Die Besetzung des Ruhrgebietes durch französisches Militär
„An einem Januarmorgen 1923 kam ich mit einigen Bergleuten von der Nachtschicht. Auf der Straße standen Militärwagen, Geschütze, Gulaschkanonen. Soldaten in blaugrauen Uniformen und flachen Stahlhelmen, die ich bisher noch nicht gesehen hatte, saßen auf den Wagen oder standen herum,“ berichtet ein Zeitzeuge vom Einmarsch französischer Truppen ins Ruhrgebiet.
Am 11. Januar 1923 begann die Besetzung des Reviers zwischen Duisburg und Dortmund. In Wanne und damit in Unser-Fritz, Eickel und Herne zeigten sich am 15. Januar 1923 die ersten französischen Soldaten.
Am Nachmittag besetzten zwei Offiziere und 52 Soldaten die Schleuse 5 des Rhein-Herne-Kanals im Wanner Norden und nahmen anschließend den Industriehafen Wanne in Beschlag. Das Regiment 147 besetzte den Landkreis Gelsenkirchen mit den Gemeinden Wanne, Röhlinghausen, Eickel und Höntrop. Der kommandierende General Degoutte stationierte allein in der Gemeinde Wanne 50 Offiziere und 1300 Soldaten. Einen Tag später erklärten die Franzosen Gelsenkirchen, Wanne,Röhlinghausen, Eickel und Unser-Fritz zum besetzten Gebiet.
Nach dem für das deutsche Kaiserreich verlorengegangenen Ersten Weltkrieg musste Deutschland hohe Wiedergutmachungszahlungen an Frankreich leisten. Die erste deutsche demokratische Republik konnte diesen Verpflichtungen aufgrund der wirtschaftlichen Situation kaum nachkommen. Der Staat betätigte die Geldpresse um den Preis einer schwindelerregenden Geldentwertung bis zum Jahr 1923. Ein Pfund Rindfleisch zu 4200 Mark, ein Pfund Schweinefleisch zu 3500 Mark, Butter 7400 Mark und Bohnenkaffee gar 16000 Mark.
Als die französische Regierung Ende des Jahres 1922 feststellte, dass Deutschland den vereinbarten Holz-und Kohlelieferungen nicht nachkam, entsandte Frankreich Truppen ins Ruhrgebiet. Die deutsche Regierung unter Reichskanzler Cuno stellte daraufhin alle weiteren Zahlungen an Frankreich ein. Am 13. Januar 1923 proklamierte die Regierung den passiven Widerstand gegen die Besatzungstruppen.
„Als Antwort auf die Besetzung rief die Regierung zum passiven Widerstand auf. Das bedeutete für uns, wir fuhren zwar in den Schacht ein, bekamen auch unseren Durchschnittslohn, durften aber keine Kohle fördern. Wir blieben also in unseren Revieren zusammen und diskutierten über alle Ereignisse sowie über Mittel und Wege, wie es weitergehen sollte. Das war wohl die umfangreichste Schulung der Bergarbeiter, die die Grubenherren gegen ihren Willen für uns organisiert hatten,“ erzählt ein Gewerkschafter über die Zeit des passiven Widerstands.
In dieser Zeit entstand der legendäre Spruch:
„Arbeiter, findest Du eine Kiste, dann lass Dich ruhig nieder,
der passive Widerstand kehrt niemals wieder!“
Der Einmarsch in Wanne, Eickel und Unser-Fritz
Am 15. Januar 1923 legte die Ruhrarbeiterschaft die Arbeit nieder.
„Um 11 Uhr kündete das Geheul der Sirenen auf den Zechen den Zeitpunkt der Arbeitsniederlegung an, die auf allen Betrieben durchgeführt wurde. Sämtliche Geschäfte waren von 11 bis 11.30 Uhr geschlossen. Die öffentlichen Gebäude waren halbmast geflaggt,“ erinnert sich der Chronist der Lokalpresse an den 15. Januar 1923.
Die Amtmänner von Eickel und Wanne, Maßmann und Weiberg, protestierten gegen die Besetzung bei der örtlichen Kommandantur, die in der Brockhoffschen Wirtschaft in Crange untergebracht war. Die Belegschaft der Zeche Unser-Fritz fasste während einer Versammlung den Beschluss, im Fall einer Zechenbesetzung durch die Franzosen mit dem Streik zu antworten. Drei Tage später kam es zu einer Besprechung der Betriebsräte aller Schachtanlagen von Wanne mit den französischen Offizieren.
