Morgens, mittags, abends – Steckrüben …

Zur Ernährungssituation während des Ersten Weltkriegs in Herne und Wanne-Eickel und die Reaktion der Bergarbeiterbewegung

1917 war das Steckrübenjahr. Man kann Steckrüben essen, wenn sie gefettet sind, aber Fett hatten wir 1917 nicht. Wir mussten sie so essen. Morgens, mittags, abends‘, berichten die Zeitzeugen über das dritte Jahr im vierjährigen Ersten Weltkrieg. Die allgemeine Begeisterung, die zu Beginn des Krieges auch in Herne, Sodingen, Wanne und Eickel zu beobachten war, legte sich angesichts der katastrophalen Lebensmittelknappheit, die im Winter 1916/1917 ausbrach. Die Löhne der Berg- und Industriearbeiter und die Preise für die Lebenshaltung klafften mehr und mehr auseinander. Die Bergarbeiter des Ruhrgebietes reagierten mit Demonstrationen und Streiks. Nach dem Steckrübenwinter, der die Bevölkerung bis an den Rand des Verhungerns brachte, entstanden im Revier Streikbewegungen. Auch die Bergreviere in der heutigen Stadt Herne blieben von diesen Arbeitsniederlegungen nicht verschont.

In den Jahren 1917 und 1918 waren fast alle Lebensmittel im heutigen Stadtgebiet rationiert. Die Herner Gemeindeverwaltung gab folgende Mengen pro Kopf und pro Woche aus: 2,5 Pfund Kartoffeln, 500 Gramm Nährmittel, 50 Gramm Marmelade, 100 Gramm Fleisch, 25 Gramm Wurst, 60 Gramm Margarine, 3,5 Pfund Brot. Kinder unter sechs Jahren erhielten Zwieback oder Büchsenmilch.

Schlangestehen für Lebensmittel während des Ersten Weltkrieges, Repro Norbert Kozicki
Schlangestehen für Lebensmittel während des Ersten Weltkrieges, Repro Norbert Kozicki

Es war die Zeit der Einfach-Rezepte, z.B. Kartoffelplätzchen. Sauber gewaschene Kartoffelschalen drehte man durch den Fleischwolf. Falls vorhanden, wurden ein Ei und ein Eßlöffel Griesmehl hinzugegeben. Das Ganze mit Salz abgeschmeckt und ohne Fett in der Pfanne gebraten. Beliebt war in jenen Tagen Spinat aus jungen Brennnesseln als Hauptgericht, deren Geschmack beim Kochen mit etwas Milch und einer Zwiebel verfeinert wurde.

‚1917 wurde ein furchtbares Hungerjahr. Obwohl ich Schüler war, habe ich zu der Zeit kein Lesebuch, kein Heft, keine Tafel gehabt. Ich bin nur mit einem Stück Steckrübe oder einer Wurzel in der Hand zur Schule gegangen‘, erinnerte sich ein Bergmann des Jahrgangs 1906. Ein anderer Kumpel brachte mit seinen Lebenserinnerungen die gesamte soziale Dramatik der Arbeiterfamilien zum Ausdruck, als er über die Reaktionen seiner Mutter berichtete, nachdem die Kinder die versteckte Brotration verspeisten: ‚Da hat die Mutter geweint. ´Das Brot ist doch für den Vater. Der muss doch arbeiten. Und wenn der jetzt nach Hause kommt…´ Die Mutter hat geweint. Und wir haben gestanden und tatsächlich mitgeweint.‘

Im April 1917 verschlechterte sich abermals die Versorgungslage. In den Gemeinden Wanne, Röhlinghausen und Eickel kam es zu drastischen Kürzungen bei den Lebensmittelrationen. Im Amt Wanne brach die Versorgung mit Kartoffeln vollständig zusammen. Erst im September 1917 konnten erste Kartoffelmengen wieder an die Bevölkerung verteilt werden.

