„Rock Around The Clock“ in Bickern

Von den Jungs vom schwarzen Fluss zu den blauen Schatten

„Drehscheibe leiht sich heute Claudia von den Shadows aus Wanne-Eickel aus“, lautete die Schlagzeile in der Lokalpresse vom 26. April 1966, als sich das Zweite Deutsche Fernsehen die Sängerin Claudia Höfer alias Ilse Etges von der Wanne-Eickeler Band „The Blue Shadows“ für einen Auftritt im Nachmittagsprogramm „auslieh“. Ihr damaliger Fernsehauftritt war bereits der Dritte nach dem Erreichen von Platz acht in der Hitparade von Radio Luxemburg mit dem Titel „Morgen kann alles schon anders sein“.

Autogrammkarte von Claudia Höfer, Foto Norbert Kozicki
Autogrammkarte von Claudia Höfer, Repro Norbert Kozicki

Im sechsten Jahr ihres Bestehens spielten die „Blauen Schatten“ in der Besetzung: Klaus Heinz als Bandleader, im Zivilleben Elektromonteur, der vor sechs Jahren die „Blue Shadows“ gründete. Von Anfang an dabei war der Schlosser Willi Kugel, der später die Sängerin Claudia Höfer heiratete. Seit einem Jahr gehörte der Chemielaborant Michael Mutmann dazu, der den Bass zupfte. Am Schlagzeug agierte seit fünf Jahren der Verkaufsfahrer Dieter Breitholz.

Der Name der Wanne-Eickeler Band weist in das Jahr 1959 zurück: in diesem Jahr verdrängte der Engländer Cliff Richard mit seiner Begleitband „The Shadows“ die amerkanischen Superstars Elvis Presley und Shirley Bassey vom Platz eins in den Charts. „Living Doll“ und „Travellin´ Light“ lauteten die erfolgreichen Titel. „The Shadows“ machten sich Anfang des Jahres 1960 unabhängig und landeten ihren Superhit „Apache“, der in allen internationalen Hitparaden zu finden war. Mit diesem Song wurden „The Shadows“ zur erfolgreichsten Instrumentalgruppe der ausklingenden Rock´n´Roll-Ära.

Von dieser Musik fasziniert und begeistert, rief der Wanne-Eickeler Klaus Heinz die „Blue Shadows“ ins Leben. Vorher nannte sich seine Band „The Black River Boys“. Auf die Frage, wie er zu diesem Namen gekommen ist, antwortete er: „Wir haben uns gedacht, wir wohnen alle an der Emscher, dem schwarzen Fluss. Ein Teil der Bandmitglieder war aus Wanne-Eickel. Da haben wir gesagt: Black River Boys.“ Unter diesem Namen spielte die Kapelle zum ersten Mal auf der Silvesterparty 1955 in der Eisdiele „Bei Enzo“ in der Goethestraße (heute Dürerstraße) in Wanne-Süd.

'The Black River Boys' mit dem Lead-Gitarristen Klaus Heinz (rechts), Foto Norbert Kozicki
The Black River Boys‘ mit dem Lead-Gitarristen Klaus Heinz (rechts), Repro Norbert Kozicki

Klaus Heinz selbst kommt aus einer überaus musikalischen Familie. Vater und Mutter sangen gemeinsam im Gemeindechor. „Also war man mit Musik schon vorbelastet“, resümiert Klaus Heinz über seine musikalischen Ursprünge. Beim Sozialistischen Jugendverband „Die Falken“ erlernte er das Gitarrespielen. Beim sozialistischen Volkstanz gab er dann den Ton an.

Die damalige Gründungsformation der Band sah folgendermaßen aus: Gerd Szepannek, Peter Dobbrik, der später bei den „Hurricanes“ zockte, Willi Kugel und Klaus Heinz. Als Bandleader verschaffte Klaus der Gruppe die Auftritte und Verträge. „Wenn Verträge nötig waren, machte der Bandleader die Verträge und legte die Gage fest. Das wurde vorher abgesprochen“, erinnert er sich. An jedem Abend verdienten die einzelnen Musiker fünfzehn Mark: bei einem Lehrlingslohn von fünfundvierzig Mark monatlich im dritten Lehrjahr eine Menge Kohle. In den sechziger Jahren kletterte die abendliche Gage auf achtzig Mark pro Musiker.