Die Betriebsräte stellten die soziale und wirtschaftliche Not der Arbeiterfamilien dar, die angesichts der fortschreitenden Geldentwertung und der Lebensmittelknappheit fast auswegslos schien. Die Arbeitervertreter erinnerten den französischen Oberst an das Wort seines Generals, dass die Bevölkerung nicht unter der Besatzung leiden würde. Doch die wirtschaftlichen Folgen der Ruhrbesetzung und die galoppierende Inflation ließen den Spruch des französischen Generals zum frommen Wunsch werden.
Der französische Oberst verharmloste die Problematik, als er erklärte, dass bei einer Bevölkerungsgröße von 20 000 Einwohnern der Lebensmittelbedarf für die französischen Soldaten nicht problematisch sein könnte.
„Durch diese Unterredung mit dem Sachwalter der französischen Machthaber hat die Industriearbeiterschaft zum so und so vielten Mal in dieser schweren Zeit den Beweis erbracht, dass sie von einem soliden Gemeinschaftsgeist durchdrungen ist. Es kann deshalb mit Fug und Recht von dem Kapital und wirtschaftspolitischen Kreisen verlangt werden, dass die der Arbeiterschaft bereits gesetzlich gewährten Rechte in Zukunft respektiert werden,“ lobte der Wanner Polizeiinspektor Porath die Vertreter der Wanner Bergarbeiter in seinem Bericht an den westfälische Oberpräsidenten in Münster.
In den nächsten drei Monate verschärfte sich das politische Klima im Raum Wanne erheblich. Drei zentrale Ereignisse zeichneten dafür verantwortlich: im Monat Februar die erste Bahnhofsbesetzung in Wanne, im Monat März die Verhaftung des Amtmannes Weiberg und Anfang April die Sprengung des Kanals durch Albert Leo Schlageter, der später von den Nazis zum Nationalhelden hochstilisiert wurde.
Während der ersten Wochen der Ruhrbesetzung schaffte die Reichsbahn größere Menschen an Kohle und Koks in den unbesetzten Teil Deutschlands. Das französische Militär reagierte auch im heutigen Stadtgebiet sofort. Am 7. Februar 1923 besetzten französische Soldaten den Bahnhof Unser-Fritz und die Blockstellen Baukau und Julia im Wanner Osten. Derartige Blockstellen gehörten zu den empfindlichsten Stellen im Eisenbahnnetz. In der Nähe zum Rhein-Herne-Kanal rissen die Besatzer mehrere Gleise auf, um den Zugverkehr besser kontrollieren zu können.
Am 8. Februar 1923, morgens gegen 9 Uhr, sperrte eine starke französische Abteilung den Bahnhofsvorplatz ab, um nach erfolgter Besetzung des Bahnhofsgeländes beladene Kohlenzüge zu beschlagnahmen. Zuerst verhafteten sie die Eisenbahn-Amtmänner Stauff und Hesseken. Kavalleriepatrouillen schwärmten zum benachbarten Postgebäude aus, das ebenfalls vom französischen Militär umzingelt wurde.
Als der Zug D 97 Köln-Hamburg in den Bahnsteig 4 des Wanner Bahnhofs einfuhr, mussten alle Fahrgäste auf Befehl des zuständigen Offiziers sofort den Zug verlassen. Mit aufgepflanztem Seitengewehr gingen die Franzosen gegen die Menschen vor. Der Postschaffner Johann Beißel vom Bahnpostamt 8 wurde durch einen Bajonettstich in das Gesäß verletzt. Der Betriebsarbeiter Karl Kuschmierz und der Schlosser Josef Obert leisteten aktiven Widerstand gegen die Bahnhofsbesetzung, worauf sie von den Franzosen wegen Sabotage verhaftet wurden.
Der Wanner Amtmann Weiberg reagierte mit einem Protestschreiben auf die Besetzung. Darin stellte Weiberg fest, dass „durch die Besetzung des Knotenpunktes der ganze Verkehr lahmgelegt und die Lebensmittelversorgung gefährdet“ wurde.
Abends gegen 18.00 Uhr endete die erste Besetzung des Wanner Bahnhofs. Alle verhafteten Personen wurden auf Veranlassung der Ortskommandantur abends wieder freigelassen.
Am 24. Februar und am 5. Juni 1923 kam es zu weiteren Bahnhofsbesetzungen. Die Wanner Eisenbahner zogen bereits nach der ersten Besetzung die Konsequenzen, als die Personenzüge nicht mehr gefahrenlos im Wanner Bahnhof halten konnte. Prof. Dr. Wilhelm Brepohl, ehemaliger Leiter der Sozialforschungsstelle Dortmund, berichtet als Zeitzeuge, dass ein paar hundert Meter vor dem Wanner Bahnhof an der Strecke Wanne-Gelsenkirchen-Bismarck ein altes Bahnwärterhäuschen stand. Dort, in der Nähe der heutigen Gelsenkircher Straße, hielten die Personenzüge auf freier Strecke an. Der Volksmund nannte diesen provisorischen Haltepunkt „Bahnhof Wild-West“. Als die Franzosen von diesem „Bahnhof“ erfuhren, kam es dort zu schweren Schießereien.
