Ruth Litzig (Dauerschwimmerin)

Ruth Litzig wollte vor 85 Jahren ihren eigenen Weltrekord im Dauerschwimmen verbessern. Sie überlebte den Marathon im Baldeneysee nicht.

Sie war der hellste Stern am erfahrungsgemäß eher tristen Herner Promi-Himmel: Ruth Litzig, die 18-jährige Schwimmerin des SC Wiking Herne, schwamm im August 1932 den alten Stichkanal, der vom Rhein-Herne-Kanal über den Hafen Friedrich der Große bis zur Bahnhofstraße führte, immer wieder rauf und runter und stellte nach 73 Stunden und 52 Minuten einen neuen Weltrekord im Dauerschwimmen auf. Über die drei Tage und Nächte hinweg waren weit über 50 000 Zuschauer zum Kanal gepilgert. „Von der Strünkeder Straße bis zur Zeche Friedrich der Große 3/4 waren beide Ufer dicht belagert. Das war ein Wogen, wie es bei der Cranger Kirmes sonst nicht ist“, berichtete der Herner Anzeiger über die Volksfeststimmung.

Ruth Litzig nach dem Herner Weltrekord im Dauerschwimmen, Foto Stadtarchiv Herne
Ruth Litzig nach dem Herner Weltrekord im Dauerschwimmen, Foto Stadtarchiv Herne

Mit ihrer Bravourtat war „das Fräulein Weltrekordlerin aus Herne“ in aller Munde. Der Westdeutsche Rundfunk widmete ihr eine Sondersendung, in Dortmund gab sie den Startschuss zum Sechstagerennen; über 700 Gäste waren im Saalbau Strickmann dabei, als ihr die Goldene Stadtplakette überreicht wurde.

 Das Elternhaus als Hölle

Ruhm und Ehre waren da, nur gelang es nicht, irgendetwas davon zu versilbern. Die Familie lebte am Existenzminimum. Der Vater Adolf Litzig wurde 1922 als Lehrer rausgeschmissen, weil er sich an Schülerinnen vergangen hatte. Die Weltwirtschaftskrise mit ihrer Arbeitslosigkeit spuckte ihn endgültig als gescheiterte Existenz aus. Seine Frau Gertrud schrieb später: Als unsere Kinder größer wurden, mussten sie erkennen, „dass das Elternhaus, das Schönste und Heiligste, keine Elternhaus war, sondern eine Hölle.“

Rettung bot ein anderer Mann, der in das Leben der jungen Frau marschierte: der 20 Jahre ältere SA-Standartenführer Albert Heßler. Die Weltrekordlerin und der berüchtigte SA-Mann – das war Herner Celebrity anno 1933. Heßler wurde Ruth Litzigs Verlobter und Manager und kündigte im August 1933 ein „100-Stunden-Schwimmen“ im Essener Baldeneysee an. Sportlicher und pekuniärer Erfolg sollten nun zusammengehen. Am Hardenbergufer wurde ein Festzelt mit Schankerlaubnis aufgebaut, Lizenzen für Würstchenbuden vergeben und Eintrittskarten für 20 Pfennig verkauft. Unter der Hakenkreuzfahne stilisierte Heßler den Rekordversuch zum Symbol „der nationalen Erhebung“ im Deutschland Adolf Hitlers.

Gruppenbild nach dem Herner Weltrekord im Dauerschwimmen, Foto Stadtarchiv Herne
Gruppenbild nach dem Herner Weltrekord im Dauerschwimmen, Foto Stadtarchiv Herne

Der Startschuss

Am Donnerstag, 17. August 1933, 11.28 Uhr, gab der eigens nach Essen gereiste Herner Oberbürgermeister Albert Meister den Startschuss. Von zehn SA-Leuten begleitet sprang Ruth Litzig ins Wasser und zog in den folgenden Stunden ihre Bahnen, Zug um Zug, ihren Kopf knapp oberhalb der Wasserfläche haltend, Schultern und Arme darunter. Tagsüber reisten Schaulustige aus dem ganzen Revier per Autobus an, nachts hallten Marschmusik und Walzertakt aus dem gut besuchten Restaurationszelt über den See. Die Presse berichtete täglich.

Anfangs lief alles nach Plan, aber schlechtes Wetter und hoher Wellengang kosteten zunehmend Kraft. Aufkommende Zweifel wurden mit Durchhalteparolen quittiert: „Denk an das Reich“, schrie Standartenführer Heßler. „Denk an Italien“, rief ihre Mutter, denn eine Italienreise sollte der Lohn für den Rekord sein. Ruth Litzig hielt aus, ob aus Pflichtbewusstsein, Opferbereitschaft oder übertriebenem Ehrgeiz ist nicht mehr zu klären.

