Auf dem Parteitag von Jena 1905 beschloss die Sozialdemokratische Partei Deutschlands eine Veränderung ihres Organisationsstatuts, indem ab sofort der Wahlkreisverein als politische Basis der Organisation eingeführt wurde. Dieses neue Statut entsprach den Forderungen der Mehrheit der Mitglieder nach einer strafferen zentralen Organisation. Ziel und Zweck bildete die Vereinheitlichung der Partei.
„Die Linke in der Dortmunder SPD erhoffte sich von der seit Jahren geforderten Zentralisation der Parteiorganisation, die reformistischen Führer an die Willensbildung der Mitglieder zu binden und sie so kompensieren zu können“, schrieb Karin Schneider in ihrer Magisterarbeit über die SPD im rheinisch-westfälischen Industriegebiet.
Formal bestand der Wahlkreisverein aus den Filialvereinen, wie die einzelnen Ortsgruppen bezeichnet wurden. Diese Filialvereine wählten ihre Vorstände, bestehend aus dem 1. und 2. Filialleiter, dem 1. und 2. Filialkassierer sowie zwei Schriftführern. Dieselbe Vorstandsstruktur wies der Zentralvorstand auf, der den Wahlkreisverein leitete. 1908 erweiterte sich der Zentralvorstand durch zwei oder mehrere Beisitzer und dem Parteisekretär, der einen ständigen Sitz im Vorstand erhielt.
Daneben existierten als Parteiorgane die Generalversammlung des Wahlkreisvereins, der Ausschuss, der dem Vorstand beigeordnet war, die Kontrollkommission, die Beschwerde- und Kassenberichtsprüfungsinstanz und die Pressekommission.
Auf der Generalversammlung delegierte man die Vertreter zum Parteitag des jeweiligen Bezirks, wobei auf 2000 Mitglieder ein Delegierter entfiel. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Bezirksparteitag und der Generalversammlung des Wahlkreisvereins bestand darin, dass der Bezirksparteitag nach Maßgabe der führenden Funktionäre die Richtlinien der Politik bestimmte, während die Generalversammlung als ausführendes Organ konzipiert war.
Die Darstellung dieses weitverzweigten Organisationsapparates der SPD in jenen Tagen ermöglichte die Feststellung: „Durch diesen weit verzweigten Organisationsapparat der Partei waren die Mitglieder faktisch als Kontroll- und Meinungsbildungskörperschaft ausgeschlossen. Zwischen sie und der Partei hatte sich durch die Delegiertenversammlung eine Funktionärsschicht geschoben, die sich als für die Partei ins gerade Gegenteil ihrer ursprünglichen Absichten auswirken sollte.“ (Karin Schneider)
D.h. es wird besonders für Parteimitglieder schwierig, sich in den Organisationsapparat einzubringen, die nicht so über verbale und verhaltensmäßige Handlungskompetenzen verfügen, wie die Funktionäre, die diesen Apparat mit Leben füllen und aufrechterhalten. Zu diesen Gruppen, die an sich schon schwierig für eine parteipolitische Mitgliedschaft zu motivieren waren, zählten die ungelernten Arbeiter, die Jugendlichen und die Frauen.
Deshalb kann die Hypothese formuliert werden, dass die SPD dort politisch schwächer in der Bevölkerung verankert war, wo diese Gruppen relativ stark zahlenmäßig vertreten waren. Am Beispiel des Amtes Wanne in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg kann das gezeigt werden, und zwar in den Gemeinden Wanne und Röhlinghausen.
Es wird mit der konkreten Darstellung im Jahr 1908 begonnen, weil für dieses Jahr die Berichte des Landratsamtes Gelsenkirchen im Staatsarchiv Münster gefunden wurden. Für die Jahre bis zum Ersten Weltkrieg kann man sich nur auf die zentralen Berichte des Regierungspräsidenten zu Arnsberg an das Innenministerium stützen.
Der Wahlkreisverein Bochum, zu dem die Gemeinden Herne, Wanne, Eickel, Gelsenkirchen, Wattenscheid, Hattingen und Witten gehörten, wies folgende Mitgliederzahlen auf (Staatsarchiv, RA I, Nr. 100, S.16):
- 1.1.1906 1.500 Mitglieder
- 1.7.1906 2.552 Mitglieder (plus 70,1%)
- 1.7.1907 4.510 Mitglieder (plus 76,7%)
- 1.7.1908 4.899 Mitglieder (plus 8,6%)
Nach dem großen Bergarbeiterstreik von 1905 hat sich die Anzahl der Mitglieder im SPD-Wahlkreisverein also weit mehr als verdreifacht.