Im März 1923 verschlechterte die Verhaftung des Wanner Amtmannes Friedrich Weiberg weiter das politische Klima am Ort.
„Wegen Verweigerung französischer Befehle: drei Jahre Gefängnis und fünf Millionen Mark Geldstrafe,“ lautete das Urteil des französischen Kriegsgerichtes im März 1923 gegen Weiberg. Bereits Anfang Februar weigerte sich Weiberg, den Zechen die Anweisung zu geben, an das französische Militär die Kohlenvorräte auszuliefern. Nicht nur aufgrund dieser Weigerung machte sich Friedrich Weiberg beim Ortskommandaten unbeliebt.
In einem Gespräch mit dem Kaufmann Bröldick von der Dorstener Straße erklärte Hauptman Damas bereits am 12. Februar, „dass der Wanner Bürgermeister eingesperrt wird, falls keine Kohlen geliefert werden.“ Am 5. März 1923 war es dann soweit: Weiberg wurde verhaftet.
Aus Protest blieben die Wanner und Unser-Fritzer Geschäfte für einen Tag geschlossen.
Die authentische historische Darstellung der sogenannten Franzosenzeit muss einen weiteren Gesichtspunkt berücksichtigen. Es gab zu dieser Zeit nicht nur eine einfache Frontstellung „Franzosen gegen Deutsche“. Innerhalb des französischen Militärs dienten auch Gewerkschaftler und international eingestellte politische Kräfte. Das wird im Mai 1923 bei den sogenannten „Mai-Unruhen“ deutlich, als französische Soldaten in den Demonstrationszügen der Bergarbeiter mitzogen, und die „Internationale“ und die „Marseillaise“ sangen. Einige dieser Soldaten sollen nach Augenzeugenberichten in der Nähe des Flugplatzes Rotthausen in Gelsenkirchen erschossen worden sein.
In einem Schreiben der Amtsverwaltung von Wanne vom 22. März 1923 an die Regierung in Arnsberg wird ein ähnlicher Vorgang dokumentiert.
„Am 12. ds. Mts. versuchten einzelne Trupps in Stärke bis zu 10 Mann, mit Knüppeln ausgerüstet, Plakate von denen 2 Exemplare beifügt werden, anzukleben. Dieses wurde durch die Polizei verhindert, bzw. die Plakate wurden sofort entfernt…Angehörige der Kommunisten und Mitglieder der (proletarischen) Hundertschaft, deren Namen noch nicht einwandfrei festgestellt sind, sind dann zur französischen Besatzung gegangen und haben diese aufgefordert, ihnen zu helfen. Unter dem Schutz von etwa 40 Franzosen klebten nun die Kommunisten die Plakate an…Während dieser Aktion durchsuchten die Franzosen die Straßenpassanten auf Waffen…Kriminalinspektor Beuker und Kriminalbetriebsassistent Stöcker, die sich auf einem Patrouillengang befanden, wurden verhaftet, weil sie – wie hier angenommen wird – eine Schusswaffe bei sich führten…Durch einen Polizeibeamten hat der Führer der Franzosen – ein Offizier – der Polizei mitteilen lassen, dass, wenn die Polizei noch einmal gegen Arbeiter vorgehen würde, die Franzosen gegen die Polizei vorgehen würde…Im Laufe des Abends wurden dann noch die besseren Schanklokale am Orte von einer Abteilung Franzosen in Kompaniestärke nacheinander besetzt und die Gäste auf Waffen durchsucht…“
Stichwort Widerstandsaktionen gegen die französische Besatzung:
Auf der Eisenbahnstrecke zwischen dem Wanner Bahnhof und Bahnhof Zoo entgleisten mehrere Kohlenzüge im Bereich des Unser-Fritzer Bahnhofs. Von ähnlichen Aktionen im Raum Wanne-Eickel/Herne ist nichts bekannt.
Am 7. April 1923 trat Albert Leo Schlageter in Aktion, als er den Verbindungskanal zwischen Dortmund-Ems- und Rhein-Herne-Kanal auf einer Breite von 4 Metern sprengte. In wenigen Stunden liefen weite Strecken des Kanals bis einschließlich des Herner Hafens vollständig leer. Zahlreiche beladene Schiffe, die Kohle und Koks aus dem Revier auf Veranlassung der französischen Besatzer nach Frankreich abtransportieren sollten, kippten im Kanalbett um.
General Degoutte ließ die komplette Kanalzone zum militärischen Sperrgebiet erklären. Ergänzend verfügte die zuständige Kommandantur in Recklinghausen, dass jeder Zivilist, der nachts in der Nähe von Eisenbahnlinien, Kanälen und öffentlichen Bauanlagen kam, eine gut sichtbare Laterne mitführen musste.