Als Konsequenz dieser Hungerkatastrophe entwickelten sich im April 1917 im damaligen Landkreis Gelsenkirchen auf den Zechen Unser Fritz, Graf Bismarck und Consolidation die ersten Streiks. Zentrale Forderungen der streikenden Bergarbeiter waren höhere Löhne und die Beibehaltung der alten Lebensmittelrationen. In der Regel brach die Streikfront nach ein paar Tagen zusammen. Nach den erfolglosen Streiks organisierten im Amt Wanne einzelne Bergleute Vertrauensleutekonferenzen, auf denen immer wieder die Forderung laut wurde, den sozialdemokratisch ausgerichteten Bergarbeiterverband (‚Alter Verband‘) zu einer Kampforganisation umzugestalten. Zu Beginn des Krieges, als die SPD ihre Burgfriedenspolitik mit Kaiser-Deutschland beschloss und der Bewilligung der Kriegskredite im Deutschen Reichstag zustimmte, erklärten auch die Führer der sozialdemokratischen Bergarbeitergewerkschaft, dass sie für die Dauer des Krieges auf jegliche Streikaktionen und Lohnforderungen verzichten. Im Amt Wanne, wie an anderen Orten im Ruhrgebiet, entwickelte sich eine Opposition gegen diese gewerkschaftspolitische Ausrichtung.

In einer öffentlichen Volksversammlung am 17. Juni 1917 in Wanne stellte der spätere preußische Innenminister Carl Severing (SPD) fest: ‚Man streikt als Bergarbeiter, um ein Ziel zu erreichen, aber am 16.April zur Erhöhung der Brotration zu streiken, war aussichtslos.‘ (STAM, OBA, Nr. 1791, Bl.125) Eine Woche später, am 25./26. Juni 1917, kam es im Land- und Stadtkreis Gelsenkirchen zu schweren Unruhen wegen der Versorgungslage mit Lebensmitteln. Am ersten Tag zogen 1.000 Menschen zum Lebensmittelamt. Am zweiten Tag demonstrierten über 1.500 Frauen vor dem Rathaus und dem Lebensmittelamt. Sie verlangten eine spürbare Verbesserung der Lebensmittelversorgung. Die Polizei löste diese Demonstration der Frauen auf, indem sie die Demonstrantinnen mit der ‚flachen Klinge‘ auseinandertrieb. (Henri Walther/Dieter Engelmann: Zur Linksentwicklung der Arbeiterbewegung im Rhein-Ruhrgebiet unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung der USPD…, Leipzig 1965, S. 232 f)

In der Gemeinde Wanne organisierten die Bergarbeiter Ende August und Anfang September 1917 mehrere gut besuchte Belegschaftsversammlungen. Für die Kumpels der Zeche Unser Fritz fand am 27. August 1917 eine Belegschaftsversammlung im Kaisergarten in Wanne statt. Zu dieser Manifestation erschienen über 800 Bergarbeiter von einer Gesamtbelegschaft von 3.000 Mann. Den einzigen Tagesordnungspunkt bildeten Ernährungs- und Lohnfragen. (STAM, OBA, Nr.1791, Bl.275 bis 288) Zu dieser Belegschaftsversammlung erschienen neben den überwachenden Polizisten der Kreisausschusssekretär als Vertreter des Landrats, der Amtmann-Anwärter Agethen als Vertreter des Wanner Amtmannes und ein Gemeindeverordneter vom Lebensmittelbüro. Einberufer und Versammlungsleiter war ein gewisser Holzapfel, Gewerkschaftsfunktionär im Alten Verband von der Zahlstelle Eickel II. Als Begründung für die Einberufung führte Holzapfel an, dass die Belegschaft selbst an den Arbeiterausschuss herangetreten sei, damit er eine Belegschaftsversammlung einberufe.

‚In den letzten zwei Monaten waren die Lebensmittel so knapp, dass es nicht möglich war, die Arbeit in der Grube zu verrichten‘, beschwerten sich viele Kumpel. Während der Versammlung sprach der örtliche Sekretär, heute würde man sagen Geschäftsführer, der SPD Janczek, der die ‚unverschämten Preissteigerungen‘ für Lebensmittel anprangerte. Er stellte fest, dass eine vierköpfige Arbeiterfamilie mit der wöchentlichen Kartoffelration gerade einen Tag auskäme. Viele Familien könnten nicht einmal die rationierten Lebensmittel kaufen. Die Lohnsteigerung bei den Hauern betrug ca. 50%, bei den anderen Zechenarbeitern 37%. Demgegenüber schnellten die Preise um bis zu 300% in die Höhe.

Die politischen Absichten des Sozialdemokraten Janczek wurden deutlich, als er die Kriegsfrage und die Burgfriedenspolitik der SPD ansprach. ‚Heute steht der Arbeiter vor der Alternative, entweder die Lebensmittel billiger oder die Löhne höher, das wir uns die Lebensmittel kaufen können. Es kann uns nicht gleichgültig sein, wie der Ausgang des Krieges ist; aber wenn ich auf der einen Seite erkläre Durchhalten, dann muss uns auf der anderen Seite das Durchhalten ermöglicht werden.‘ Von einer möglichen Forderung nach sofortiger Einstellung der Kriegshandlungen und einem Frieden zwischen den kriegführenden Ländern war nicht die Rede, selbst nach drei Jahren sinnlosem Stellungskrieg in Nordfrankreich.

