Von den Nazis verfolgter Sozialdemokrat in Herne
Ein Tag im Februar 1936: Auf der Brücke über den Rhein-Herne-Kanal an der Stadtgrenze Herne – Recklinghausen hält ein Auto unvermittelt an. Eine Wagentür wird geöffnet, aber niemand steigt aus. Zum Glück, denn das hätte für einen bestimmten Insassen höchstwahrscheinlich den Tod bedeutet. Im Wagen saßen nämlich Gestapo-Leute, die einen jungen Häftling ins Bochumer Polizeigefängnis bringen sollten. Hätte er diese vermeintliche Gelegenheit zur Flucht genutzt, wäre ihm mit einiger Sicherheit das grausame Schicksal vieler Häftlinge in dieser Zeit widerfahren: Auf der Flucht erschossen.
Nach kurzer, ereignisloser Unterbrechung wurde die Fahrt fortgesetzt, um anschließend in Bochum das weiterzuführen, was im Polizeigefängnis Recklinghausen begann: Vernehmungen eines 24jährigen jungen Mannes durch die Gestapo mit brutalsten Methoden. Eine Auswirkung dieser Verhöre konnte Tage später seine Ehefrau Hilde Dymel mit Schrecken zur Kenntnis nehmen: Begleitet von ihrer jüngeren Schwester Elfriede wollte Hilde Dymel ihren inhaftierten Ehemann Alfred Dymel im Bochumer Polizeigefängnis besuchen. Mit übelsten Drohungen wurde ihr jedoch klar gemacht, dass sie dazu kein Recht hätte und keine Gelegenheit erhalten sollte. Nur, auf dem Flur im Polizeigebäude waren sie zuvor an einer auf dem Boden liegenden, blutüberströmten und von Verletzungen schwer gezeichneten Person vorbeigegangen, die sie zunächst nicht erkannten. Doch bei näherem Hinsehen wurden ihnen bewusst, dass es sich bei dieser geschundenen Person um Alfred Dymel handelte.
Die Gestapo hatte ihn am 17. Februar 1936 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ festgenommen. Er gehörte in Herne einer kleinen Gruppe junger Sozialdemokraten an, die sich nach der Machtübertragung an die NSDAP Ende Januar 1933 nicht mit der Nazi-Herrschaft abfinden wollten. Sie waren nicht bereit, die Ziele einer freien, demokratischen und sozialistischen Gesellschaft, für die sie sich bereits Mitte der 1920er/Anfang der 1930er Jahre in der Weimarer Republik engagiert hatten, aufzugeben. Sozialpolitisches Engagement hatte sie geprägt, sowohl in der Unterstützung arbeitsloser Jugendlicher als auch in der Förderung und Betreuung von Arbeiterkindern im Rahmen der Kinderfreunde-Bewegung und der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ). Sie wollten auch aus eigener Erfahrung mit Arbeitslosigkeit Auswege aufzeigen, die in eine bessere Zukunft zeigten und nicht wie die nationalsozialistischen Versprechungen in eine Krisenverschärfung führten. So wurde Alfred Dymel, der nach Abschluss seiner Schlosser-Lehre 1929 vergeblich eine Anstellung in seinem Beruf suchte, 1932 Vorsitzender des Herner Stadtverbandes der SAJ. Dass ihn das Arbeitsamt auch nach 1934 trotz seines in der Rüstungsindustrie bereits nachgefragten Schlosserberufs nicht in eine Arbeitsstelle vermittelte, führte er rückblickend auf seine bekannte gegnerischeEinstellung zum Nationalsozialismus zurück.
Nur wenig ist bekannt über die anfänglichen Aktivitäten der kleinen Herner Gruppe, die mit dem auf Anpassung orientierten Legalitätskurs der Berliner SPD-Parteiführung vermutlich nicht einverstanden war. Da die Zeitzeugen über diese Phase nur wenig berichteten und in den Gestapo-Verhörprotokollen sich nur Aussagen zu den Tätigkeiten wiederfinden, die der Gestapo bekannt waren, bleibt vieles im Dunklen. Die jungen Sozialisten trafen sich in ihren Privatwohnungen, um – auch zum Teil unter aktiver Mitarbeit ihrer Ehefrauen – politische Fragen (die aktuelle Situation, Informationsbeschaffung, weiteres Vorgehen) zu besprechen.
Der Nazi-Terror mit Verhaftungen, Folterungen, Razzien und Hausdurchsuchungen (auch bei einigen von ihnen) vergrößerte nach der Zerschlagung des SPD-Organisationsgeflechts Angst und Unsicherheit und ließ sie vorsichtiger werden, wie eine Episode aus dem Frühsommer 1935 zeigt: Für ihre Teilnahme an einer als Freizeitvergnügen durchgeführten Radtourvon Herne in den Teutoburger Wald bekam Hilde Dymel einen „Radfahrerbrief“ als Urkunde.