Die Sprengung verhinderte für längere Zeit den Abtransport größerer Mengen an Kohle und Koks nach Frankreich auf dem Wasserweg. Albert Leo Schlageter wurde am 25. Juni 1923 hingerichtet.
Die sogenannte Kommunistenschlacht von Wanne
„Die Maistreiks der Bergleute und der Stahlarbeiter des Ruhrgebietes waren eines der erschütterndsten Ereignisse des Jahres 1923,“ stellt der amerikanische Historiker Larry Peterson über die damaligen Vorgänge im Revier fest. Seit dem 16. Mai 1923 breitete sich im Ruhrgebiet eine Streikwelle für höhere Löhne und Teuerungszahlungen aus. Die Lage der Arbeiterfamilien war verzweifelt, die Löhne hinkten weit hinter der galoppierenden Inflation hinterher.
„Auf der Zeche wurde bald jeden zweiten Tag der Lohn ausbezahlt, nachher sogar jeden Tag. Dann musste man im Dauerlauf von der Zeche zum Händler, wenn man noch was Vernünftiges für sein Geld kriegen wollte,“ erinnert sich ein Bergmannssohn.
Am 26. Mai erreichte die Streikwelle das Gemeindegebiet von Wanne. Radikale Arbeiter legten zunächst die Arbeit auf der Zeche Shamrock 3/4 nieder und zogen anschließend zur Maschinenfabrik Knapp im Eickeler Norden. Die Metallarbeiter schlossen sich dem Kampf an. Gegen Mittag unterbrachen Streikwillige Bergleute die Seilfahrt auf der Zeche Pluto, Schacht Thies, in Röhlinghausen. Die Streikenden verschafften sich Zugang zur sogenannten Materialbude.
„Dort raubten sie sämtliche Hacken-und Schüppenstiele und zogen dann in einer Stärke von etwa 2 000 Mann nach Schacht Wilhelm, um hier das Schauspiel zu wiederholen,“ berichtet der Chronist der Lokalpresse.
Zwischenzeitlich alarmierte die Zechenverwaltung die Polizei, die unter der Leitung von Polizeikommissar Vogelsang über die Wilhelmstrasse anrückte. Zwischen der Polizei und den „proletarischen Hundertschaften“, wie sich die militärisch organisierten Selbstschutzgruppen der Arbeiter nannten, kam es zu Kämpfen um den Zugang zum Zechengelände bis weit in den Abend hinein. Trotz weiterer Verstärkung der Hundertschaften durch radikale Arbeiter aus Gelsenkirchen gelang es den Wanner und Eickeler Bergleuten nicht, die Zeche Pluto, Schacht Wilhelm, zu besetzen. Die blaue Polizei machte von der Waffe Gebrauch, worauf die Arbeiter in die Wanner Innenstadt zogen.
„Inzwischen hatte sich auf der Hindenburgstraße (heute Hauptstraße) eine nach Tausenden zählende Menge eingefunden, aus der heraus die patroullierenden Beamten mit Steinen beworfen und verhöhnt wurden.“
Die gewalttätige Demonstration in der Innenstadt löste die Polizei mit der Stichwaffe in der Hand auf. Abends gegen 11 Uhr kehrte wieder Ruhe ins Gemeindegebiet ein.
Am Abend des 26. Mai ruhte die Arbeit auf der Zeche Pluto mit beiden Schächten, auf der Zeche Königsgrube und auf der Zeche Unser-Fritz 1/4. Auf Schacht 2/3 der Unser-Fritzer Zeche fuhren die Kumpels an. Der Grund ist unbekannt. Die französische Besatzung verhielt sich zunächst neutral, um dann einige Zeit später für das gesamte Wanner Gemeindegebiet ein generelles Demonstrationsverbot zu erlassen. Starke französische Militärpatroullien kontrollierten an diesem Samstagabend die Amtsbezirke und die Gemeindegebiete und damit auch den Wanner Norden.
Die proletarische Hundertschaften zogen in die Gaststätte Schübbe an der heutigen Edmund-Weber-Strasse zurück, wo sie vergeblich auf Verstärkung aus anderen Städten warteten. Trotz des Versammlungsverbotes bewegten sich die proletarischen Hundertschaften unbehelligt durch Röhlinghausen. Sie requirierten Waren bei verschiedenen Kaufleuten und übergaben den Geschädigten eine Bescheinigung mit der Unterschrift „Die Hundertschaft des Präsidiums, Druschinski“. Der Pferdehändler Verstege und der Wirt Moder wurden sogar „verhaftet“ und zum Verhör nach Gelsenkirchen-Bulmcke gebracht.