Als Forderungen formulierte Janczek: sofortige Lohnerhöhung für Hauer und Lehrhauer nicht unter 12 Mark, Erhöhung der Schichtlöhne für erwachsene Arbeiter um 1 Mark, für Frauen um 0,75 Mark, für jugendliche Arbeiter um 0,50 Mark und ferner die Verdopplung der Kinderzulage. Er betonte, dass eine prozentuale Lohnerhöhung keinen Wert für die Bergleute habe. In diesem Zusammenhang verwies er auf die Gewinnentwicklung der einzelnen Zechengesellschaften während der ersten beiden Kriegsjahre, die so enorm gewesen war, dass das Generalkommando VII in Münster die Veröffentlichung der betreffenden Statistik verbot. Die Zeche Unser Fritz erzielte im Jahr 1915 einen Betriebsgewinn von 2,2 Millionen Mark, im Jahr 1916 einen Gewinn von 2,4 Millionen Mark. Nach den Ausführungen von Janczek sprach ein gewisser Armborst vom Gewerkverein christlicher Bergarbeiter aus Röhlinghausen, der im wesentlichen die Ausführungen des Sozialdemokraten bestätigte.

Bericht über Zeche Unser Fritz in der Bergarbeiterzeitung vom 10.03.1917, Repro Norbert Kozicki
Bericht über Zeche Unser Fritz in der Bergarbeiterzeitung vom 10.03.1917, Repro Norbert Kozicki

Ein Hertener Bergmann mit Namen Behring kritisierte den SPD-Mann Janczek, dass zwar die von ihm aufgestellten Forderungen richtig seien, aber viel zu spät kommen würden. Er rechnete den Versammlungsteilnehmern vor, dass das Existenzminimum einer fünfköpfigen Arbeiterfamilie bei rund 450 Mark lag. Der Durchschnittslohn betrug aber nach seinen Berechnungen nur 250 Mark im Monat.

Zum Abschluss der Belegschaftsversammlung verabschiedeten die Bergarbeiter der Zeche UnserFritz folgende vom Bergarbeiterverband eingebrachte Resolution: Die Belegschaftsversammlung der Zeche Unser Fritz ist der Auffassung, dass die von den Bergarbeiterverbänden als notwendigst bezeichnete Lohnerhöhung das Mindeste ist, was in Anbetracht der Teuerung den Bergarbeitern gewährt werden muss. Der Wille der Belegschaft ist, das Ihrige zu tun, um die Förderung auf der Höhe zu erhalten. Dieser Wille hat aber seine Grenze an der Leistungsfähigkeit, die durch die Unterernährung fallen muss. Nur durch Zuführung ausreichender Lebensmittel und entsprechender Erhöhung der Löhne kann die Arbeitskraft der Bergarbeiter erhalten bleiben. Die Arbeitskraft zu erhalten, liegt im vaterländischen Interesse. Möge die Tat sowohl der Arbeitgeber als auch der Landwirtschaft beweisen, dass sie für die vaterländische Not ein Verständnis haben.

Die von Janczek eingebrachte Resolution zeigte die Taktik der rechten Sozialdemokraten, die Ernährungsfrage mit der Kriegsfrage zu koppeln, um ihre Burgfriedenspolitik durchhalten zu können.

Am 3. September 1917 rief der Bergmann Andreas Madry eine Belegschaftsversammlung der Zeche Pluto ein. Zu dieser Versammlung in der Wirtschaft Breiing an der Gelsenkirchener Straße erschienen über 1.000 Bergarbeiter von einer Gesamtbelegschaft von 3.500 Mann. In Anwesenheit des Regierungsrates, Professor von Seeck als Vertreter des Generalkommandos VII aus Münster, beschlossen die Kumpel der Zeche Pluto die gleichen Forderungen nach höheren Löhnen und erheblich verbesserter Lebensmittelversorgung. Die Bergarbeiter der Zeche Pluto verdienten mit 8,59 Mark pro Schicht im Jahr 1917 im lokalen Vergleich mit den Beschäftigten der anderen Zechen am wenigsten. (STAM, OBA Nr. 1791, Bl. 318 bis 331) Die Anwesenheit des Vertreters des Generalkommandos verdeutlicht, dass das Münstersche Militär die Lohnbewegungen zu dieser Zeit im Raum Wanne wie auch im gesamten Ruhrgebiet intensiv beobachtete.

