Werner Flachert erzählt zur Geschichte des Boxsportes im Stadtteil Unser-Fritz

„Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich heute Olympiasieger“

Heinz Neuhaus, Hans Kalbfell, Erich Schöppner: diese Namen stehen für die beste deutsche Boxergarde in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Eins haben sie gemeinsam: alle lebten zur Zeit ihrer größten sportlichen Erfolge im Kohlenpott. Der Herner Boxer Lothar Stengel kämpfte sich auf den Thron des Europameisters im Halbschwergewicht. Friedhelm Hendrix aus Sodingen erhielt den Siegeslorbeer bei der Deutschen Juniorenmeisterschaft der leichten Klasse. Horst Andresen vom Boxring Schwarz-Weiß Unser-Fritz wurde im Jahre 1957 im Triumphzug durch Wanne-Eickel gefahren, und zwar als Deutscher Juniorenmeister.

Zwei Jahre später erlebte ein siebzehnjähriger Elektrikerlehrling aus Wanne-Nord den Tag seines größten sportlichen Erfolges. Werner Flachert kehrte aus München als Deutscher Vizemeister im Bantamgewicht zurück.

Der Boxsport stand im Nachkriegsdeutschland im Rampenlicht des öffentlichen Interesses. Neben dem Fußball entwickelten die sportbegeisterten Arbeiterjugendlichen ihr persönliches und kollektives Selbstbewusstsein über den Boxsport: proletarische Männlichkeit, Stärke und Härte standen im Vordergrund. Nicht nur die Fußballclubs, sondern auch die Boxvereine boten „Identifikationen für den Traum des Aufstiegs bzw. Durchsetzungsvermögens einer ganzen Klasse und ihrer Kultur“ (Alfred Bietau).

In den selbstorganisierten Arbeitersportvereinen der fünfziger Jahre, wie z.B. dem legendären Boxring Schwarz-Weiß Unser-Fritz, trafen sich die Kumpel wieder: vom Pütt in den Ring, der auch noch von der Zeche gestellt wurde. Die Verzahnung von Boxring und Zeche in Unser-Fritz war total: das Vereinswappen ziert Schlegel und Eisen.

Mannschaft der legendären Boxstaffel von Schwarz-Weiß Unser-Fritz mit dem Trainer Adi Jahn, Foto Norbert Kozicki
Mannschaft der legendären Boxstaffel von Schwarz-Weiß Unser-Fritz mit dem Trainer Adi Jahn, Repro Norbert Kozicki

„Pfingstsonntag erhielt das Haus Hauptstraße 414 festlichen Schmuck: Fahnen, Girlanden und einen Willkommensgruß für Juniorenboxer Werner Flachert vom Boxring. Er wurde abends bei der Ankunft des aus München kommenden D-Zuges von seinen Klubkameraden auf die Schultern gehoben. Mit umgehängten Lorbeerkranz ging es im Auto nach Crange und Unser-Fritz. Hier gab es viele herzliche Glückwünsche für den Vizemeister der Bantamgewichtsklasse bei der Deutschen Junioren-Boxmeisterschaft.“ So begann die vor Begeisterung verzückte Lokalpresse ihre großaufgemachte Berichterstattung über den sportlichen Erfolg des siebzehnjährigen Werner Flachert. Nach seinen erfolgreichen Titelkämpfen verhinderte ein Bäume ausreißender Bayer den totalen Erfolg des jungen Wanne-Eickelers.

„In diesem Zug befindet sich der Zweite der Deutschen Meisterschaft“, ertönte es aus den Lautsprechern des Wanne-Eickeler Hauptbahnhofs, als der Zug mit Werner in den Bahnhof einfuhr. Noch heute muss er diesen Spaß zum Besten geben, wenn die Gäste in seiner Kneipe in Hochform sind. Besonderes Gewicht erhielt der Titel dadurch, dass Werner erst 35 Kämpfe ausgetragen hatte. Im Jahr 1959 stieg der damals sechzehnjährige erst in die Juniorenklasse auf. Das er es zum Vizemeister bringen würde, daran hatte er selbst nicht gedacht. Als Neuling bei einer Deutschen Meisterschaft war er jedoch mit seiner Aufgabe gewachsen: ein echtes Kämpferherz aus dem Wanner Norden.

Interview mit Werner Flachert

Wie kam jemand in den fünfziger Jahren zum Boxen ?

In der Unser-Fritz-Schule bin ich eingeschult worden. Dort ging ich mehrere Jahre zur Schule. Unter uns Kindern war es so, wie überall. Jeder wollte der Stärkste sein. Ein Klassenkamerad warnte mich vor einem Mitschüler: vor dem musst du aufpassen, der boxt. Das machte mich neugierig. Ich erkundigte mich, wo das stattfand und bin dann gleich dahin. Und seitdem habe ich geboxt. Zu Beginn klappte alles ganz gut. Dazu kam, dass einige Herren meinen Vater gut kannten, der über viele Jahre Fußball spielte. ‘Wie heißt du?´-Flachert-  ´Ach, du bist also der Sohn vom ... So ging das. Dann hang ich schon ganz gut drin. Also der Anstoß kam auf dem Schulhof. Das ist ein Boxer, gut, das wirst du auch.

1952 fing ich Zehnjähriger an zu boxen. Schon damals gab es in Unser-Fritz hervorragende Boxer. Doch keiner holte den Titel eines Bezirksmeisters. Die Ersten, die zu Meisterehren kamen, waren Horst Andresen und ich. Ralf Kallisch, auch ein hervorragender Kämpfer, der war auch nie Bezirksmeister, genau wie Leninger. Horst Andresen, der im Schwergewicht kämpfte, war der Beste und Stärkste aus der Unser-Fritzer Garde. Ich war im Seniorenbereich, wenn du so willst, nur im Endkampf um die Westfalenmeisterschaft. Das war damals etwas anders als heute. Die heutigen Nachwuchsboxer machen einen Kampf und sind dann Bezirksmeister. Ja, sowas gab es bei uns nicht, wir mussten vier und fünf Kämpfe machen, um überhaupt Bezirksmeister zu werden.