Von ähnlichen Vorgänge im Wanner Norden ist nichts bekannt. Eine Erklärung für diese Tatsache könnte sein, dass sich in der Wirtschaft Brockhoff die Kommandantur der Franzosen befand.
Die Verwaltung der Gemeinde Eickel reagierte mit einer Polizeiverordnung auf die Unruhen: Alle Schanklokale und Gastwirtschaften wurden geschlossen, der Ausschank von Alkohol wurde verboten.
Erst das neue Lohnabkommen für den Ruhrbergbau vom 28. Mai 1923 mit einer inflationsbedingten Erhöhung von 53,8% beendete die sogenannte Kommunistenschlacht in Wanne.
Die historische Forschung zu den Mai-Streiks des Jahres 1923 kommt zu folgenden Ergebnissen. Der schon zitierte US-Amerikaner Larry Peterson gelangt zu Resümee: „Zum ersten Mal seit dem Kapp-Putsch (März 1920) ergriffen die Arbeiter in einer größeren Ruhrgebietsstadt die lokale politische Macht.“ Gemeint ist die Nachbarstadt Gelsenkirchen. Die sogenannte „Wanner Kommunistenschlacht“ stellt nichts anderes dar, als der Versuch der organisierten Arbeiterschaft, die politische Macht in Wanne zu übernehmen.
Die Besetzung der Zeche Unser-Fritz
Am 22. Juli 1923 erfolgte die Besetzung der Zeche Unser-Fritz. Die Besetzung dauerte insgesamt 74 Tage. Die berüchtigte Kontrollkommission „Micum“ zur Überwachung der Reparationslieferungen beschlagnahmte, was ihr begehrenswert erschien. Dazu gehörten nicht nur Kohlen und Koks, sondern auch Grubenholz und vieles mehr. Die Verladung von der Schachtanlage Unser-Fritz erfolgte unter militärischer Bewachung. Die Lokalpresse berichtete nichts über die Besetzung der Zeche Unser-Fritz.
Die Novemberunruhen in Unser-Fritz
Über die Novemberunruhen in Unser-Fritz ist bisher folgendes veröffentlicht worden. Im Emscherbrücher, der Zeitschrift der Gesellschaft für Heimatkunde Wanne-Eickel (Ausgabe Nr. 1 aus dem Jahr 1974), schrieb Heinz Brüntgens folgendes:
„Während des Ruhrkampfes stiegen die Preise, und die Knappheit an Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen gehörte zur Tagesordnung. Diese schlechten Verhältnisse wurden von radikalen Elementen ausgenutzt und so kam es auf der Zeche Unser-Fritz am 8.November 1923 nach einer Belegschaftsversammlung zum Sturm auf das Verwaltungsgebäude. Die gesamte Einrichtung der Verwaltung wurde zerstört und ein großer Teil der Akten verbrannt. Der damalige Direktor Wolter und einige seiner leitenden Angestellten wurden schwer misshandelt.“
Diese Darstellung passt einigen konservativen Historiker gut in den Kram. „Die radikalen Elemente“ als Verursacher eines Krawalls.
Heinz Brüntgens nennt keine einzige Quelle für seine hier vorgetragenen Behauptungen. Auch über die konkreten Motive der Arbeiter, die Zechenverwaltung zu stürmen, werden keine Angaben gemacht. Der Unser-Fritzer Bergmann wird hier dargestellt, als wenn er dumm und tumb ist, der sich von radikalen Elementen aufhetzen lässt. Wenn die Kohlenzüge auf dem Weg nach Frankreich in Unser-Fritz entgleisen, gelten die „Täter“ als Nationalhelden im Kampf gegen Frankreich. Wenn dieselben Familienväter ihre von einer Schiedskommission vereinbarten Tarifeinzahlungen erwarten, gelten sie als von „radikalen Elementen“ aufgehetzt.