Auf der Tagesordnung dieser Belegschaftsversammlung stand der Vierteljahresbericht der Arbeiterausschüsse. Zunächst gab der Versammlungsleiter, der Bergmann Lochthofen, den Bericht über die Verhandlungen zwischen dem Arbeiterausschuss und der Zechenverwaltung. Die Kumpel der Zeche Pluto stellten die gleichen Lohnforderungen wie die Bergleute von der Zeche Unser Fritz. Die Betriebsführer und die Zechenverwaltung der Gelsenkirchener Bergwerks-Aktiengesellschaft erklärten, dass die geforderten Löhne zwar gezahlt werden könnten, aber aus „solidarischen Gründen den anderen Zechengesellschaften gegenüber“ müssten die Forderungen zurückgewiesen werden.

Der Versammlungsleiter interpretierte diese Erklärung der Zechenleitung als Mahnung an die unorganisierten Bergarbeiter, sich den bestehenden Gewerkschaften anzuschließen, um die ‚Kampfkraft der Arbeiterschaft zu erhöhen‘. Dass die Bergwerksgesellschaft diese Erklärung abgeben konnte, verdeutlicht, in welche Situation die einzelnen Belegschaften nach den erfolglosen Streiks von 1916 und 1917 geraten waren.

Nach dem Bericht über die Lohnverhandlungen der Arbeiterausschüsse ergriff der Regierungsrat von Seeck das Wort. ‚Ihre Hilfe, wir brauchen sie. Wir sind Kameraden im Kampf ums Vaterland, wir oben und sie unten in der Grube. Ich kann ihnen nicht versprechen, dass das Generalkommando ihre Wünsche erfüllen wird. Sie wissen ja, wie manche Versprechungen gegeben worden sind, die nachher nicht gehalten werden konnten. Derartige Versprechungen wollen wir nicht geben. Nur eins kann ich ihnen versprechen, dass das Generalkommando, soviel es kann, sie unterstützen wird; wieweit, das weiß ich nicht.‘ Den anwesenden Bergarbeitern musste diese nichtssagende Erklärung des Vertreters der Generalität regelrecht die Sprache verschlagen haben, denn keiner der Bergleute äußerte sich zu diesen Ausführungen. Der Versammlungsleiter bemerkte, dass es ihn ‚befremde, dass sich auch jetzt noch keiner zu Wort melde…‘ Der Bergmann Wagner kam nochmals auf die Lohnverhandlungen zu sprechen, indem er darauf hinwies, dass die Lohnforderungen keineswegs überhöht seien. Eine Arbeiterfamilie mit fünf Kindern benötige in der Gemeinde Wanne 82 Mark wöchentlich für Lebensmittel. Damit waren die Bergarbeiter der Zeche Pluto am stärksten belastet, weil auf dieser Zeche die geringsten Löhne gezahlt wurden ( Pluto: 8,59 Mark, Unser-Fritz 8,98 Mark und Königsgrube 9,20 Mark pro Schicht). Damit lagen die Löhne im Amt Wanne weit unter dem Durchschnittslohn des Ruhrgebiets mit 10,70 Mark pro Schicht. (Jahrbuch Oberbergamt Dortmund, Essen 1923)

Ein Sicherheitsmann Strossik machte noch eine interessante Feststellung zur Lohnpolitik auf den Zechen im Amt Wanne. Nach den Streiks vom April des Jahres 1917 seien die Löhne geringer geworden, worauf die Zechendirektionen antworteten, dass in dieser Zeit die Arbeitsproduktivität zurückgegangen sei. Daraufhin bemerkte Strossig, dass die negative Entwicklung der Arbeitsproduktivität auf die neue Zusammensetzung der Untertagebelegschaft auf der Zeche Pluto zurückzuführen sei. Für die zum Militär eingezogenen jüngeren Hauer seien ältere Handwerker, wie Schuster oder Schneider, für die Grubenarbeit angestellt worden. Diese veränderte Zusammensetzung der Zechenbelegschaft von Pluto könnte neben der Verringerung der Arbeitsproduktivtät auch eine Erklärung für die fehlende Streikbereitschaft auf dieser Zeche gewesen sein.