Dass diese Tour über Berlebeck führte, war vermutlich kein Zufall, denn hierhin war die ehemalige SPD-Reichstagsabgeordnete für den Wahlkreis Westfalen-Süd Berta Schulz gezogen, deren Rat für Herner Sozialdemokraten weiterhin wichtig war.
Neben den vielen als Freizeitaktivitäten getarnten Treffen, bei denen z. B. gerne Schach gespielt wurde, für den Fall, dass unangemeldete, unangenehme „Besucher“ kämen, führte die Gruppe weitere Aktionen durch. So berichtete das Gruppenmitglied Karl Wolmeyer später über Hilfen für emigrierte Juden, die nur 10 Reichsmark ins Ausland mitnehmen durften. Obwohl deren Wohnungen durch das Finanzamt versiegelt waren, seien sie dennoch eingestiegen, hätten Wertgegenstände herausgeholt und über die grüne Grenze zu ihnen geschmuggelt. Auch hätten sie SPD-Genossen über die grüne Grenze gebracht.
Der Schwerpunkt der Gruppe lag aber wie bei den meisten widerständigen Sozialdemokraten auf dem Informationsaustausch und der Beschaffung und Weiterreichung von Informationsschriften des SOPADE-Exilvorstandes. Über ein Netz von Kurieren, Schmugglern und Materialanlaufstellen gelangen illegale Zeitschriften und getarnte Schriften ins Ruhrrevier – auch nach Herne. Vereinzelt nahmen Mitglieder der Herner Lesekreise auch an SPD-Tagungen in den Niederlanden teil und wirkten bei der Erstellung und Weiterleitung von Stimmungs- und Lageberichten aus dem Revier an Ernst Schumachers Grenzsekretariat in Antwerpen mit. Öffentliche Außenwirkung in der Stadt war nicht ihr Ziel, sie wollten sich zuvorderst informieren, einander Halt geben und ihre sozialdemokratischen Überzeugungen und Verbindungen bewahren.
Ein Freund Alfreds, Franz Kastner aus Recklinghausen, war der als Brotfahrer gut getarnte Kontaktmann für den Herner Lesekreis. Ende August 1935 übernahm Alfred in Vertretung die Aufgabe eines Kuriers und fuhr mit dem Rad in die Grenzstadt Emmerich. Dort übergab er dem früheren sozialdemokratischen Betriebsratsvorsitzenden Josef Adam, einem wichtigen Verbindungsmann zwischen den Emigranten in Holland und den SPD-Gruppen im Ruhrgebiet, vermutlich einen Lagebericht und übernahm mehrere illegale Schriften wie z.B. die „Sozialistische Aktion“. Zurück in Herne gab er einen Teil der Schriften an Kastner und verteilte die anderen Schriften zum Lesen an seine Gruppenmitglieder, die diese wiederum an die von ihnen gebildete weitere Lesekreise weitergaben. Nach der Rückgabe versteckte er einen Teil der Schriften auf dem Boden seiner Wohnung.
Diese Aktivitäten blieben leider der Gestapo nicht verborgen. 1935 war bereits ein großes von der Brotfabrik „Germania“ in Duisburg organisiertes Verteilernetz, das Lesekreise vom Niederrhein bis ins Ruhrrevier mit illegalen Schriften versorgte, aufgeflogen. Nachdem ein Spitzel der Gestapo Franz Kastner als Kurier preisgab, setzte im Februar 1936 eine großen Verhaftungswelle ein: In Emmerich, Recklinghausen, Gelsenkirchen, Gladbeck, Marl, Castrop-Rauxel, Bochum, Essen, Köln, Stadtlohn, Gronau, Oer-Erkenschwick im Siegkreis und in Herne wurden mindestens 59 Personen verhaftet. Zu den Inhaftierten gehörten neben Alfred Dymel die Mitglieder seiner Gruppe sowie weitere Herner Sozialdemokraten.
