Auf der Toilette neben Karl Dall

Was war das für ein Gefühl, 1973 in der Unterprimaeines neusprachlichen Jungen-Gymnasiumszu sein. Um uns herum wehtenoch der Geist der 68er-Generation, denn viele Hemer Abiturienten studierten in Bochum oder in den umliegenden Städten. Sie brachten das politische Gedankengut der Zeit mit nach Herne und verbreiteten es in den einschlägigen Jugendgaststätten. Ich fühlte mich hiervon angezogen, was ich nicht zuletzt durch das Tragen eines Parkas mit einem Peacezeichen sowie den passenden, engen Bluejeans dokumentierte. Ferner trug ich eine typische Umhängetasche, die mit entsprechenden Abzeichen und Beschriftungen versehen war. In diesem „Aufzug“ begab ich mich regelmäßig in die Schule, so wie viele andere meiner Mitschüler auch. Im Laufe des Schuljahres teilte uns unser Klassenlehrer mit, dass demnächst eine Studienfahrt nach Berlin im Rahmen der politischen Bildung stattfinden würde. Großartig! Eine solche Fahrt wurde seinerzeit komplett durch die Landesregierung bezuschusst, lediglich ein geringer Anteil war von den Eltern zu zahlen, so dass alle Schüler auch in der Lage waren, an dieser Fahrt teilzunehmen.

Ausflüge in der DDR, so sie überhaupt möglich waren, führten meistens zu beklemmenden Erlebnissen an der innerdeutschen Grenze. Foto Wolfgang Bruch

Im Januar 1974 ging es los. Die gesamte Klasse, etwa 30 Schüler, fuhr mit der Bahn vom Hemer Bahnhof bis nach Berlin. Viele Schüler hatten Musikinstrumente mitgebracht, was natürlich einen ziemlichen Lärm verursachte. Dies passte unserem Klassenlehrer überhaupt nicht: Schon in Dortmund konfiszierte er bestimmte Musikinstrumente wie eine Trommel und eine Gitarre und hinterlegte sie in einem Schließfach im Bahnhof. An der Grenzstelle Helmstedt kam es zu den üblichen Turbulenzen bei der Kontrolle der Ausweise durch die damaligen DDR-Zöllner. Für uns war dies alles sehr aufregend, da wir größtenteils überhaupt noch keine Berührungspunkte mit der damaligen DDR gehabt hatten.

In Berlin wohnten wir in einem Jugendhotel (DRK-Haus), das etwa 800 Meter von der damaligen DDR-Grenze entfernt lag. In diesem Haus waren mindestens fünf weitere Schulklassen anderer Oberstufen aus dem gesamten Bundesgebiet untergebracht. Alle Klassen hatten das gleiche politische Bildungsprogramm, wobei der Besuch des Berliner Rathauses sowie ein Tagesausflug in die damalige DDR obligatorisch waren.

Nach der tagtäglichen politischen Bildung ging es schnell um andere Themen, zum Beispiel welche Gaststätten in Berlin seinerzeit für Jugendliche angesagt waren. Wir wussten: dort wehte bereits ein ganz anderer Wind, es gab die typischen Szenegaststätten der Protestsänger sowie angesagte Diskotheken (Big Eden, Cheetah). Schnell erhielten wir von Einheimischen den Tipp, dass sich die alternative Musikszene in einer Gaststätte namens „Eierschale“ abends trifft. Dort spielten in regelmäßigen Abständen bundesweit bekannte Bands. Wir machten diese Gaststätte ausfindig und liefen dort mit einer Vielzahl von Schülern auf. An diesem Abend spielte dort ausgerechnet die Blödelband lnsterburg & Co. Ich erinnere mich noch daran, dass ich auf der Toilette unmittelbar neben Karl Dall stand. Wir fanden das natürlich aufregend, da wir im November 1971 ausgerechnet diese Band in Herne im Freizeithaus gesehen hatten. Damals hatte das Kulturamt der Stadt Herne die lnsterburger gebucht und deren Popularität völlig unterschätzt. Zum Glück hatte ich mich rechtzeitig bemüht, eine Eintrittskarte zu bekommen. Das Freizeithaus war bis zum letzten Platz gefüllt, und zwar ausschließlich mit jugendlichem Publikum. Die Band selbst spielte auf der kleinen Bühne, es gab keine Dekorationen o.ä. Entsprechend den Erwartungen spielten die lnsterburger ihre seinerzeitigen Protestsongs unter dem Motto:„Der einzige Sinn ist der Unsinn“.

E-Gitarren waren bei allen Musik-Freaks die Endstation der Sehnsucht. Eifrig wurde in Kellern oder Garagen am eigenen Sound getüftelt. Foto Wolfgang Bruch

Nach einer Woche kamen wir mit vielen neuen Eindrücken und Gedanken zurück nach Herne. Ich selbst fand diesen Ausflug nach Berlin außerordentlich erlebnisreich und habe auch im Nachhinein sehr oft daran zurückgedacht. Insbesondere hat mich die musikalische Szene zum damaligen Zeitpunkt in Berlin sehr interessiert. Wir haben im Nachhinein des öfteren in Partykellern, Gaststätten oder Jugendclubs zusammengesessen und die Musik gehört, die zum damaligen Zeitpunkt angesagt war (Santana, Simon & Garfunkel, Uriah Heep, Nazareth, aber auch Deutschrock wie Can, und Amon Düül).

Wolfgang Bruch1

Anmerkung

  1. Erstveröffentlichung des ursprünglichen Textes: Wolfgang Bruch, Auf der Toilette mit Karl Dall, In: Disco, Willy & Flokati, Seiten 45 bis 48, Klartext Verlag, Essen 2019. ISBN 978-3-8375-2014-9. Veröffentlichung von Text und Bildern auf dieser Seite mit freundlicher Genehmigung des Autors. ↩︎