Wen macht die Banane krumm?

Oder wie die Dritte Welt nach Herne kam

Weihnachtsmarkt 1972: Würstchenbude und Kinderscooter, nebenan gibt es Lebkuchen und gebrannte Mandeln und gegenüber wirbt direkt neben der Lebenshilfe die NPD. Die Männer mit ihren Kindern an der Hand drängen aber eher zum Zelt mit dem großen Schild „Hülsmann-Bier“. Buden, Gedränge, Angebote und mittendrin ein Tapeziertisch mit exotischen Auslagen: Kunsthandwerk aus Mexiko, Trommeln aus Tansania, Alpaca-Pullover aus Bolivien und Indio-Kaffee aus Guatemala, 100-prozentige Hochland-Qualität, das Pfund zu DM 8,90. „Das Aroma der Gerechtigkeit“, sagt einer der jungen Leute hinter dem Stand, „hat seinen Preis“. Die Idee hinter dem Verkauf von Produkten aus Kooperativen aus Afrika, Asien und Lateinamerika: Fairer Handel statt Almosen.

Anfang der 1970er Jahre wurde auch im Revier einigen Menschen bewusst, dass ihr täglicher Wohlstand auf der systematischen Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt und ihrer Rohstoffe beruht. Warum war der Kaffee bei Karstadt so günstig, aber die Kaffee-Bauern in Brasilien oder Kenia konnten nicht davon leben? Warum gab es billige Bananen bei Edeka, während auf den Plantagen in Lateinamerika nur Hungerlöhne gezahlt wurden? Was hatte unser Konsum mit der Armut in der Welt zu tun?

Die „Aktion Dritte Welt Handel“ kam ins Rollen. Gegenüber dem üblichen Einsammeln von Spenden sollte anhand von fair gehandelten Produkten die Öffentlichkeit über ungerechte Weltwirtschaftsstrukturen und die Entrechtung von Kleinbauern und Arbeitern in den Entwicklungsländern informiert werden. Der griffige Slogan lautete: „Hunger ist kein Schicksal – Hunger wird gemacht“.

Kinderwagen Demo zur Flüchtlingshilfe Bangladesh mit Pfarrer Harald Rohr(r.), Oktober 1971 (Foto: Peter Monschau/Archiv Ralf Piorr)

In der Hemer Provinz war Harald Rohr der Initiator der entwicklungspolitischen Bewegung. Der charismatische Pfarrer trommelte und ackerte als „One-Man-Band“ für sein Verständnis von der Bewahrung der Schöpfung. Dabei projizierte er seine Hoffnungen und Kämpfe nicht auf ferne Kontinente. Von Anfang an gehörte im Land der klaren Feindbilder („Geht doch nach drüben“) auch das heiße Eisen der Kriegsdienstverweigerung dazu – mit mündlicher Verhandlung und dem ganzen Pipapo der Gewissensprüfung im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, versteht sich.

Harald Rohr überzeugte und fand Mitstreiter. Im Juli 1974 öffnete der„Weltmarkt“ seine Türen. Ein eigens gestaltetes Plakat fragte: .Kennen Sie schon Hernes ungewöhnlichsten Laden?“ Es war der erste „Dritte-Welt-Laden“ im Revier und der dritte in Deutschland überhaupt. „Die Idee, mit dem Warenverkauf kleine Kooperativen in der Dritten Welt zu unterstützen und dabei gleichzeitig Menschen hier über Ausbeutung und Armut zu informieren, war einfach bestechend. Wir trafen auf große Offenheit bei den Leuten“, erinnert sich Elke Breddermann, die von Anfang an beim „Weltladen“ dabei war. „Kirche ist bei mir nicht“, hatte sie dem Pfarrer gleich zu Anfang gestanden, dem das allerdings ganz und gar schnuppe war. Engagement war wichtiger als Mission. „Wir haben indisch gekocht, Saris getragen, Modeschauen gemacht. Wir wollten nicht nur von Hunger und Unterdrückung erzählen, sondern auch von der Kultur der Menschen“, so Breddermann. Ein typischer Dritte-Welt-Laden-Effekt mit all den wuseligen und ehrenamtlichen Mitarbeitern ist ihr auch in Erinnerung geblieben: „Wir waren froh, wenn abends die Kasse stimmte.“

Pfarrer Harald Rohr mit Sozialarbeitern einer Jute-Kooperative aus Bangladesh im Hemer „Weltmarkt“, Mai 1980 (Foto: Peter Monschau/Archiv Ralf Piorr)