Am Tag der massiven Proteste in Unser-Fritz am 8. November 1923 meldete die Wanne-Eickeler Zeitung: „Sturz der deutschen Papiermark: am 19. März 1919 gab es für 10 Mark 1 Dollar, am 23. Oktober 1923 musste für 1 Dollar 50 Mrd.Mark auf den Tisch geblättert werden.“
Die Redaktion des Wanne-Eickeler Tageblatts meldete für die Abonnenten:
„Die Wanne-Eickeler Zeitung kostet für die Zeit vom 11. bis 16.November 1923 80 Mrd. Mark. Wir bitten dringend die Quittung am Donnerstag pünktlich einzulösen, andernfalls wir uns gezwungen sehen, einen Aufschlag von 10 Mrd. Mark zu nehmen. Verlag die Wanne-Eickeler Zeitung.“
Am Freitag, dem 9. November 1923 machte die Lokalzeitung mit folgenden Überschriften auf der Titelseite auf:
„Staatsstreich der bayerischen Putschisten – Umsturz im München –
Hitler ruft die nationale Diktatur – Hitler, Kahr, Ludendorff und Poehlner als Männer der Reichsregierung“
In der gleichen Ausgabe der Wanne-Eickeler Zeitung ist folgendes auf der Lokalseite zu lesen:
„Zu schlimmen Tumulten kam es infolge von Lohndifferenzen gestern auf der Zeche Unser-Fritz. Die Belegschaften von 1/4 und 2/3 versammelten sich in Höhe von mehreren tausend vor dem Verwaltungsgebäude, warfen alle Fensterscheiben ein und drangen schließlich in die Büros, die jetzt das Bild gänzlicher Zerstörung bieten. Man zerschlug alle Pulte, Schränke und Stühle und warf die Akten ins Freie, wo sie in Brand gesteckt wurden. Einem Verwaltungsvorsteher demolierte man einen Teil der Wohnung. Ihm schlachtete man außerdem das Geflügel ab. Einem anderen Verwaltungsmitglied soll man außerdem eine Kuh weggeführt haben. Die Demonstranten stürmten ferner ein Magazin und holten aus diesem eine Menge Hackenstiele heraus.
Mittags 2 Uhr versammelten sie sich wiederum auf dem Zechenplatz. die einzelnen Reviersteiger sollen gezwungen worden sein, sich an die Spitze ihrer Gruppen zu stellen, die teilweise mit Hackenstielen ausgerüstet waren.
Dann zog man nach Schalke zur Zeche Consolidation. Auf dem Weg dorthin soll es nach uns gewordenen Mitteilungen zu schweren Zusammenstößen mit der Gelsenkirchener Polizei gekommen sein. Man spricht von blutigen Opfern, die 1 Toter und 20 Schwerverletzte betragen sollen.“ (W-E.Zeitung, Nr. 264, vom 9.11.1923)
Einen Tag später wurde die letztgenannte Nachricht korrigiert: 2 Tote und 5 Schwerverletzte. Die Wanne-Eickeler Zeitung meldete weiterhin:
„Die Belegschaft der Zeche Unser-Fritz in Wanne, in Stärke von 5000 Mann, hatte schon am Vormittag beschlossen, nach Schalke zu gehen und dort mit dem Direktor des Mannesmann-Konzerns zu verhandeln. An diesem Vorhaben wurde sie jedoch durch die französische Besatzung gehindert.
Im Laufe des Nachmittags gelang es der Belegschaft dennoch, nach Schalke zu gelangen. Sonderbarerweise hatten sich mehrere tausend Mann mit neuen Hackenstielen, Totschlägern und sonstigen Werkzeugen bewaffnet. Auf der Bismarckstrasse gelang es, sie von ihrem Vorhaben, nach Schalke zu ziehen, abzubringen.
Später sammelte sich der Zug wiederum auf der Grillostrasse und versuchte, durch die Schalker Strasse zum Hauptverwaltungsgebäude auf der Gewerkenstrasse zu gelangen. Die sich entgegenstellenden Polizeibeamten wurden auf der Schalker Strasse so bedroht, dass der leitende Beamte den Einsatz der Schusswaffen befahl. Mit der Folge: 2 Tote und 5 Schwerverletzte und 2 Leichtverletzte. Alle stammen aus Wanne.“ (W-E.Zeitung, Nr. 265, vom 10.11.1923)
An diesem Samstag konnten es alle Unser-Fritzer Kumpels schwarz auf weiß lesen: Die gesamte Belegschaft der Schächte 1/4 und 2/3 wurde „infolge der Vorkommnisse“ vom Mannesmann-Konzern entlassen.
Wir halten als Zwischenresümee der bisherigen Darstellung fest:
- Die Unser-Fritzer Kumpels waren von radikalen Elementen aufgehetzt. Nur warum wird dann die komplette Belegschaft als Reaktion auf die Vorkommnisse entlassen ?
- Alle hatten Hackenstiele in der Hand.
- Sie wollten mit den Herren des Mannesmann-Konzerns verhandeln. Kein Wort davon, worüber die Unser-Fritzer verhandeln wollten.
- Die Kumpels aus Unser-Fritz waren gewalttätig, bösartig und hatten kein Motiv für ihr Handeln.
- Warum konnten die französischen Soldaten die Bergarbeiter nicht an ihrem Marsch nach Schalke trotz allergrößter militärischer Präsenz hindern ?
- Warum waren die Arbeiter mit den mehrfach erwähnten Hackenstielen „bewaffnet“ trotz der französischen Besatzung?
- Warum stellte sich die Polizei den Demonstranten entgegen, die doch demselben Bericht nach nur verhandeln wollten ?