Alfreds Leidensweg begann dabei mit Verzögerung: Beim ersten Festnahmeversuch der Gestapo in seiner Wohnung im Haus seiner Schwiegereltern in der Schloss-Strünkede-Str. 32 in Herne-Baukau war er nicht anwesend. Diese schickten die Gestapo-Schergen zu anderen Verwandten, bei denen er aber auch nicht anzutreffen war. Sein Schwager nutzte die Zeit, um zu Alfreds Mutter zu radeln und ihn zu warnen. Doch er kam zu spät am Haus in der Bahnhofstraße kurz vor der Kanalbrücke an und sah nur noch, wie Alfred in Handschellen abgeführt wurde. Für seine Familie begann eine Zeit der Drangsalierung: Mehrfache Hausdurchsuchungen, verbunden mit massiver Einschüchterung und Androhung von Inhaftierung, schikanöse Behandlung durch die örtliche Polizei, Arbeitslosigkeit für seine Ehefrau Hilde und Angst um seine Situation.
Die Torturen, die die Nazis ihren Gegner aus der Arbeiterbewegung bereiteten, waren den jungen Hernern aus den illegalen Schriften, insbesondere dem „Braunbuch“ bekannt. Nun mussten sie diese selber erfahren, wie ein Mitglied seiner Gruppe, der spätere Herner Oberbürgermeister Robert Brauner berichtete: Vernommen wurden sie immer nachts, wenn außer den Gestapo-Leuten keine anderen Personen im Polizeigebäude waren. Gefangene wurden dabei, so erinnerte sich Brauner, derart „sadistisch“ verprügelt, dass sie anschließend kaum
noch wiederzuerkennen waren.
Vom 12. bis zum 17. Oktober 1936 verhandelte dann der IV. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm die „Hochverratssache“ gegen Alfred Dymel und 26 andere Mitgefangene (5 OJs 127/36). Weitere Prozesse als Folgen der Verhaftungswelle im Februar gab es in Essen und vor dem Volksgerichtshof. Der Prozess in Hamm fand statt unter Ausschluss der Öffentlichkeit, insbesondere der Angehörigen, denen jede Information vorenthalten wurde. Das Gericht verhängte erwartungsgemäß die „angemessenen“ Strafen. Alfred Dymel wurde wegen seiner „umfangreichen aktiven Tätigkeit“, „insbesondere als Organisator eines zellenähnlichenLesekreises“ sowie „als Kurier und Schriftenverteiler“ zu einer Zuchthausstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. „Wegen seiner gewissenlosen staatsfeindlichen Tätigkeit mussten ihm auch die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von drei Jahren aberkannt werden.“1
Die nächste Station seiner Haftzeit war das Zuchthaus Herford, wo er 19 Monate isoliert in Einzelhaft verbringen musste und bei Strafarbeiten gesundheitsschädlichen Dämpfen ausgesetzt war. Danach wurde er in das Strafgefangenenlager Oberems bei Gütersloh verlegt. Hier zog er sich bei schweren körperlichen Arbeiten eine Fußverletzung zu, die ihm zeitlebens
Probleme bereitete. Am 23. April 1940 teilte ihm die Generalstaatsanwaltschaft Hamm mit, „dass auf Gesuch Ihrer Ehefrau vom 15.01.1940 der Herr Reichsminister der Justiz durch Erlass vom 12. April 1940 (…) bei weiterer guter Führung in der Strafhaft die Unterbrechung der Strafvollstreckung am 17. Mai 1940 angeordnet (hat)“. Die Reststrafe von drei Monaten Zuchthaus wurde mit Bewährungsfrist bis zum 31.Mai 1943 ausgesetzt und Alfred Dymel am 17.Mai 1940 vorzeitig aus der Haft entlassen.
Wegen seiner „staatsfeindlichen Betätigung“ war er zwangsläufig als „wehrunwürdig“ vom Dienst in der Wehrmacht für dauernd ausgeschlossen. Als mit Fortdauer des Krieges, insbesondere nach dem Überfall auf die Sowjetunion immer mehr Soldaten ihr Leben lassen mussten, wurde er wie viele andere „Wehrunwürdige“ dennoch zum Kriegsdienst eingezogen – in die Bewährungseinheit (Strafdivision) 999. Nach der Ausbildung im Lager Heuberg (Baden-Württemberg) folgten Einsätze in Griechenland und auf der Krim. Dort erkrankte er an Malaria und musste wegen hoher Fieberanfälle mehrfach in Militärkrankenhäuser, zuerst im August 1943 in ein Lazarett bei Kallithea in Griechenland und zuletzt nach dem Rücktransport Mitte 1944 in das Reservelazarett auf dem Truppenübungsplatz Baumholder (Rheinland-
Pfalz).
Nachdem ab September 1944, vermutlich nach einer Geheimverfügung von Himmler, keine weiteren Rekrutierungen für die 999-Bataillone mehr durchgeführt und diese zum Teil abgebaut wurden, folgte für Alfred die nächste Schreckensfahrt: Am 27.September 1944 aus dem Lager Baumholder entlassen, ging es für ihn zusammen mit vielen anderen 999-Soldaten per Güterzug direkt ins Konzentrationslager Buchenwald.
