1923: Französische Truppen besetzen das Ruhrgebiet – zehn Arbeiter werden im Kampf für bessere Lebensbedingungen vor dem Wanner Rathaus erschossen
Am 5. Dezember 1923 kam es auf dem Rathausplatz in Wanne zu einer schweren Schießerei, in deren Folge zehn Menschen getötet und 32 verwundet wurden. Ausgangspunkt dieses tragischen Ereignisses war die Demonstration der Wanner und Eickeler Arbeiterschaft in Verbindung mit dem damaligen Erwerbslosenrat für höhere finanzielle Unterstützungen der notleidenden Familien. Weiterhin forderte man den Verkauf verbilligter Lebensmittel. Es war die Zeit der schlimmsten Inflation. Dieser Tag ging in die lokale Geschichte der Arbeiterbewegung als der „Schwarze Mittwoch von Wanne“ ein.
Im November des Jahres 1918 endete der Erste Weltkrieg mit Niederlage des Deutschen Reiches. Der Kaiser dankte ab und floh nach Holland. Die Arbeiter kämpften für Demokratie und Sozialismus. Auf deutschem Boden wurde die erste Republik gegründet. Das Frauenwahlrecht wurde eingeführt. Die Siegermächte bestimmten den Verlauf der Friedensverhandlungen. Im Versailler Vertrag wurde die Höhe der Wiedergutmachungszahlungen durch Deutschland festgelegt. Die deutsche Wirtschaft konnte diesen Forderungen der Siegermächte nicht nachkommen. Der Staat finanzierte seinen Etat mit Hilfe der Notenpresse. Die Folge: eine galoppierende Inflation mit ihren verheerenden Auswirkungen für die Arbeiterfamilien.
Als im Jahre 1922 die Reichsregierung die im Versailler Vertrag fixierten Zahlungen nicht leisten konnte, besetzten im Januar 1923 französische Truppen das Rheinland und das Ruhrgebiet. In den Ämtern Wanne und Eickel zeigten sich am 15. Januar 1923 die ersten französischen Truppen.
Einen Tag später wurden die Gemeindegebiete Wanne, Röhlinghausen und Eickel zum besetzten Gebiet erklärt. Aus Protest gegen die französische Besatzung legten die Belegschaften der Zechen Pluto, Königsgrube, Unser-Fritz und Shamrock die Arbeit nieder.
Im weiteren Verlauf des Jahres kam es in den Ämtern Wanne und Eickel zu zahlreichen Konflikten mit den französischen Besatzungstruppen. Die Arbeiter reagierten mit Streiks, Demonstrationen und massenhaften Versammlungen auf die sich immer verschlechternden Lebensbedingungen. Zum Jahresende spitzte sich die politische und soziale Situation zu. Die Löhne hinkten den Preisen hinterher, der Reallohn schrumpfte zusammen. Im Oktober 1923 reichte der Wochenlohn eines qualifizierten Facharbeiters aus, um einen Zentner Kartoffeln kaufen zu können. Ein Pfund Margarine kostete bis zu 10 Arbeitsstunden, ein Pfund Butter den Lohn für zwei Tage. Die Preise in Wanne und Eickel: 1 Brötchen 50 000 Millionen Mark, 1 Stuten 400 000 Millionen Mark, 3 Pfund Brot 0,9 Billionen Mark, 1 Zwieback 1 Billion Mark. Auch diese Zahlen können die Not nur unzureichend wiedergeben.
In den letzten Monaten des Jahres 1923 häuften sich die Demonstrationen der Bevölkerung von den Amtshäusern in Wanne und Eickel. Höhere Unterstützungsleistungen aus der Gemeindekasse und verbilligte Lebensmittel waren die Hauptforderungen der Menschen. Im Laufe dieser Auseinandersetzungen gründeten die Arbeiter den „Ausschuss der vereinigten Arbeiterorganisationen, der politischen Parteien und der Erwerbslosen“. Dieser Ausschuss koordinierte die politischen Aktionen im Gemeindegebiet.
Am 7. November 1923 versammelten sich alle Zechenbelegschaften vor dem Rathaus, um Geld und Brot zu fordern. An diesem Tag waren die Büros der Gemeindeverwaltung geschlossen. Daraufhin zogen die Demonstranten zur französischen Ortskommandantur weiter. Im Interesse des sozialen Friedens forderte der kommandierende Offizier die Verwaltung auf, höhere Unterstützungen zu gewähren. Die Belegschaft der Zeche Unser-Fritz besetzte am 8. November 1923 das Zechenverwaltungsgebäude, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.
In diesem Klima der politischen Eskalation kam es zum „Schwarzen Mittwoch von Wanne“.
