Rüdiger Klaus (Großstadtmacher)

Eine Stadt im Freudentaumel: Mit der Geburt von Rüdiger Klaus hat Wanne-Eickel im April 1955 die magische Grenze von 100.000 Einwohnern erreicht und ist Großstadt. Der Jubel ist groß: Die Menschen hängen Fahnen aus ihren Fenstern, die Kirchenglocken läuten, die Sirenen der Zechen, der Werke und der Feuerwehr heulen, die Schiffe im Hafen tuten. Und im Rathaus türmen sich die Glückwunsch-Telegramme.

Die Menschen in der Stadt platzen vor Stolz: Wanne-Eickel wird am 21. April 1955 offiziell zur 50. Großstadt der noch jungen Bundesrepublik. Rüdiger Klaus, das „Großstadt-Kind“, kommt im damaligen St. Joseph-Krankenhaus auf der Schulstraße (heute Landgrafenstraße) zur Welt, in einer Zeit, in der die Kriegsschäden in der Stadt noch nicht alle beseitigt sind und die Menschen, vor allem in den Zechen, für ihren Lebensunterhalt schuften müssen. Endlich, so heißt es damals in der Wanne-Eickeler Zeitung, erhält die Stadt „auch nach außen hin die Bedeutung“, die Wanne-Eickel „auf Grund seiner schwer arbeitenden Bevölkerung verdient“. Als Großstadt, so der Glaube, wird alles besser.

Rüdiger Klaus wurde empfangen wie ein Thronfolger. Oberbürgermeister Edmund Weber und Oberstadtdirektor Wilhelm Elbers fahren am Morgen mit Entourage ins Krankenhaus, um ihren 100.000 Bürger zu begrüßen. „Es war ein freudiges, bewegtes Bild, das sich am Portal des Hospitals wie in den Gängen bot“, berichten die Ruhr-Nachrichten am 30. April. Und: „Neugierige umsäumten die Straßenseiten und in den Gängen hatten sich sogar die Kranken versammelt, um den historischen Augenblick mitzuerleben.“ Oberbürgermeister und Oberstadtdirektor beglückwünschen im St. Joseph-Haus die Eltern, den Zimmermann Karl-Heinz und seine Frau Lieselotte Klaus, dann schnappt sich OB Weber den kleinen Rüdiger, und die Blitzlichter zucken.

Die Rathauschefs kommen nicht ohne Geschenke. Sie übergeben, natürlich, Blumen, außerdem eine Säuglingsausstattung einschließlich Kinderwagen sowie eine Versicherungspolice über 3000 Marken, berichten WAZ und Ruhr-Nachrichten.

Doch das ist erst der Anfang: Die Milchversorgung Herne/Wanne-Eickel lässt einen Jahres-Bezugsschein für einen Liter Milch täglich springen, die Sparkasse überreicht 100.000 Pfennige (also 1000 Mark), der Wein-Patenort Clotten an der Mosel schenkt den Eltern 50 Flaschen Wein, die Firma Althoff spendet Waren über 300 Mark. Das schönste Geschenk aber, kommentieren Westfälische Rundschau und Ruhr-Nachrichten, sei eine städtische Neubau-Wohnung auf der Johannesstraße, die der Oberstadtdirektor für die frischgebackenen Eltern ausgesucht habe: „Dr. Elbers gestand, daß es gar nicht einfach war, die Neubauwohnung zu beschaffen, daß man aber dem wichtigsten Bürger unserer Stadt auch ein schönes Heim geben wollte, in dem er wachsen und gedeihen kann“, so die Ruhr-Nachrichten.

Im Wanne-Eickeler Rathaus gingen Dutzende Glückwunsch-Telegramme ein, unter anderem vom damaligen NRW-Ministerpräsidenten Karl Arnold. Das Herner Stadtarchiv hat sie aufbewahrt. Foto Michael Muscheid, WAZ

Das tut er, der Rüdiger. „Ich habe eine schöne Kindheit in Wanne-Eickel gehabt“, sagt Rüdiger Klaus heute. Die Melanchthon-Schule besucht er, dann das Jungengymnasium (heute Gymnasium Eickel), macht eine Lehre zum Betonbauer bei Heitkamp, studiert Bauingenieurwesen, bleibt aber bei Heitkamp, später wechselt er in ein Architekturbüro. Wanne-Eickel ist er aber nicht lange treu geblieben: Anfang der 1980er Jahre heiratet er seine Wanne-Eickeler Freundin Ute, zieht mit ihr erst nach Dortmund, dann nach Schwerte. Dort lebt das Ehepaar noch heute, hat Pferde, einen Hund und das Angelparadies Papenberg. Angelfreunde können dort an vier Teichen auf Fischfang gehen.

Dass er einmal das berühmteste Kind Wanne-Eickels gewesen ist, das sei schon viele Jahre kein Thema mehr gewesen, sagt Klaus. Dokumente aus dieser Zeit liegen vergraben im Haus, sagt er, nur manchmal komme das Thema noch auf, so der 64-Jährige. Eines sei aber klar. Die Geschenke hätten der jungen Familie damals einen guten Start ermöglicht: „Wir hatten eine vernünftige Wohnung, und von den 1000 Mark hatte ich lange was.“ Ab und zu ist Klaus noch in Wanne-Eickel, der Stadt, die er zur Großstadt machte. Er besuche mit seiner Frau das Grab der Eltern, „und dann fahren wir die alten Stätten ab.“

Rüdiger Klaus im Jahr 2020, Foto Janine Wolloscheck

Und die Großstadt Wanne-Eickel? Die gibt es nicht lange. Schon zum Festakt zur Großstadtwerdung im Saalbau im Mai 1955 schlägt Oberstadtdirektor Elbers nachdenkliche Töne an. „Mit der Geburt des 100.000 Wanne-Eickelers seien die Sorgen und Nöte dieser recht steuerarmen Stadt nicht geringer geworden“, zitiert ihn die Wanne-Eickeler Zeitung. Ende 1965 erreichte die Bevölkerungszahl mit knapp 110.000 Einwohnern ihren Höchststand, fünf Jahre später aber rutscht die Stadt wieder unter die 100.000 und verliert ihren Großstadt-Status.

Am 31. Dezember 1974 hat Wanne-Eickel nur noch 92.472 Einwohner und gemeinsam mit dem benachbarten Herne (101.359 Einwohner) bilden sie tags darauf die neue Stadt Herne.

Michael Muscheid, der Text wurde in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (Herne) am 18. April 2020 erstveröffentlicht.