Große Ehrungen nach dem Herner Weltrekord, Foto Stadtarchiv Herne
Große Ehrungen nach dem Herner Weltrekord, Foto Stadtarchiv Herne

Der Rekordsonntag

Allein am Sonntag fanden sich über 50 000 Menschen am Baldeneysee ein. Gegen Mittag hatte Litzig ihren alten Weltrekord übertroffen. Auch Oberbürgermeister Meister kam erneut und wurde von der Schwimmerin mit dem Hitler-Gruß gegrüßt, so die Herner Zeitung. Der Reporter der Essener National-Zeitung hatte dagegen einen anderen Eindruck. Für ihn trieb die junge Frau schon am Sonntagvormittag „völlig apathisch, total erschöpft, übermüdet, mit geschlossenen Augen und bestimmt nicht mehr ganz bei normalem Sinnesbewusstsein im Wasser daher.“

Um 18.20 Uhr wurde die Dauerschwimmerin unter den Klängen des Deutschlandliedes mit breiten Tüchern aus dem See gehoben – mit der neuen Weltrekordzeit von 78 Stunden und 42 Minuten! Mit einem Auto wurde Litzig ins Krankenhaus Huyssenstift gebracht. Noch während der Fahrt verlor sie das Bewusstsein. Damit das Fest am See ungestört weiter gehen konnte, wurde per Lautsprecher verkündet, die Weltrekordlerin sei bei bester Gesundheit und ruhe sich in ihrem Zimmer im Hotel Kaiserhof nur aus.

Am Montagmorgen titelte die Presse „Unsere Ruth hats wieder mal geschafft!“ und im Herner Rathaus bereitete man den großen Empfang der Weltrekordlerin vor. Doch hartnäckig hielten sich auch Gerüchte über den kritischen Gesundheitszustand der jungen Frau. Im Laufe des Tages versammelte sich eine große Menschenmenge vor dem Essener Huyssenstift. Dort bezeugte Gertrud Litzig das Wohlbefinden ihrer Tochter: „Im Übrigen lässt Ruth alle Hernerinnen und Herner recht herzlich grüßen.“

Herner Zeitung, 22.08.1933, Foto Archiv Piorr
Herner Zeitung, 22.08.1933, Foto Archiv Piorr

Todesursache: totale körperliche Erschöpfung

Ruth Litzig starb am Dienstag, den 22. August 1933, um vier Uhr nachmittags. Sie hatte ihr Bewusstsein nicht wieder erlangt. Todesursache: Herzstillstand infolge totaler körperlicher Erschöpfung. Das kühne Unterfangen endete in einer Tragödie.

Am Ende wollte keiner dafür verantwortlich gewesen sein. Die Lokalpresse, die zuvor das Spektakel mit euphorischen Berichten angefeuert hatte, zog sich auf ihre publizistische Verantwortung zurück. Man hätte eben „ohne Werturteil“ über ein bedeutendes Ereignis berichtet. Gegen Albert Heßler und Gertrud Litzig wurde ein Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet. Während der Vernehmungen bestätigte ein Arzt, dass er schon in der Nacht vom Samstag auf Sonntag empfohlen hätte, die sichtlich erschöpfte Schwimmerin aus dem Wasser zu nehmen. Aber Verlobter und Mutter verschanzten sich hinter dem freien Willen der Verstorbenen. „Für Ruth kam ein Aufgeben gar nicht in Frage“, erklärten beide unisono.

Große Anteilnahme bei der Beerdigung

Obwohl sich der Verdacht aufdrängte, dass man aus finanziellen Interessen den erwarteten Zuschauerandrang am Sonntag noch hatte mitnehmen wollen, wurde das Verfahren ergebnislos eingestellt. Konsequenzen kamen von ganz oben: Reichssportführer von Tschammer und Osten verbot zukünftig „derartige Rekordwahnsinnsveranstaltungen“.

Am Tag ihrer Beerdigung, dem 26. August 1933, bewegte die Dauerschwimmerin noch einmal die Massen. „Eine wahre Völkerwanderung“, so die Presse, setzte zum Friedhof an der Wiescherstraße ein, wo Ruth Litzig beigesetzt wurde.

Ralf Piorr1

Anmerkung

  1. Ertstveröffentlichung des Textes: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (Herne), 18. August 2018. ↩︎