Mit der Industrialisierung wurden Arbeitskräfte benötigt, die man mit übertriebenen Versprechungen anwarb, wie etwa mit dem ‚Masurenaufruf‘. Der Aufruf wird hier in der Ausgabe der „Bergarbeiter-Zeitung“ vom 8. August 1908 wiedergegeben, ein Original des ursprünglichen Plakats scheint nicht mehr zu existieren. Eingebettet ist er in einen Beitrag, der sich eigentlich gegen die Anwerbung von Bergleuten aus den Masuren ausspricht.
Transkript des veröffentlichten Masurenaufrufs1
„Masuren!
In rein ländlicher Gegend, umgeben von Feldern, Wiesen und Wäldern, den Vorbedingungen guter Luft, liegt, ganz wie ein masurisches Dorf, abseits vom großen Getriebe des westfälischen Industriegebietes, eine reizende, ganz neu erbaute Kolonie der Zeche Victor bei Rauxel.
Diese Kolonie besteht vorläufig aus über 40 Häusern und soll später auf etwa 65 Häuser erweitert werden. In jedem Hause sind nur 4 Wohnungen, 2 oben, 2 unten. Zu jeder Wohnung gehören etwa 8 oder 4 Zimmer. Die Decken sind 8 Meter hoch, die Länge bezw. Breite des Fußbodens beträgt über 8 Meter. Jedes Zimmer, sowohl oben, als auch unten, ist also schön groß, hoch und luftig, wie man sie in den Städten des Industriegebietes kaum findet.
Zu jeder Wohnung gehört ein geräumiger Stall, wo sich jeder sein Schwein, seine Ziege oder seine Hühner halten kann. So braucht der Arbeiter nicht jedes Pfund Fleisch oder sein Liter Milch zu kaufen.
Endlich gehört zu jeder Wohnung auch ein Garten von etwa 28 bis 24 Quadraturen. So kann sich jeder sein Gemüse, sein Kumpst und seine Kartoffeln, die er für den Sommer braucht, selbst ziehen. Wer noch mehr Land braucht, kann es in der Nähe von Bauern billig pachten. Außerdem liefert die Zeche für den Winter Kartoffeln zu billigen Preisen.
Dabei beträgt die Miete für ein Zimmer (mit Stall und Garten) nur 4 Mark monatlich, für die westfälischen Verhältnisse jedenfalls ein sehr niedriger Preis. Außerdem vergütet die Zeche für jeden Kostgänger monatlich 1 Mark. Da in einem Zimmer vier Kostgänger gehalten werden können, wird die Miete also in jeden Monat um 4 Mark geringer; ganz abgesehen davon, was di Familie an den Kostgängern selbst verdient. Wenn also eine Familie an vier Zimmer hat, würde sie monatlich 4 mal 4 gleich 16 Mark zu bezahlen haben. Hält sie nun vier Kostgänger, so würde die Miete nur 12 Mark betragen.
Die ganze Kolonie ist von schönen breiten Straßen durchzogen, Wasserleitung und Kanalisation sind vorhanden. Abends werden die Straßen elektrisch erleuchtet. Vor jedem zweiten Hause liegt noch ein Vorgärtchen, in dem man Blumen oder noch Gemüse ziehen kann. Wer es am schönsten hält, bekommt eine Prämie.
In der Kolonie wird sich in nächster Zeit auch ein Konsum befinden, wo allerlei Hausmannswaren, wie Salz, Kaffee, Heringe usw. zu einem sehr billigen Preise von der Zeche geliefert werden, auch wird dort ein Fleischkonsum eingerichtet werden. Für größere Einkäufe liegen Castrop, Herne und Dortmund ganz in der Nähe. Ledige Leute, die nicht in Privatkost gehen wollen, können in einer Menage zu sehr billigen Preisen wohnen und essen.
Den Ankommenden wird in der ersten Zeit je nach Bedarf ein Barvorschuß bis zu 50 Mk. gegeben.
Für die Kinder sind dort zwei Schulen erbaut worden, sodaß sie nicht zu weit zu laufen brauchen, auch die Arbeiter haben bis zur Arbeitsstelle höchstens zehn Minuten zu gehen. Bis zur nächsten Bahnstation braucht man etwa eine ½ Stunde.
Die Löhne stellten sich durchschnittlich im Juni 1908 so:
Tagesarbeiter, 8 Stunden Schicht = 3,80 bis 4,- Mk.
Platzarbeiter, 12 Stunden Schicht = 3,60 bis 4,50 Mk
Kokslader = 4,72 Mk.