Siegerpose nach Erlangung der Westfalenmeisterschaft, Foto Norbert Kozicki
Siegerpose nach Erlangung der Westfalenmeisterschaft, Repro Norbert Kozicki

Wir hatten in Wanne-Eickel allein drei Boxvereine. Und was ist heute ? Kein Verein kann hier im Bezirk selbstständig veranstalten, bis auf den BC Erle. Alle anderen, wenn sie veranstalten, müssen sich von anderen Vereinen Leute ausleihen. Also ist das doch schon eine andere Zeit. Also, Bezirksmeister von damals kannst du mit denen von heute nicht vergleichen. Ich musste früher soviel Kämpfe für den Titel eines Bezirksmeisters bestreiten, wie heute einer für den Deutschen Meister benötigt.

Wie erklärt man sich heute die enorme Attraktivität des Boxsportes in den frühen fünfziger Jahren ?

Also, ich muss ganz ehrlich sagen, der Boxsport ist meiner Meinung nach am Wohlstand kaputt gegangen. Was hatten wir denn früher als Kinder? Fußball! Sonntags haben wir Fußball gespielt. Dann gab es noch Boxen. Handball war sowieso nicht drin, das haben nur wenige gespielt. Tennis und sowas überhaupt nicht. Wir durften als Kinder noch nicht einmal Tennis gucken gehen.

Was gibt es denn heute alles ? Bodybuilding, Taek-Won-Do, und was weiß ich nicht alles für Sportarten. Das gab es früher gar nicht. Also, heute erstmal, will sich keiner mehr groß quälen und sich was vor den Kopf hauen lassen. Das ist ja wohl vorbei. Heute möchten sie alle schön aussehen. Wir dagegen, wir waren alles Arbeiterkinder, wir wollten uns quälen. Wir waren noch bereit dazu. Aber die heute wollen Fußball spielen und sofort das große Geld machen. Die wollen sofort Moos machen, die Jungs. Früher war samstags Boxen, sonntags Fußball. Wir hatten immer so achthundert bis tausend Zuschauer am Samstagabend. Da war der Eintritt vielleicht einen Taler. Man konnte noch eine Flasche Bier trinken. Das war der Samstagabend. Aber der Samstagabend von heute sieht ganz anders aus. Heute fahren alle sonntags raus, z.B. zum Mittagessen. Früher war dieser Wohlstand nicht da. Deswegen kamen schon die vielen Zuschauer. Auf den Fußballplätzen war es genauso rappelvoll. Wir hatten damals in Unser-Fritz eintausend, zweitausend Zuschauer. Also das liegt alles schon am Wohlstand.

Was kannst du zur Verbindung vom Boxring Unser-Fritz und der Zeche Unser-Fritz erzählen?

Als ich 1952 in den Verein eintrat, lief die ganze Sache schon. In der Turnhalle an der Alleestrasse, neben dem alten Schacht, haben wir trainiert. Das war ursprünglich eine Kaue, die uns die Zeche zur Verfügung stellte. Da warn nur ein paar Wasserhähne, nichts da mit Brause oder so. Wir hatten damals drei Sportgeräte. Maisbirne, Sandsack und Doppelendball. Die haben uns, wie gesagt, die Halle zur Verfügung gestellt, die kostete uns nichts, der Ring wurde auf der Zeche gelagert und dort auch aufgebaut. Wenn wir von Meisterschaften zurückkamen, haben wir von der Zeche Geschenke bekommen: Trainingsanzug und Handschuhe. Für den Deutschen Meister erhielt Horst Andresen eine Grubenlampe. Die Boxer, waren immer gut im Gedinge, wo sie gut abschnitten. Auch wenn sie vielleicht nicht so viel arbeiten mussten, bekamen sie genauso viel Geld wie die anderen. Im Verein war auch ein Fahrsteiger aktiv, der konnte dann schon so einiges regeln. Horst Andresen hatte auf der Zeche gelernt und als er nachher Deutscher Meister wurde, haben sie ihn an der Stadt übernommen. Der Horst hatte das Zeug für einen ganz Großen. Er hatte sogar den Jürgen Blinn geschlagen, der später Berufsboxer und Europameister wurde, heute Millionär…

Wie sah die weitere Entwicklung des Boxringes Unser-Fritz in den frühen sechziger Jahren aus?

1966 war der Horst schon weg. Da war ich alleine da. Ich hatte auch schon nicht mehr die richtige Lust gehabt. Der Verein veranstaltete schon weniger. Der Trainer verließ auch den Verein. Irgendwelche Leute versuchten noch einmal den Verein wieder hochzubringen. Dann war auf einmal alles weg. Mit 24 Jahren stand ich normalerweise in der Blüte, wenn du so willst. Zu meiner Frau sage ich noch heute im Scherz, wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich 1960 Olympiasieger geworden.

Nach dem Boxen spielte ich weiterhin Fußball. Beim Fußball brauchst du nicht so viel Kondition, du kannst Pausen einlegen. Beim Boxen, nur einmal, dann bist du weg. Wenn du eine Schwäche zeigst, der Gegner sieht das, steigert der sich über sich hinaus und du hast verloren.

Norbert Kozicki

Quelle:

„Als wenn Elvis nach Wanne käme…“, Banana Press Verlag Herne, 1988