An diesem Mittwoch sollten die Unterstützungsleistungen an die Arbeitslosen ausgezahlt werden. An den Zahlstellen erfuhren die Betroffenen, dass an diesem Tag die Zahlungen erheblich gekürzt werden sollten. Gleiches sollte am Samstag danach erfolgen.
Der Chronist berichtet: „An sämtlichen Zahlstellen entstand hierdurch eine große Erregung… An allen Zahlstellen bildeten sich Demonstrationsgruppen, welche in geschlossenen Zügen, von Shamrock aus nach dem Amtshause in Eickel, von Röhlinghausen, Unser-Fritz und Schacht Wilhelm aus nach dem Amtshause in Wanne vordrangen. Unsere Polizei war zu schwach, die Massen unterwegs aufzuhalten und aufzulösen.“
Vor dem Amtshaus in Eickel kam es am 5. Dezember 1923 zum ersten Konflikt. Die beiden Polizisten, die vor dem Amtshaus postiert waren, wurden von den Demonstranten entwaffnet und nach Hause geschickt. Danach erzielten die hungernden Menschen in Verhandlungen mit der Eickeler Gemeindeverwaltung die Auszahlung des doppelten Betrages. Mit diesem Verhandlungserfolg zogen die Arbeiter und Arbeitslosen nach Wanne zum Rathausplatz.
Die erste Information, die den Wanner Rathausplatz erreichte, war die Nachricht, dass in Eickel die Polizei entwaffnet worden sei. Zeitzeugen aus jenen Tagen vermuten, dass diese Nachricht eine größere Wirkung auf die im Wanner Rathaus verschanzten Polizisten hatte, als auf die Demonstranten.
Der verstorbene Funktionär der Wanne-Eickeler Arbeiterbewegung Hugo Helling erinnert sich: “ Von allen Seiten kamen Leute zum Rathausplatz. Und die Röhlinghausener und die Eickeler kamen dort an. In Eickel hatten sie der Polizei die Waffen weggenommen, ein Paar Revolver. Die haben Waffen, hieß es überall. Und die Polizei hatte Angst.“
Als die Eickeler den Rathausplatz in Wanne erreichten, versammelten sich über 20 000 Menschen dort. Ludwig Reimöller aus Bickern beschreibt die Situation so: „Ich war in Eickel dabei. Danach zogen wir nach Wanne. Hier hat die Polizei plötzlich grundlos reingeschossen.“ Weitere Zeitzeugen bestätigen diese Darstellung.
Im Gegensatz dazu sprach die Gemeindeverwaltung von einer gezielten Provokation. Die Polizisten seien mit einem Hagel von Steinwürfen überschüttet worden. Man unterstellte den Demonstranten den Versuch, das Wanner Rathaus stürmen zu wollen.
Der Erwerbslosenrat stellte einen Tag später klar, dass die Teilnehmer der Kundgebung zu keiner Zeit die Absicht hatten, das Rathaus zu stürmen. Für die versammelten 20 000 Menschen wäre das sehr wahrscheinlich kein Problem gewesen. Zum Zeitpunkt der Schießerei verhandelten im Rathaus die Vertreter der Bergarbeiter und der Arbeitslosen mit der Gemeindeverwaltung. Brot und mehr Geld bildeten die einzigen Tagesordnungspunkte.
Die Folge der Schießerei aus Angst und Verunsicherung: 10 Tote und 32 Verwundete.
Hugo Helling gibt die Stimmung der Teilnehmer an der Kundgebung wieder: „Die Polizei dachte, jetzt ginge es ihnen an den Kragen. In Wirklichkeit wollten wir verhandeln. Die Betriebsräte, die Vertreter der Erwerbslosenausschüsse verhandelten doch im Rathaus. Als einer schoss, schossen alle Polizisten aus dem Rathaus hinaus.“
Für die damaligen Behörden stellte die Kundgebung ein „kommunistisches Gewaltunternehmen“ dar. Als Beweis für diese These wurde angeführt, dass der Vorsitzende des Erwerbslosenrates vor dem Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands am 23. November 1923 Leiter der Jugendorganisation dieser Partei war.
Der „Schwarze Mittwoch von Wanne“ hatte auch ein parlamentarisches Nachspiel. Im Februar 1924 diskutierte der Preußische Landtag über die sogenannten Unruhen in den Ämtern Wanne und Eickel. Am 15.März 1925 wurde für sieben der zehn Erschossenen auf dem Holsterhauser Friedhof eine gemeinsame Gruft mit einer Gedenktafel enthüllt, die die Nazi-Zeit nicht überlebt hat.
Auf dieser Gedenktafel stand: „Wanderer, kommst Du nach Spa, erzähle, Du hast sie fallen gesehen, wie es das Gesetz befahl.“
Heute erinnert nur noch eine kleine versteckte Gedenktafel auf dem Holsterhauser Friedhof an die tragischen Ereignisse vom 5. Dezember 1923.
Norbert Kozicki