Weitere zwei Tage später passierte Unglaubliches. Die Redaktion der Wanne-Eickeler Zeitung druckte in der ganzen Länge eine Stellungnahme der Gewerkschaften und der Angestellten ab. Diese Stellungnahme bringt Licht in die Ursachen des Aufstandes in Unser-Fritz.
„Durch die Halsstarrigkeit der Bergbauunternehmer, entsprechend dem Schiedsspruch zu zahlen und durch die Verspätung, mit der man im Bergbau die Erwerbslosenunterstützung auszahlte, war die Erbitterung aufs Höchste gestiegen. Die Lebenshaltungskosten stiegen und steigen jeden Tag und verzweifelnd sieht der Familienvater, dass er noch nicht einmal seinen Säugling die Milch kaufen kann. Wenn der Vater, wenn die Mutter hungert, so hält man das eine Zeitlang aus, in der Hoffnung, dass es mal anders wird; aber ansehen, dass ein Kind verhungern muss, das ist qualvoll. Und wenn dann die gerechte Empörung sich Luft macht, so mögen alle diejenigen, die dazu beigetragen haben, an den Satz denken, den die letzte Nummer der Bergarbeiterzeitung schrieb:
„Wenn schon die Höllenfahrt angetreten werden muss, so sollen Stinnes, Vögler, Glöckner und deren Platzhalter vor uns her in die Hölle spazieren.“
So wie es im ganzen Ruhrgebiet geht, so ging es auch in Wanne auf den Schächten Unser-Fritz. Als man sogar am Donnerstag morgen dazu überging, diejenigen von der Seilfahrt auszuschliessen, die am Tage vorher nicht genug gefördert hätten, so schlug dieses den Boden aus. Keiner fuhr an, man verlangte Auszahlung der Gelder gemäß des Schiedsspruches. Denn hiernach hat fast jeder Hauer noch 1,5 Billionen Mark zu bekommen.
Die verantwortlichen Herren, Direktor Hohendahl und Assessor Lünken sind schon seit der Besatzung unsichtbar und nur Herr zur Nedden muss ganz ohne Vollmacht die Vertretung mimen. Nach telefonischen Verhandlungen mit dem Direktor Hohendahl wollte man eine halbe Billion zahlen, was von der Belegschaft als Verhöhnung aufgefasst wurde…
Als nun die Verhöhnung bekannt wurde, ging der Krawall los. Alles wurde im Büro entzwei geschlagen und aus dem Fenster geworfen. Dabei kamen die seltsamsten Dinge zum Vorschein. Während die Arbeiter fast nichts zum Anziehen haben, kam dort ein ganzes Lager von Decken, Strohsäcken, Zeug und Schuhen zum Vorschein, welche schon längst hätten verteilt werden können.
Die vernünftigen Elemente hatten große Mühe, Schlimmeres zu vermeiden. Die Demonstration nach Gelsenkirchen sollte über den Schalker Markt nach Wanne zurückgeführt werden, weil keiner der Direktoren in Gelsenkirchen anwesend war. Dieses wurde auch der Polizei mitgeteilt.
Von Unser-Fritz ausziehend, war alles in schönster Ordnung, Beamte, Angestellte und Arbeiter zogen revierweise über den Haverkamp, Bismarckstraße zur Oststraße, dort wurde der Zug durch die Franzosen auseinandergerissen.
Sie sperrten die Strasse ab, als schon 500 Mann durch waren und ließen dann schrittweise die anderen nachfolgen, in der Form, dass, wenn 300 Personen dort abmarschierten, mussten diese erst 1 km fort sein, dann konnten andere 300 Personen folgen.
Nun ging es weiter durch die Gewerkenstraße und man kam in die Nähe der Schalker Polizeiwache.
Hier war alles abgesperrt durch die Polizei, die allem Anschein nach den Begriff `Aufrechterhalten der Ordnung‘ darin sah, die hungernden Bergarbeiter möglichst von ihren übermächtigen Bergbauherrenmenschen abzuhalten.
Wir Bergarbeiter erklären vor aller Öffentlichkeit:
In friedlichster Demonstration daherziehend, hat die Polizei es verstanden, Unordnung in unsere Reihen zu bringen und der Brutalität der berühmten Gelsenkircher Gewerkschaftspolizei haben wir es zu verdanken, dass so viele unserer Kameraden haben sterben müssen, trotzdem sie nur der Mitwelt zeigten, dass auch sie ein Recht am Leben haben. Als Beweis unserer Ungefährlichkeit mag man die Polizeibeamten der Bismarcker Wache vernehmen, die uns friedlich ziehen ließen und nicht das Geringste geschah. Oder haben die hungernden Bergarbeiter kein Recht die Strassen von Gelsenkirchen zu betreten ?
