrich Lengenfeld.

„Die Wanzen“ machten Bekanntschaft mit dem zentralen Problem des Kabaretts während der 1960er Jahre. Die Kabarettisten übten von einer nonkonformistischen Position aus Kritik an den bestehenden Verhältnissen, trafen dabei aber immer häufiger auf ein saturiertes Publikum, dass nicht mehr an Veränderungen interessiert war. „Wir sind bewusst nicht nur lustig, wir wollen keine Konzessionen an das Publikum machen. Worunter auch andere Kabaretts leiden, man kann die härtesten Sachen sagen, das Publikum lacht und fühlt sich gar nicht angegriffen. Wir sind froh, wenn nur einer nachdenklich nach Hause geht“, bemerkte Lengenfeld.

Zeitaufwendige Vorbereitungsarbeiten, die kaum noch mit dem Privat- und Berufsleben der Kabarettisten in Einklang zu bringen waren, ließ nur noch eine dritte Premiere im Jahre 1969 zu. „Status – wie geht dich?“ hieß die von den „Wanzen“ aufgeworfene Frage in Anlehnung an „Stacho – wie geht dich?“. Der WDR korrigierte in Ermangelung von Kenntnissen über das Sprachgebaren der hier so berühmten Kohlenpottfigur beckmesserisch: „Status, wie geht es Dir?“ Für die Realisierung dieses Programms musste Friedrich Lengenfeld wieder zusammen mit Erika Blömer und Peter Refke auf die Bühne, obwohl er sich auf die künstlerische Leitung konzentrieren wollte.

„Der Aufwand war riesengroß. Die Nachwuchsfrage nicht gelöst. Organisation und Spielen passten nicht mehr zusammen. Dazu kam, dass sich die politische Lage grundlegend verändert hatte. Auch wir als Wanzen bekamen das zu spüren“, berichtete Friedrich Lengenfeld über seinen enormen Stress mit der dritten Produktion. Das 69er-Programm gestaltete sich als illustre Reise durch das aktuelle Zeitgeschehen, vom deutschen Wohlstandsbürger über die deutsche Wiedervereinigung, Vietnam und Nahost bis hin zur Lokalproblematik um den Wanne-Eickeler Verwaltungsschuppen, sprich Rathaus, mit seinen verstreuen Ämtern.

Das Ende der Wanzen wurde absehbar. Als Kammerjäger, der ihnen im Nacken saß, erwies sich immer bedrohlicher ihr Amateurstatus mit den unzureichenden Produktionsbedingungen. Aufwand und Erfolg standen in keinem gesunden Verhältnis mehr. Gedanken an eine Professionalisierung spielten aber keine Rolle, als feststand, dass sich die Gruppe auflösen musste. „Es war das Jahrzehnt des Organisierens“, resümierte Friedrich Lengenfeld über seine persönlichen Erfahrungen während der 1960er Jahre. Für den interessierten Wanne-Eickeler gestalten sich die Texte mit entsprechendem Lokalkolorit nach wie vor aktuell.

Der Wanzenstich vom 31. Oktober 1964 steht stellvertretend dafür:

„Bürger, schlaft nur ruhig weiter,

Wanne bleibt ein kleines Nest,

denn zum Industrieansiedlungsfördern

haben wir ja Bochum und das Vest!

Gästen zeigt man Solbad, Bücherei,

überreicht Prospektenallerlei,

aber lässt sie schleunigst gehen,

den Dreck dürfen sie nicht sehn?

Für VHS-Vorträge einen Rat:

schließt beim nächsten Mal die Tür gefälligst ab.

Ein Fremder kann sich leicht zu Euch verirren,

und glaubt, er wär der dritte Mann zum Skat.

Wanne-Eickel, duftumwoben,

Stadt der Züge und der Zechen,

Deine Bürger wohnen –

hinterm Mond.“

Norbert Kozicki

Quelle:

  •  „Die Kinder von Karl Marx und Coca-Cola“ – Kulturelle Streiflichter aus dem Revier der sechziger Jahre. Banana Press Verlag Herne, 1990