In den vier Jahren, als die Band „The Black River Boys“ zum Tanz aufspielte, gastierte sie häufig in der Gaststätte „Zur Krone“ an der Gelsenkircher Straße, die später als Nachtbar „Babalu“ bekannt wurde. „In der Gaststätte Krone spielten wir viermal in der Woche. Die Verträge wurden in den fünfziger Jahre immer länger. Dort spielte man über drei Monate hintereinander in einer Kneipe. Engagements über einen Monat blieben die Ausnahme“, berichtete der Wanne-Eickeler Musiker. Aufgrund des guten Nebenverdienstes fuhr er bereits 1959 sein erstes eigenes Auto, mit dem die Musikinstrumente zu den verschiedenen Auftrittsorten transportiert wurden. Vorher stellte der Sohn eines Metzgermeisters aus Holsterhausen den väterlichen Kombi zur Verfügung.

Bandleader Klaus Heinz, Foto Norbert Kozicki
Bandleader Klaus Heinz, Repro Norbert Kozicki

„Der war damals sehr hilfsbereit. Da hatten wir Fans, die uns die Sachen transportierten“, schwärmt Klaus heute noch. Die erste technische Ausstattung der Band hielt sich in einem bescheidenen Rahmen: das Radio als Verstärker kam zum Einsatz wie die eigenen Tonbandmikrophone. Von einer Gesangsanlage und einem Echogerät träumten sie damals nur. Den Aluminiumlautsprecher aus jenen Tagen bewahrt Klaus noch heute in seinem Musikkeller auf.

Ihre damalige Musikrichtung beschreibt er: „Das war die Musik, die tagtäglich gespielt wurde und gefragt war. Man kann nicht sagen, reiner Rock. Wir brachten internationale Hits in Englisch, weil wir gut Englisch konnten. Zwei von uns besuchten das Gymnasium. Wir spielten aktuelle Tanzmusik. Bei den Erwachsenen war der harte Rock´n´Roll total verpönt: Hottentottenmusik hieß es überall.“

Die Junges vom schwarzen Fluß hatten die Hits aller Rock´n´Roll-Stars im Repertoire. Das jugendliche Tanzpublikum liebte aus diesem Grund die vier „Black River Boys“. Alle die Hits, die die westdeutschen Radiostationen im Muff und Mief des Wirtschaftswunderlandes nicht spielten, hörten und erlebten die tanzbesessenen Jugendlichen bei den „Black River Boys“.

Als zwei bedeutende regionale Treffpunkte für die „heiße Musik“ benennt Klaus den „Duisburger Treffpunkt“ und die altehrwürdige Gaststätte „Bresser“ in Castrop-Rauxel, wo Klaus Heinz und seine Band ebenfalls gastierten. „Bresser“ entwickelte sich zum Geheimtipp für die Leute, die sich für holländische „Indonesier-Kapellen“ begeisterten: „The Tielmans Brother“, „The Heartbreakers“, „The Timesbreakers“ präsentierten dort den Indo-Rock´n´Roll als ausgesprochene Life-Musik. Die Schallplattenproduktionen diese Bands dagegen müssen als sehr seicht bezeichnet werden.

Seinen wesentlichen Eindruck vom „Duisburger Treffpunkt“ beschreibt Klaus folgendermaßen:

„Ja, die Kneipe war ganz dunkel gehalten. Vorne musste man Eintritt bezahlen. Es herrschte eine solche Dunkelheit, dass man den Zigarettenqualm nicht sehen konnte.“ Mit Sicherheit ein beliebter Treffpunkt für jugendliche Backfische !

Bei den Je-Ka-Mi-Abenden entdeckten Musikmanager neue Talente für die notleidende westdeutsche Plattenindustrie, deren Umsätze während der späten fünfziger Jahre zurückgingen. „Je-Ka-Mi“ steht für „Jeder kann mitmachen“. Eine der regionalen Entdeckungen war damals der Gelsenkirchener Junge Benny Quick, der oft mit Klaus Heinz und seinen Boys musizierte. In der Kneipe Flora Marzina im Wanner Norden traf man sich oft.

Benny Quick lebt heute in Frankfurt. Er erlebte mit dem Song „Motorbiene“ 1962 seinen größten Hit und schaffte es, mit dem Italo-Rock´n´Roller Freddie Cannon verglichen zu werden. Er erhielt scherzhafterweise den Spitznamen „Bum Bum“ Quick, nicht wegen seiner sagenhaften Aufschläge beim Tennisspielen, sondern weil auf seinen Platten für die damalige Zeit tolle Schlagzeugsoli vorherrschten. Benny Quick gewann einen der Je-Ka-Mi-Abende in Gelsenkirchen-Buer in der Schauburg. Der erste Preis: ein Plattenvertrag.