Neben dem Ladenlokal entstanden ein Jugendcafé, eine Medienbibliothek und schließlich im Jahr 1976 das „lnformationszentrum 3. Welt“ (IZ3W). Alles subventioniert von der evangelischen Kirche. Auch Harald Rohr erhielt einen Sonderstatus. Er schied aus der Gemeindearbeit aus und bekam eine Pfarrstelle für „Ökumenische Diakonie“, Vorbilder in der Amtskirche gab es dafür nicht. Der streitbare Pfarrer wurde zum Berufslobbyisten: Ausgerüstet mit der ehrenamtlichen Weltmarkt-Crew, zwei Zivildienstleistenden, einem alten VW-Bully und einer gebrauchten Schreibmaschine, bei der immerzu das „i“ hakte. Das Engagement galt den Ärmsten der Armen und um pfiffige Ideen war man nicht verlegen. 1974 wurde der „bewusstseinsbildende Bierdeckel“ entwickelt, der in der stattlichen Auflage von 600.000 Stück – ein Geschenk der Bochumer Brauerei Schlegel die Hoheit über den Stammtischen gewinnen sollte. (Noch Jahrzehnte später mussten Zivildienstleistende eineinhalb Kellerräume bis unter die Decke voll mit Bierdeckeln ausräumen.) Als eine bekannte amerikanische Systemgastronomie 1978 ihre Pforten in der Herner Bahnhofstraße öffnete, handelte man sich bei einem kleinen Protest-Happening gleich ein Hausverbot ein.

„Es war Pionierarbeit und natürlich wurden wir in die linke Ecke gedrängt“, erinnert sich K.-D. Gülck, der Ende der 1970er Jahre als Zivildienstleistender im IZ3W gearbeitet hat. „Bei unseren Aktionen reagierten die Leute auf der Straße halbwegs interessiert bis zur Frage.Was machen die Spinner da?“ Die mitunter mühselige Bildungsarbeit blieb ein Schwerpunkt: „Wir haben zig Schulklassen bei uns gehabt. Zum Standard gehörte das Rollenspiel ‚Wen macht die Banane krumm?‘, das über Produktionsbedingungen von Exportfrüchten und den Alltag von Arbeitskräften in den Anbauländern informierte. Da hat sich vorher doch kein Mensch Gedanken darüber gemacht.“

Das Informationsblatt des „Weltmarkts“ im Zeichen der Anti-Apartheid-Kampagne, Januar 1977

Aber auch die öffentlichen Konflikte ließen bald nicht mehr auf sich warten. Nach dem weltbewegenden Schüleraufstand in Soweto 1976 mit allein 450 Toten durch Polizeigewalt gab man schwarzen Exil-Südafrikanern eine Bühne und beteiligte sich an der Anti-Apartheid-Kampagne. „Nelson Mandela saß noch als Terrorist auf Robben Island ein und mit der Forderung nach dem Boykott südafrikanischer Früchte und den Krügerrand Goldmünzen sorgte man auch hier vor Ort für gehörigen Ärger“, so K.-D. Gülck. Es hagelte Beschwerden und Denunziationen über den „roten Pfarrer und seine Helfershelfer“, aber der Kirchenkreis in Persona des progressiven Superintendenten Fritz Schwarz zeigte Rückgrat und ließ sich nicht auf die Forderungen nach disziplinarischen Maßnahmen ein.

Die Zeiten hatten sich tatsächlich geändert und als unversehens die Jutetasche aus Bangladesch mit dem Aufdruck „Jute statt Plastik“ zum bewusstseinsprägenden Verkaufsschlager wurde, war man plötzlich (fast) zum Mainstream geworden. Es begann die Zeit der selbstgestrickten Norweger-Pullovern, Nicaragua-Kaffee und der Angst vor dem Strahlentod – egal ob durch Atomkraftwerke oder Nato-Doppelbeschluss. „Dritte-Welt“-Arbeit war ohne Friedensarbeit und ohne das Engagement für Menschenrechte und Umweltschutz einfach nicht denkbar. Jahre später resümierte Harald Rohr in einem Rückblick: „Dass alles mit allem zum Guten wie zu Bösen zusammenhängt, ist eine der wenigen Lehren, über die wir wirklich nicht mehr zu streiten brauchen.“

Ralf Piorr1

Anmerkung

  1. Ralf Piorr, Wenn macht die Banane krumm? Oder wie die Dritte Welt nach Herne kam, In: Disco, Willy & Flokati, Seiten 124 bis 127, Klartext Verlag, Essen 2019. ISBN 978-3-8375-2014-9. Veröffentlichung von Text und Bildern auf dieser Seite mit freundlicher Genehmigung des Autors. ↩︎