Kinderlandverschickung während des Zweiten Weltkrieges

„Ich hatte keine Ahnung, wie weit Wanne-Eickel entfernt war…“ – eine Wanne-Eickelerin erzählt

„Wir waren überglücklich, als wir wieder alle zusammen waren“, erinnert sich Wilma Krietzsch an jenen Tag im Januar des Jahres 1946, als sie nach über vierjähriger Abwesenheit von zu Hause als fast zehnjährige ihre Mutter wieder in die Arme schließen konnte. Kinderlandverschickung: Ein Schicksal, das viele Kinder aus dem Ruhrgebiet während der schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs teilten. Nachdem im November 1940 die ersten Bomben auf Wanne-Eickel und Herne fielen, evakuierten die Behörden die Kinder aus dem Industriegebiet.

Evakuierung aus Wanne-Eickel und Herne, Foto Norbert Kozicki
Evakuierung aus Wanne-Eickel und Herne, Repro Norbert Kozicki

Wilma Krietzsch und ihren Bruder Werner verschlug es nach Pommern in die Nähe von Vazin und Hammermühle, wo sie in Familien untergebracht wurden. Als sich 1944 das Kriegsgeschehen in diese Region verlagerte, stellten die Dorfbewohner einen Flüchtlingstreck zusammen, der westwärts ziehen wollte. Die Gasteltern packten ihre Pflegetochter kurzerhand auf einen Planwagen von Bekannten und verließen sicherheitshalber frühzeitig das Dorf. Der Treck mit Wilma war zwei oder drei Tage bei dichtem Schneetreiben unterwegs, als man eine weit einsichtiges Feld erreichte, das an einen Wald angrenzte. Dort wurden sie von sowjetischen Panzern beschossen. Panik ergriff die Flüchtenden. Alle sprangen von den Wagen und liefen im tiefem Schnee um ihr Leben. Die kleine Wilma versuchte mit den Erwachsenen Schritt zu halten. Irgendwann waren alle in der Dämmerung verschwunden. Wilma Krietzsch wird diese Nacht als Achtjährige in ihrem Leben nicht vergessen. „Da saß ich nun im Schnee hinter einem Baum, mutterseelenallein im Wald irgendwo in Pommern. Ich glaubte doch noch an die Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf…“, erzählt Wilma Krietzsch mit bewegten Worten.

Am nächsten Morgen vernahm sie die Geräusche von Lastwagen. Wortfetzen in deutscher Sprache signalisierten ihr: Da musst du hin. Es war ein Trupp deutscher Soldaten, denen der Weg nach Westen ebenfalls versperrt war. Mit den Soldaten fuhr die Wanne-Eickelerin nach Gdynia, in den Jahren zwischen 1939 und 1945 von den Nazis in Gotenhafen umbenannt. In Gdynia angekommen, wurde sie zunächst mit vielen, vielen Kindern in einem riesigen Bunker einquartiert. Hier sah sie das Grauen des Krieges: Verwundete Soldaten mit allen nur denkbaren Verletzungen wurden von den Sanitätern gepflegt, um sie mit Schiffen auf die ungewisse Fahrt in die Heimat zu schicken. Bald kam der Tag der lang ersehnten Heimfahrt. Wilma erhielt eine Rettungsschwimmweste mit den Worten: „Zieh` die ‚mal an, das Schiff vor uns wurde auch schon beschossen.“ Eins der Schiffe hieß „Wilhelm-Gustloff“. Während der Schiffsfahrt mussten die Kinder unter Deck auf dem Boden liegenbleiben. „Als die Schiffe beschossen wurden, weinte und schrie alles“, berichtet die Zeitzeugin. Das erste und dritte Schiff des Konvois erhielten Volltreffer und versanken in den Fluten der Ostsee. Die Kinder bekamen das alles über die Reaktionen der Erwachsenen an Bord des Schiffes vermittelt.

Irgendwann kurz vor Kriegsende erreichten die Kinder des zweiten Schiffes das dänische Festland, wo sie in einem Schloss untergebracht wurden. Hin und wieder wurden sie ins Haus geschickt, mit der Auflage, nicht aus dem Fenster zu schauen. Einmal schlich sich Wilma mit anderen in den Keller und beobachtete, was dort im Hof passierte: Fünf Männer wurden exekutiert.

Nach Kriegsende wurden die Kinder in ein Gefangenenlager mit Stacheldrahtzäunen und Wachtürmen überführt.

„Ich habe immer auf Mama gewartet. Unsere Anschrift aus Wanne-Eickel habe ich mir immer wieder ins Gedächtnis gerufen“, erzählt Wilma Krietzsch, heute selber Großmutter zweier Kinder, „Ich hatte damals keine Ahnung, wie weit Wanne-Eickel entfernt war.“

Heimreise, Foto Norbert Kozicki
Heimreise, Repro Norbert Kozicki

Als die ersten Züge von Dänemark in den Süden rollten, bestand Wilma auf der Heimreise zur Mutter. Mit zwei anderen Kindern fuhr sie in Richtung Ruhrgebiet: Nicht im Personenabteil, nein, in der Lokomotive, damit sie vom Heizer und Lokführer beaufsichtigt werden konnten. Die kohlenstaubgeschwärzten Männer machten einem Mädchen so Angst, dass sie häufig weinte. „Ist doch klar, wenn man den Kindern Wer hat Angst vorm schwarzen Mann in frühester Jugend vorträllert“, ergreift Wilma Krietzsch heute noch Partei für die kleine Weggefährtin. 

Nach der Ankunft auf dem Wanne-Eickeler Hauptbahnhof bat sie das Rote Kreuz um Hilfe. „Ich möchte zum Sandweg.“ Doch diese Strasse in Wanne-Eickel kannte die Rot-Kreuz-Helferin nicht, und brachte Wilma zum Sandberg. Dort erinnerte sie sich daran, dass in der Nähe ihrer Wohnung ein Förderturm stand. Nach Wilmas standhaften Beschreibungen konnte das nur die Schachtanlage Wilhelm in Bickern sein. Frau Lische, eine Mitarbeiterin des Jugendamtes, brachte Wilma nach Hause. Die Wiedersehensfreude mit der Mutter und auch mit dem schon heimkehrten Bruder Werner war riesengroß.

„Wenn man die Bilder heute aus Bosnien im Fernsehen sieht, und weinende Kinder sieht, fühle ich richtig körperlich mit. Wer das nicht miterlebt hat, kann die Bilder aus Sarajewo nicht richtig begreifen“, ergänzt Wilma Krietzsch zu den aktuellen Kriegsbildern aus dem untergegangenen Jugoslawien.

Wilma Krietzsch ist heute 82 Jahre alt und lebt in Osterode am Harz.

Norbert Kozicki

 Dieser Text wurde 1992 erstveröffentlicht.