Weitergehend an der Schalker Kirche vorbei wieder alles abgesperrt und auf Kommando eines schneidigen Führers: „Straße frei, 1,2,3“ und schon krachten die ersten Schüsse in die Menge…
Ein jeder wurde beschossen und fast alle Straßen, wo das Überfallkommando hinkam, gab es Tote und Verwundete. Das Auto kam angerasselt, 10 bis 12 Beamte kamen herausgesprungen mit der blanken Waffe und Revolver und ziel-und planlos wurde geschossen. ..Man raste weiter und fing dasselbe Manöver von vorne an bis zur Grenze nach Wanne auf der Wilhelmstraße…
Mit diesen Darlegungen glauben die Unterzeichneten vom Christlich-Organisierten angefangen bis zum Kommunisten, einschließlich der Angestellten und Beamtenschaft der Öffentlichkeit die notwendige Aufklärung gegeben zu haben.
Die Angestellten erklären, dass kein Angestellter gezwungen war, mitzuziehen.
Die Unterzeichner:
Für die Angestellten: Steiger Blum
Union der Kopf-und Handarbeiter: W. Müller
Verband der Bergarbeiter: Franz Jakubek
Kartell freier Gewerkschaften: Oskar Baumgart
Christlicher Gewerkverein: Paul Grunenberg
Organisierte Hirsch-Duncker: Kotschwara
Polnische Berufsvereinigung: Mazlankiewiez „
(aus: Wanne-Eickeler Zeitung, Nr.266, 12.11.1923)
Dieser Darstellung der Unterzeichneten wurde nur in einem Punkt öffentlich widersprochen. Und genau diese Tatsache verleiht der hier vorgetragenen Darstellung ihren hohen Wahrheitsgehalt.
Der historisch Interessierte erfährt endlich etwas über die Motive der Unser-Fritzer Bergarbeiter, um so radikal, so militant vorzugehen. Der Grund: Die Zechenherren hielten sich nicht an die Schiedssprüche staatlicher Institutionen bezüglich der Entlohnung der Bergarbeiter. Dazu kam die heute unvorstellbare Not der Familien. Ein Zeitzeuge aus jenen Tagen sagt dazu: „Wenn die Leute früher nach Brot geschrien haben, dann hatten sie wirklich Hunger.“
In folgendem Punkt widersprachen die Angestellten. Steiger Blum veröffentlichte einen weiteren Tag später einen Leserbrief in der Wanne-Eickeler Zeitung mit folgendem Inhalt:
„Darunter steht der Nachsatz, dass die Angestellten nicht gezwungen waren, an dem Demonstrationszug teilzunehmen.
Ich erkläre hiermit, dass dieser Nachsatz bei der Abgabe meiner Unterschrift nicht unter dem Artikel stand, denn die Tatsachen sind die, dass die Angestellten durch indirekte Drohung gezwungen waren, an der Demonstration teilzunehmen, welches durch Aussage meiner gesamten Kollegen bestätigt wird. gez. Steiger Blum.“
(Wanne-Eickeler Zeitung, Nr. 267, 13.11.1923)
Im schon zitierten „Emscherbrücher“, der Zeitschrift der Gesellschaft für Heimatkunde, stellt Autor Heinz Brüntgens in seinem Aufsatz „100 Jahre Unser-Fritz“ fest:
„Der Mannesmann-Geschäftsbericht von Mitte 1924 gibt wohl die beste Auskunft über die damals herrschenden Verhältnisse…“
Ohne auf die Inhalte des Geschäftsberichtes einzugehen, kann hier festgehalten werden, dass diese Art der Darstellung heute reichlich naiv und verfälschend erscheint. Die Berichterstattung der Kumpels, selbst in der bürgerlichen Tagespresse veröffentlicht, wird nicht einmal erwähnt.
Das Jahr 1923 endete im Stadtgebiet von Wanne-Eickel mit einem schrecklichen Ereigniß, dem sogenannten „Schwarzen Mittwoch von Wanne“. An diesem Schwarzen Mittwoch, dem 5.12.1923, starben 10 Menschen auf dem Rathausvorplatz in Wanne. Erschossen von der grünen Polizei, der Gewerkschaftspolizei. Dazu kamen 32 Verwundete. An diesem Tag demonstrierte die Wanne-Eickeler Arbeiterschaft für eine bessere Entlohnung und für eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln.
Nur eine kleine Tafel in einer Ecke des Holsterhauser Friedhofs erinnert an den Schwarzen Mittwoch von Wanne. Dort stand früher ein Denkmal für die Opfer dieses schrecklichen Tages in Wanne. Die Nazis rissen diesen Denkmal 1933 ab.
Norbert Kozicki