Im einzelnen verteilten sich die Mitglieder wie folgt auf die einzelnen Distrikte (die erste Zahl bezieht sich auf den 1. Juli 1907, die zweite Zahl bezieht sich auf den 1. Juli 1908):
- I. Bochum 670 713
- II. Harpen 198 159
- III. Herne 378 408
- IV. Wanne 67 376
- V. Gelsenkirchen 571 536
- VI. Wattenscheid 338 347
- VII. Stiepel 66 67
- VIII. Dahlhausen 234 238
- IX. Linden 95 190
- X. Hattingen 226 268
- XI. Witten 318 431
- XII. Langendreer 529 684
- XIII. Laer 272 259
- XIV. Weitmar 148 223
Zum Distrikt Wanne gehörten die Gemeinden Wanne, Eickel, Hordel und Röhlinghausen, auf die sich die Anzahl der Mitglieder der SPD wie folgt verteilten (wieder bezogen auf die oben erwähnten Daten):
- Wanne 138 136
- Eickel 107 123
- Hordel 29 31
- Röhlinghausen 93 86
Gesamt 367 376
Genaueren Aufschluss über die Stärke bzw. Schwäche der SPD in diesen Gemeinden ergibt sich aus dem Verhältnis von Einwohnerzahl und der Anzahl der Parteimitglieder im Jahr 1908, das hier als „Parteiquote“ bezeichnet wird:
- Röhlinghausen 13 500 Einwohner 86 Mitglieder 157
- Eickel 32 000 Einwohner 123 Mitglieder 260
- Wanne 38 000 Einwohner 136 Mitglieder 280
Ein weiteres Kriterium zur Einschätzung des sozialdemokratischen Parteieinflusses auf die verschiedenen Regionen des Landkreises Gelsenkirchen stellt die Organisierung der Frauen dar, die neben den ungelernten und ausländischen Arbeitern sowie den Jugendlichen im allgemeinen am schwersten zu organisieren waren.
In den Akten des Staatsarchivs wird vermerkt, dass in Eickel 10, in Hordel 11 und in Röhlinghausen 15 Frauen Mitglieder der SPD waren, die alle gleichzeitig Abonnentinnen der Zeitschrift „Die Gleichheit‘“ waren. Für die Filiale Wanne wird festgehalten, dass dort keine Frau in diesem Jahr Mitglied der Partei war.
Die Zahlen verdeutlichen, dass die SPD ihre stärksten Organisationskerne im Wahlkreisverein Bochum in den Stadtbereichen Langendreer, Gelsenkirchen und Bochum hatte. Im alten Landkreis Gelsenkirchen mit den Distrikten Wanne und Wattenscheid stagnierten ab dem Jahr 1908 die Mitgliederzahlen, eine Entwicklung, die sich ab dem Jahr 1910 im gesamten Bochumer Wahlkreisverein durchsetzte.
Die Zahl der aktiven Mitglieder, die sich in den Arbeitersportvereinen und Freizeitvereinen der Arbeiterbewegung organisierten, reduzierte sich ebenfalls im Raum Wanne. Der sozialdemokratische Freidenkerverein löste sich mangels Mitglieder auf. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass es den polnischen Anhängern der Sozialdemokratie in der Gemeinde Wanne nicht gelungen war, eine Zahlstelle der polnisch-sozialdemokratischen Bewegung einzurichten. Im Gegensatz zur parteipolitischen Organisierung der zugewanderten Polen existierte in Eickel und Holsterhausen der sozialdemokratisch ausgerichtete „Polnische Gewerkverein der Berg- und Hüttenarbeiter“ mit 290 bzw. 450 Mitgliedern.
Ein weiterer Indikator zur Beurteilung der Stärke und des Einflusses der örtlichen SPD stellte die Anzahl der Mitglieder in der sozialdemokratisch ausgerichteten Gewerkschaft der Bergarbeiter „Alter Verband“ dar (Stand 1.9.1908, Staatsarchiv). Die stärkste Verankerung in der Bergarbeiterschaft verzeichnete diese Gewerkschaft in der Gemeinde Röhlinghausen mit über 900 Mitgliedern, Wanne mit 570 Mitgliedern und Eickel mit 360 Mitgliedern. Die größte Gewerkschaft in Wanne war die „Polnisch-Autonome“ mit über 1000 Mitgliedern (in Röhlinghausen 400 Mitglieder). Die Gemeinde Wanne wies in jenen Tagen den größten Anteil an Polen-Vereinen im Landkreis Gelsenkirchen auf, nämlich 54,3% aller Polen-Vereine residierten in Wanne, insgesamt 17 Vereine mit 3538 Mitgliedern. Die Gemeinde Wanne bildete im Jahr 1908 das polnisch-kulturelle Zentrum im Landkreis Gelsenkirchen mit der entsprechenden katholischen Ausrichtung.