Nur wenig berichtete Alfred später über das grauenvolle Erleben in diesem KZ, wo er vermutlich mit etwa 250 anderen 999ern in einem Quarantäne-Block untergebracht war. Dass er überlebte, verdankte er auch einer solidarischen Aktion: Unfähig wegen eines malariabedingten hohen Fieberschubs längere Zeit zu stehen, stützten ihn einige Mithäftlinge während eines lange andauernden Appells, ohne dass es den Wachposten auffiel.
Ein Kompetenzstreit zwischen der Kommandantur der Brigade 999 und ihrem Leitenden Richter führte im Oktober 1944 zur überraschenden Freilassung von 999ern aus dem KZ Buchenwald. Doch Alfreds Freilassung wurde schnell zur Flucht: Verfolgt von SS-Leuten mit Spürhunden rannte er gemeinsam mit einem Mithäftling zum Güterbahnhof und sprang auf den erstbesten Zug. Nach langer Reise endlich wieder zurück in Herne war er noch lange nicht außer Gefahr. Die letzten Kriegswochen verbrachte er mit seinem Schwiegervater Ferdinand Schneider, früher SPD-Ortsvereinsvorsitzender in Herne-Baukau, in einem Versteck, das nicht einmal die Familie kannte. So entging er wahrscheinlich den von der Gestapo in den letzten Kriegstagen im Ruhrrevier durchgeführten Verhaftungen etlicher Oppositioneller und ihrem Abtransport nach Dortmund in die Steinwache sowie ihrer Ermordung im Rombergpark.
Nach der Befreiung vom NS-Regime leitete er das Kreiswohnungsamt in Herne, angesichts der Wohnungsnot infolge des Krieges auch in dieser Stadt keine leichte Aufgabe. Seine politischen Aktivitäten erreichten nicht mehr die Intensität der Zeit vor seiner Inhaftierung. Er blieb SPD-Mitglied, gehörte auch der VVN an und übernahm zeitweise den Vorsitz der Herner Ortgruppe der „Naturfreunde“. Doch gesundheitliche Beeinträchtigungen (häufige Malariaschübe, mehrere Krebserkrankungen), nicht verarbeitete Traumatisierungen sowie familiäre Krisen in Verbindung mit dem frühen Tod seiner Ehefrau Hilde setzten seinem Engagement enge Grenzen. Zermürbt haben ihn wie viele andere Verfolgte und Opfer der NS-Gewaltherrschaft sicherlich auch die mehr als ärgerlichen Auseinandersetzungen mit den zuständigen Behörden in Wiedergutmachungsfragen sowie das Desinteresse der Herner Öffentlichkeit an den Erfahrungen des Widerstands gegen das NS-Regime in unserer Stadt.
Was aber bleibt, ist das, was er seinen Kindern eindringlich bis zu seinem Tod vermittelt hat., nämlich entschieden und konsequent, basierend auf einer antifaschistischen Grundhaltung, allem rassistischen, völkischen oder nationalistischen Denken und Handeln entgegenzutreten.
Rolf Dymel2
Anmerkungen
- Urteil vom 17.Oktober 1936) ↩︎
- In diesem Text über meinen Vater Alfred Dymel stütze ich mich auf die Ergebnisse zweier Nachforschungen zu den Aktivitäten seiner Widerstandsgruppe und ihrer Verfolgung: Die erste Recherche führte meine jüngste Tochter Frauke bereits vor acht Jahren für eine schulische Facharbeit über den Widerstand junger Herner Arbeiter gegen das NS-Regime am Beispiel ihres Großvaters durch. Ihr verdanke ich wertvolle Anregungen für meine eigenen Nachforschungen, die ich in Kooperation mit der DGB-Geschichtswerkstatt Herne in verschiedenen Institutionen wie bspw. dem Herner Stadtarchiv, dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen in Münster und dem International Tracing Service Arolsen durchgeführt habe. Da ich es zu meinem großen Bedauern versäumt habe, meinen Vater ausführlich zu befragen, und die letzte mir bekannte Zeitzeugin Elfriede Affeldt, die Schwester meiner Mutter, im letzten Jahr hochbetagt verstorben ist, bin ich, wie sicherlich viele andere Kinder und Enkelkinder von Widerstandskämpfern, auf diese oft sehr mühsame Spurensuche angewiesen. Eine ausführliche, mit den erforderlichen Quellenangaben versehene Darstellung des Wirkens und der Verfolgung des kleinen sozialdemokratischen Widerstandskreises in Herne ist geplant. ↩︎