„Wir haben zusammen keine Schallplattenaufnahmen gemacht. Damals mussten alle Musiker notenfest sein, direkt vom Blatt spielen können“, erzählt Klaus etwas wehmütig über die entgangene musikalische Chance, die ihm eine Plattenaufnahme gebracht hätte. Die Kontakte zur Schallplattenindustrie besaßen sie über ihre Sängerin Claudia Höfer, die mehrere Scheiben bei Decca/Telefunken einspielte.

Eine Anekdote verdeutlicht anschaulich die Situation im westdeutschen Wirtschaftswunderland der Jahre um 1956. Als die „Black River Boys“ in der Kneipe „Zur Krone“ gastierten, hatten sie eine erste Sängerin, und zwar Mary, die Kellnerin. Wenn die „Boys“ eine schöpferische Pause einlegten, musste Mary den Gästen Pils und Korn kredenzen. Bei auswärtigen Auftritten fehlte dann der Band die Sängerin.

'The Black River Boys' in der Gaststätte Zur Krone an der Gelsenkircher Straße in Wanne (Klaus Heinz Leadgitarre, Mary, die Kellnerin und Sängerin, Peter Dobbrick am Schlagzeug), Foto Norbert Kozicki
‚The Black River Boys‘ in der Gaststätte Zur Krone an der Gelsenkircher Straße in Wanne (Klaus Heinz Leadgitarre, Mary, die Kellnerin und Sängerin, Peter Dobbrick am Schlagzeug), Repro Norbert Kozicki

Im Bochumer „Black And White“ erlebte die Gruppe, dort bereits als „The Blue Shadows“ spielend, eine unangenehme Überraschung. Der eingeplante Conferencier, Beo Bull, war an einem Abend ausgesprochen lustlos. Kurz nach Beginn seiner Moderation bei einer großen Veranstaltung ließ er sich von der ein Meter hohen Bühne auf die Tanzfläche fallen und streckte alle Viere von sich. „Er wurde auf einer Trage abtransportiert. Da hat er gelacht und wir mussten sein ganzes Programm mit übernehmen. Beo Bull hatte sein Geld drin, in solch einem Fall“, erinnert sich der Bandleader.

Den großen Durchbruch erzielten die „Black River Boys“ nach ihrem Auftritt am 4. Juni 1960 im Casino der Zeche Unser-Fritz. Dort spielten sie für den Boxring Unser-Fritz nach einem Großkampftag an einem Pfingstsamstag. An diesem Tag boxte die in den fünfziger Jahre so überaus erfolgreiche Staffel von Unser-Fritz gegen Westend Frankfurt im Stadion Wanne-Süd vor über sage und schreibe zweieinhalbtausend sportbegeisterten Boxfans.

„Abends fand im Gemeinschaftshaus der Zeche Unser-Fritz ein zünftiger Sportlerball statt, wo die Freundschaft beider Staffeln noch vertieft wurde. Die Unser-Fritzer revanchierten sich hier für die Wimpelüberreichung bei der Veranstaltung. The Black River Boysmusizierten und die Unser-Fritzer wurden zum Rückkampf nach Frankfurt am Main eingeladen“, vermerkte der Chronist der Lokalpresse nach dem großen Sportereignis.

Nach diesem Auftritt häuften sich die Angebote für die Band: „CC“ in Herne, der „Westernsaloon“ in Eickel, das „Black And White“ in Bochum-Laer an der Wittener Straße, „Saalbau Hügenberg“, die „Bauernschänke“ in Castrop, bei „Schlösser-Alt“ in Düsseldorf, „Hotel Lothringen“ in Bochum-Gerthe, und und und….

'The Blue Shadows' vor dem 'Black And White' in Bochum-Laer an der Wittener Straße, Foto Norbert Kozicki
‚The Blue Shadows‘ vor dem ‚Black And White‘ in Bochum-Laer an der Wittener Straße, Repro Norbert Kozicki

Im „Hotel Lothringen“ gastierten die „Blue Shadows“ über 15 Jahre. Der Bandleader Klaus Heinz unterhält mit seiner heutigen Band „Albatross“ das interessierte Tanzpublikum. Zum Abschluss meines Besuches bei ihm lässt er sein Können und sein breites Repertoire aufblitzen: „Rock Around The Clock“- im Musikkeller an der Hüller Straße in Wanne-Eickel 1988.

Norbert Kozicki

Quelle:

„Als wenn Elvis nach Wanne käme…“, Banana Press Verlag Herne, 1988