Ein Junge aus Eickel kommt 1918 nach Hause
Heinrich Hoff, ehemaliger Organisationsleiter der KPD in Wanne-Eickel, geboren am 11.8.1897 und 1990 verstorben, Schlosserlehrling während des großen Bergarbeiterstreiks von 1912 bei Baum in Herne, Soldat im Ersten Weltkrieg, Kämpfer in der Roten Ruhrarmee gegen den Kapp-Putsch 1920, etliche Funktionen in der kommunistischen Bewegung im Stadtgebiet von Wanne-Eickel, Stadtverordneter der KPD seit 1926, 1933 Inhaftierung durch die Nazis, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zum Soldaten gemustert, nach Kriegsende Betriebsrat auf der GAVEG in Holsterhausen bis 1960, 1952 Austritt aus der KPD und Eintritt in die SPD, Mitbegründer der Siedlergemeinschaft Sonnenblumenweg, Genossenschaftler der ersten Stunde erinnert sich an das Ende des Ersten Weltkrieges.
Ende Oktober 1918
Solange haste Glück gehabt. Ich dachte, jetzt kurz vor Kriegsende könnt ihr mich mal. Zu den Kameraden im Lazarett sagte ich: „Komm, wir lassen uns doch jetzt nicht mehr gefangen nehmen. Wir sind doch nicht verrückt. ..“
Auf dem Rückmarsch treffe ich meine alte Kolonne. Das war genau am 8. November 1918. Es waren nur noch ein paar Mann übrig geblieben, so ungefähr 15 Mann von der gesamten Kompanie, dass waren damals so 180 Mann. „Mensch“, sagte einer, „wo kommst Du denn jetzt noch her?“ „Wo soll ich denn hin?“, sagte ich, „in den Lazarettzug haben sie mich nicht mitgenommen, weil ich ja auf den Beinen war.“
Und am anderen Tag ging das los: Waffenstillstand. Und da sind wir losmarschiert. Da waren wir hinterher ein ganzer Club – weiß der Deiwell, wo die alle herkamen. Da waren wir ein paar hundert Mann. Dann sind wir alle zum Divisionsgefechtsstand, vom dort zum Hauptgefechtsstand. Und da trafen wir auch unsere Armeemusiker wieder, bei Lille. Und die spielten da die Marseillaise : (er singt) „Vorwärts, Marsch, Marsch und sei es bis in den Tod, denn unsere Fahne die ist rot.“
Ja, und da waren schon welche, die haben mitgesungen. Soldatenräte wurden gewählt. Einmal kam der Olle Regimentskommandeur: „Ja, ich bin auch froh, dass alles vorbei ist. Aber sei es mir vergönnt, wir waren so lange zusammen und haben alles so hinter uns gebracht, dass ich Euch auch nach Hause führe.“ Und damit waren wir alle einverstanden.
Aber das „Nach-Hause-Führen“, das hat uns was gekostet. Z.B. durch Brüssel durch: da fingen die Zivilisten an zu spinnen. Sie spuckten uns an und alles mögliche. In der Nähe vom Bahnhof schossen einige auf uns. Da war doch schon Waffenstillstand. Wir kamen doch von der Front. Wir hatten doch mit diesen Leuten, den Zivilisten, überhaupt nie etwas zu tun gehabt. Aber sie hatten jetzt Wut auf uns. Ist ja auch ganz klar, wenn du die Städte gesehen hättest. Da stand kein Baum mehr. Die Städte waren nur noch Trümmerhaufen. Lille und alle Dörfer waren nur ein riesiger Trümmerhaufen, so weit du sehen konntest. Du hast nur noch Granatlöcher gesehen. Das war alles wie eine Wüste. An der ganzen Front von Ipern aus. Ganz Nordfrankreich war ein einziger Trümmerhaufen. Schweinerei!
Auf dem Rückmarsch hatte ich mich nachher abgesetzt. Ich ging einen anderen Weg über Düsseldorf nach Essen. Das war mein Glück, ich wurde nicht mehr bombardiert, wie die große Gruppe unter der Führung des Regimentskommandeurs. Von Düsseldorf aus bin über den sogenannten Krummen Esel marschiert, der in Essen rauskommt. Da gibt es eine Stelle, da konnte man das ganze Ruhrgebiet übersehen. An einer der Rheinbrücken stand ein großes Schild, als wir nach dreieinhalb Jahren nach Hause kamen. „Des Vaterlandes Dank wird Euch gewiss!“ Aber das waren leere Versprechungen.
Zuhause angekommen: „Da habt ihr ja was schönes angestellt“, sagte der Vater. Ich sagte: „Was ist denn los?“ „Ja, der Wilhelm ist weg.“ Ich fragte: „Welcher Wilhelm?“ Ich dachte an einen unserer Verwandten, da hieß nämlich auch einer Wilhelm. „Nee“, sagte mein Vater, „der Kaiser“. Ich dachte, ich kriege zu viel. Der Kaiser ist weg – das war seine größte Sorge. Der hat gar nicht erst gefragt: „Junge, wie geht es Dir?“ Der hatte bald zwei Jahre keine Post mehr von mir bekommen, weil da gar nichts mehr ging, keine Feldpost. Wir waren ja ewig entweder auf dem Vormarsch oder auf dem Rückmarsch. Oder wir waren hier oder wir waren dort. Oder die Post war gesperrt. Und viele Leute hatten hier zuhause noch nicht die Nase voll gehabt. Sie haben Kohldampf geschoben, nur Steckrüben gefressen. Der Alte sah schon wie eine Steckrübe aus. Und immer noch der Wilhelm. So waren die Leute damals. Und da haben sie noch Gold für Eisen gegeben, teilweise alles weggegeben. Gold gebe ich fürs Vaterland.