Koksfüller = 4,46 Mk.
Ziegeleiarbeiter = 4,- bis 4,50 Mk.
Schlepper bei Kokerei = 3,80 Mk.
Schlepper in der Grube = 3,- bis 4,10 Mk.
Lehrhauer im 1. Jahre = 5,50 Mk.
Hauer im Gedinge etwa 6,35 Mk.
Gesteinshauer etwa 6,40 Mk.
Zimmerhauer etwa 5,35 Mk.
Man sieht also, daß jeder Arbeiter gut auskommen kann. Wer sparsam ist, kann noch Geld auf die Sparkasse bringen. Es haben sich in Westfalen viele Ostpreußen mehrere Tausend Mark gespart. Das Geld ist dann wieder in die Heimat gekommen, und so hat die Heimat auch etwas davon gehabt. Ueberhaupt zahlt diese Zeche wohl die höchsten Löhne. (?) Feierschichten kommen dort nicht vor, vielmehr Ueberschichten, sodaß die Arbeiter immer Verdienst haben werden. (!!!) Entlassungen masurischer Arbeiter werden, außer dem Falle grober Selbstverschuldung, nicht vorkommen.
Masuren! Es kommt der Zeche hauptsächlich darauf an, brave, ordentliche Familien in diese ganz neue Kolonie hinein zu bekommen. Ja, wenn es möglich ist, soll diese Kolonie nur mit masurischen Familien besetzt sein. So bleiben die Masuren ganz unter sich und haben mit Polen, Oestreichern usw. nichts zu tun. Jeder kann denken, daß er in seiner masurischen Heimat wäre. Es gibt Masuren, die bei der Zeche schon lange tätig sind und sich bei der anständigen Behandlung wohl fühlen. Als Beweis wird in Masuren bald ein solcher Arbeiter als Zeuge erscheinen. (!)
Jede Familie erhält vollständig freien Umzug; ebenso jeder Ledige freie Fahrt. Sobald eine genügende Anzahl vorhanden ist, wird ein Beamter der Zeche sie abholen. Die Zeche verlangt für den freien Umzug keine Bindung, eine bestimmte Zeit ist dort zu bleiben, wie andere Zechen. Sie vertraut ganz und gar der Ehrlichkeit der Masuren. Wem es nicht gefällt, kann von dort ruhig weiter ziehen. Die Verwaltung der Zeche hofft aber, daß es den masurischen Familien dort so gefallen wird, daß sie an’s Weiterziehen garnicht denken werden. Auch weiß sie, daß sehr viele Familien später freiwillig nachziehen werden, wenn erst die Briefe der Zugezogenen angekommen sind.
Ueberlege sich also ein jeder die ernste Sache reiclich! Die Zeche will keinen aus der Heimat weglocken, auch keinen seinem jetzigen Arbeitsverhältnisse entreißen; sie will nur solchen ordentlichen Menschen , die in der Heimat keine Arbeit oder nur ganz geringen Verdienst haben, helfen, mehr zu verdienen und noch etwas zu ersparen, damit sie im Alter nicht zu hungern brauchen. Vorgetäuscht wird durch dieses Plakat nichts, es beruht alles auf Wahrheit. (!!!)
Wie er sich die Angelegenheit reiflich überlegt hat, sage dies seinem Gastwirt, bei dem dieses Plakat aushängt. Dieser schreibt dann an den Herrn Wilhelm Royek in Harpen bei Bochum. Es werden dann in kurzer Zeit zwei Herren erscheinen, die das Nähere bekanntgeben werden. Jeder besorge sich gleich seine Papiere: Arbeitsbuch und Geburtsschein (Militärpaß genügt nicht). Diese Papiere werden von den beiden Herren gleich mitgenommen. Später kommt dann ein Beamter der Zeche, um die sich Meldenden abzuholen, da die Wohnungen erst Ende September bezogen werden können.“
Die Reproduktion des Artikels in der Bergarbeiter-Zeitung vom 08. August 1908 findet sich mit einem vollständigen Transkript und weiterführenden Informationen auf der Seite EDU_Westfalen.
Anmerkung
- Das Transkript gibt den Originaltext bestmöglich wieder. Das bedeutet, dass Orthografie, Grammatik und Wortwahl des Artikels beibehalten werden. Somit kann es auch unweigerlich zur Wiedergabe diskriminierender, menschenverachtender oder anderweitig ideologisch aufgeladener Inhalte kommen. Der Artikel ist daher zwingend reflektiert in den historischen Kontext seiner Entstehung einzuordnen. ↩︎