Zum besseren Verständnis der damaligen Situation von SPD-Mitgliedern, die auf einer Zeche arbeiteten, muss man an die Alltagssituation der Bergarbeiter und ihrer Familien erinnern. In der Gemeinde Röhlinghausen auf der Zeche „Königsgrube“ herrschte ein strenges Regiment: Arbeiter wurden von Vorgesetzten geschlagen und wer seine Butterbrote in der sozialdemokratischen Zeitung „Volksblatt“ eingewickelt hatte, wurde gemaßregelt. In einer Biografie von Gustav Sobottka aus den Beständen des Institutes für Marxismus-Leninismus – jetzt Bundesarchiv – kann man nachlesen, dass auf der Zeche „Königsgrube“ um 1909 keine Sozialdemokraten geduldet wurden. Um nicht die Kündigung und den Verlust der Zechenwohnung zu riskieren, konnte Sobottka und die anderen Sozialdemokraten nur im Verborgenen für die Partei wirken. Beim Eintritt in die Partei sagte ihm ein Vertrauensmann der SPD, dass ihm die Zeitung nicht in die Wohnung gebracht werden könnte. Das „Bochumer Volksblatt“ und die „Bergarbeiterzeitung“ wurden bei einem Friseur in Röhlinghausen abgegeben, wo er oder seine Frau sie unauffällig abholen konnten.
Gustav Sobottka wurde 1911 zum Filialleiter der SPD und zum zweiten Vertrauensmann in der Zahlstelle des Bergarbeiterverbandes gewählt. Lange konnte er nicht im Verborgenen politisch arbeiten. Anlässlich der Reichstagswahlen von 1912 wurde der Zechenverwaltung bekannt, dass er Sozialdemokrat war. In einer Versammlung, auf der der Vorsitzende der Bergarbeitergewerkschaft Otto Hue sprach, trat Gustav Sobottka in der Diskussion auf. Als er am folgenden Morgen zur Zeche kam, wurde ihm eröffnet, dass auf der Zeche „Königsgrube“ kein Platz für Sozialdemokraten sei. Die Kündigung war mit dem Verlust der Zechenwohnung verbunden. Das Beispiel von Gustav Sobottka motivierte nicht viele, Mitglied der SPD in Röhlinghausen zu werden.
Die weitere Entwicklung im Wahlkreisverein der SPD zeichnete sich seit 1911 durch einen starken Rückgang der Mitgliederzahlen aus. Am 1. April 1910 verzeichnete der Wahlkreisverein noch 6 800 Mitglieder, ein Jahr später waren es 6 274. Das stellte der Regierungspräsident von Arnsberg in einem Schreiben vom 23.9.1911 an das Innenministerium fest. Dieses Schreiben ist ein weiterer Beleg dafür, dass in diesen Tagen die SPD immer noch unter staatlicher Beobachtung stand.
Die Reaktion der SPD auf diese politische Entwicklung bildete u.a. die verstärkte Agitation unter den Frauen und Jugendlichen. Am 23. Oktober 1910 fand in Bochum eine Frauenkonferenz statt, die von Luise Zietz geleitet wurde. Seit Februar 1911 erschien in Bochum die „Frauenzeitung für das Westliche Westfalen“. Zum Zweck der Organisation der Jugendlichen wurden im Jahr 1910 in Herne, Gelsenkirchen und Wanne Jugendausschüsse eingerichtet.