Als wir wieder zuhause waren, herrschte eine große Arbeitslosigkeit und vor allen Dingen Hunger haben wir gehabt. Die Leute hatten nichts zu futtern. Und da bin das erste Mal nach Haltern gefahren oder bis nach Oldenburg mit den Kohlenzügen, um ein paar Kartoffeln zu holen. Dann bin ich herum gelaufen und habe Arbeit gesucht. Da habe ich vom Amt Eickel einen Anzug bekommen, den Entlassungsanzug, so Kriegsware. Es gab ja nichts zum Anziehen. Das war mir alles zu klein geworden. Mit meinen 21 Jahren bin ich ja in den Jahren noch gewachsen und stabiler geworden.
Und dann traf ich einen Kollegen, der sagte: „Auf Zeche Shamrock suchen sie Heizer.“ Vorher war ich schon überall gewesen. Da habe ich versucht, als Dreher oder Maschineneinrichter wieder Arbeit zu bekommen. Da war nichts zu machen. Ich war im Hüller Werk, bei Schüchtermann und Cremer oder im Bochumer Verein. Ich war überall rum, meistens zu Fuß. Ich hatte ja kein Geld. Dann habe ich die Arbeit als Heizer auf der Zeche Shamrock bekommen. Große Kessel waren da zu befeuern. Da wurde die Kohle rein gepannt. Früher machten das die Kriegsgefangenen. Aber nach Kriegsende wurde sie entlassen und nach Hause geschickt: Russen und Franzosen.
Die großen Kessel machten den Dampf für die Fördermaschinen, damit die Kumpel ein- und ausfahren konnten. Der Dampf, der nicht gebraucht wurde, ging zum Labor und in die Heizung. Da waren insgesamt 20 Kessel, mit jeweils drei Türen. Wenn in die eine Tür die Kohle reingeschüppt war, musste die Klappe geschlossen werden, um die andere zu öffnen. Die Feuerung war so an die fünf Meter breit. Da musste man ziemlich weit mit der Schüppe schmeißen, damit die Kohle bis hinten reinkam. Auf einmal bekamen wir da Ärger mit einem Vorgesetzten. Da kommt einer mit so einem vollgefressenen Bauch und gut angezogen bei uns rein und sagte: „Jungs, ihr müsst stochen, stochen. Wir müssen Kohle machen, Kohle fördern.“ Auf Morgenschicht war das. Ich sagte: „Du hast wohl ganz gut den Krieg überstanden, was ?“ Da wusste ich noch nicht, wer das war.
„Gut über den Winter gekommen. Keine Steckrüben gehabt ?“ fragte ich ihn. Er erwiderte: „Wer sind sie überhaupt ?“ „Das geht doch wohl keinen was an, wer ich bin. Ich bin hier am Stochen“, sagte ich, „das sehen sie ja.“ Da war noch einer von den Matrosen, der hatte auf einem Torpedoboot gestocht. Der war sofort meiner Meinung. Wir hatten schon Schwielen in den Händen gehabt. Und unsere Sachen waren klatschnass. Wenn die in der Kaue getrocknet waren, waren die weiß von dem Salz. So haben wir da immer geschwitzt. „Mensch“, sagten wir, „ wenn du mehr Dampf haben willst, dann komm doch mal her und schmeiß dich mit deinem dicken Bauch hier auf die Stange drauf und hol mal die Schlacke aus dem Kessel raus, bei 100 Grad.“ Dann sagte ich: „Erstmal wie ist das hier mit mehr Geld ? Wir brauchen alle Geld. An der Rheinbrücke stand ein großes Schild ´Des Vaterlandes Dank ist Euch gewiß´. So ein großes Transparent, als wir alle nach fast dreieinhalb Jahren zurückkamen.“ Seine Antwort: „Das geht jetzt nicht.“ „Ja“, sagte ich, „dann geht das hier auch nicht.“ Daraufhin meinte er: „Sie verlassen jetzt hier sofort den Arbeitsplatz. Sie rühren hier uns die Leute auf, sie machen uns die Leute wild.“
„Hört mal Kollegen – das platzte mir so raus – hört mal, der will uns nicht mehr Geld geben.“ Was der will nicht, die Schüppen flogen in die Ecke und wir haben die Brocken hingeschmissen. Dann sind wir zum Hüller Werk nach Gelsenkirchen hin, wo wir auch alle eingestellt wurden. Pro Schicht haben wir dort 3 Mark mehr bekommen, was so ein Drittel mehr war.
Norbert Kozicki: Auszüge aus Interviews mit Heinrich Hoff