Als ein weiteres Anzeichnen für die Schwächung der sozialdemokratischen Bewegung im Bochumer-Wanner-Gelsenkirchener Raum muss die Diskussion auf der Generalversammlung des Wahlkreisvereins 1910/1911 gedeutet werden. Die Beteiligung an den Feiern zum 1. Mai muss so gering gewesen sein, dass der Zentralvorstand einen Vorschlag zur Abschaffung der 1. Mai-Demonstration im Wahlkreisverein unterbreitete, der allerdings abgelehnt wurde. Diese Schwächung der sozialdemokratischen Bewegung darf in dieser Region nicht mit einer Entpolitisierung der Arbeiterschaft gleich gesetzt werden. Das weiterhin gewachsene politische Interesse drückte sich z.B. in der Entwicklung der Abonnentenzahl des Bochumer SPD-Volksblattes aus. Die Redaktion verzeichnete einen Zugang von 1775 Abonnenten, während die Mitgliederzahl der SPD um 526 zurückging. Nach der Niederlage im Bergarbeiterstreik von 1912 verlor die SPD und der von ihr dominierte Alte Verband stark an Mitgliedern. „Der unverkennbare Rückgang der Sozialdemokraten ist eine Folge der politischen und wirtschaftlichen Vorkommnisse des Jahres 1912“, schrieb der Regierungspräsident am 20.11.1913 an das Innenministerium (Staatsarchiv, Opräs.Nr. 5811, S. 5).
Die Mitgliederzahl des Wahlkreisvereins fiel auf 5820 Mitglieder. Der Vorsitzende des Vereins bemerkte in seinem Jahresbericht, dass der Bochumer Wahlkreisverein zu den „schlechtesten Deutschlands“ gehöre.
Auf 100 SPD-Wähler kamen im Wahlkreisverein Bochum 11 Mitglieder, im Bezirk Westliches Westfalen 15 und im Deutschen Reich 23 Mitglieder. „Der Vorstand führt das darauf zurück, dass der systematische Aufbau der Organisation in Distrikten, Filialen und Bezirke mit Unterkassierern und Strassenführern noch nicht überall hat durchgeführt werden können, weil geeignete Kräfte sich nicht in hinreichender Zahl fanden.“ (Zitat aus dem o.e Brief des Regierungspräsidenten)
Die anfänglichen Erfolge in der Werbung unter den Frauen und den Jugendlichen hatte keine Dauer über das Jahr 1913 hinaus. Die Zeitschrift „Frauenzeitung für das Westliche Westfalen“ stellte am 1.10.1913 ihr Erscheinen ein.
Die sozialdemokratische Jugendbewegung im Wahlkreisverein kam 1913 ebenfalls zum völligen Stillstand. Hatten die lokalen Jugendausschüsse zunächst die Hauptaufgabe, die Arbeiterjugendlichen anzusprechen und zu organisieren, so sollte jetzt ihre Aufgabe sein, die proletarische Jugend von der bürgerlichen Jugendbewegung fernzuhalten, wenn man die Jugendlichen selbst nicht organisieren konnte. Im Stadt- und Landkreis Gelsenkirchen wurde bereits im November 1911 die sozialdemokratische Jugend durch den Polizeipräsidenten von Gelsenkirchen verboten und aufgelöst. In der Region von Gelsenkirchen, Wanne, Eickel und Wattenscheid versuchten die Gewerkschaften die Jugendbewegung wieder aufzubauen. Die Verbände der Bauarbeiter, Metallarbeiter und Bergarbeiter planten alle proletarischen, schulentlassenen Jugendlichen in der Bergarbeitergewerkschaft, dem „Alten Verband“, zusammenzuschließen.
In diesem Versuch der Neugründung de organisierten sozialdemokratisch orientierten Arbeiterjugendbewegung im Stadt- und Landkreis Gelsenkirchen wird deutlich, dass die sozialdemokratischen Gewerkschaftsfunktionäre zu Organisationsprinzipien der Syndikalisten griffen: Aufhebung der Branchengewerkschaften in der Jugendfrage. Dazu muss man wissen, dass die Syndikalisten als eine spezielle Gewerkschaftsbewegung in jenen Tagen im Raum Hordel und Eickel eine nicht unbedeutende Rolle spielten.
In diesem Zusammenhang erscheint es nicht uninteressant zu sein, dass im Jahr 1913 der SPD-Reichstagsabgeordnete Otto Rühle im Bochumer Wahlkreisverein weilte, um über „Grundfragen der Erziehung“ zu referieren. Bereits im Januar 1908 führte Otto Rühle Vortragskurse im Distrikt Gelsenkirchen über „Die Wissenschaft der Sozialdemokratie“ durch. Das kann man einem Bericht des Oberbürgermeisters von Gelsenkirchen an den Regierungspräsidenten vom 22.8.1908 entnehmen. Die Kontakte zu führenden Funktionären des linken Flügels der SPD waren im Bochumer Wahlkreisverein vorhanden.
Bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs (1914) kam es über die Frage der Bewilligung von Kriegskrediten in der SPD im Wahlkreisverein Bochum, besonders in Gelsenkirchen, zur Herausbildung einer Opposition gegen den Krieg.
Norbert Kozicki