Nach weiteren Diskussionsbeiträgen einigte sich die Belegschaft darauf, den Schlichtungsausschuss anzurufen. Es wurde folgender Antrag einstimmig verabschiedet: Die heute im Lokale des Wirts Breiing in Wanne tagende Belegschaftsversammlung der Zeche Pluto und Wilhelm beauftragt ihren Arbeiterausschuss, weil die Zechenverwaltung die Lohnforderung rundweg abgelehnt hat, in dieser Angelegenheit zur Schlichtung der Differenzen den Schlichtungsausschuss anzurufen.

Im Herner Bergrevier entwickelten sich ebenfalls immer Streik- und Protestbewegungen. Am 22. Februar 1917 traten die Belegschaften der Schächte Constantin IV/V im Herner Bergrevier in den Streik. Als Grund wird in einem Telegramm an das Generalkommando in Münster der allgemeine Nahrungsmangel angegeben. (Stadtarchiv Herne, V/3335,Bl.20) Eine Lieferung von fünfzig Doppelzentnern Weißbohnen aus Münster beendete den Zweitagesstreik. Sechs Tage nach der Beendigung des Streiks sieht sich der Herner Bürgermeister veranlasst, ein weiteres Telegramm an das Generalkommando zusenden. ‚Ich habe aber den Eindruck gewonnen, dass die Bewegung noch nicht als abgetan gewonnen ist. Zur Verhütung weiterer Zwischenfälle ist unbedingt nötig, dass die Lebensmittelverteilung glatt und in ausreichendem Maße vonstatten gehen und noch weitere Zuweisungen erfolgen können.‘ Eine Verbesserung der Versorgung mit Lebensmittel trat aber nicht ein, im Gegenteil. Am 2. März 1917 schickte der Arbeiterausschuss der Zeche Julia eine Einladung an den Bürgermeister ‚zwecks Darlegung der Situation der Lebensmittelverteilung auf einer Belegschaftsversammlung‘.

Am 6. März 1917 fuhren von der Morgenschicht auf den Schächten Constantin I/II von 760 Mann 295 nicht an. Auch hier forderte die Belegschaft Lohnerhöhungen und die Verteilung von Lebensmitteln. Wie der Bürgermeister in einem Aktenvermerk niederschrieb, fuhren zwar die Mitglieder des Arbeiterausschusses an, während die anderen Kumpel die Anfahrt verweigerten. Von der Mittagsschicht fuhren auf der Zeche Constantin nur 191 von 500 Bergarbeiter an. Vollständig bestreikt wurden die Schächte der Zeche Friedrich der Große in Horsthausen. Inwieweit die Belegschaften ihre Streikziele durchsetzen konnten, war nicht zu ermitteln. Die Misserfolge der Arbeitskämpfe kamen auf einer Vertrauensleutekonferenz des Alten Verbandes in Bochum zur Sprache. Während der Vertrauensmann Julius Benz aus Herne als Vertreter der Opposition gegen die Burgfriedenspolitik der Gewerkschaftsspitze auftrat und forderte, den Bergarbeiterverband wieder zu einer ‚Kampforganisation‘ umzuwandeln, brachten andere Vertrauensmänner ihre Resignation zum Ausdruck, wie z.B. der Vertrauensmann Wenzel aus Herne: ‚Heute heisst es durchhalten, aushalten und Mund halten.# (Henri Walter/ Dieter Engelmann: a.a.O., S. 230/231)

Die konkrete Situation der Bergarbeiter und ihrer Familien im April 1917 sah folgendermaßen aus: ‚Im April 1917 befand sich Deutschland bereits in einem Zustand der Erschöpfung. Trotz des riesigen Anwachsens der Rüstungsindustrie ging die industrielle Gesamtproduktion gegenüber 1913 auf 57,4% zurück. Besonders die Versorgung der Bevölkerung verschlechterte sich zunehmend. Die landwirtschaftliche Produktion lag 1916-1918  40-60% unter dem Vorkriegsstand… Der Anteil der Todesfälle infolge von Unterernährung stieg 1918 auf 37% aller Todesfälle… Bergarbeiterführer Otto Hue erklärte am 23.12.1917, dass die Löhne der höchstbezahlten Arbeiter, der Hauer, zwar um 76% gestiegen seien, die Lebensmittelpreise jedoch um 3-400%.Der Durchschnittsverdienst der Arbeiter im Ruhrgebiet lag bereits 1914, vor dem Ausbruch des Krieges, unter dem Existenzminimum.‘ (Inge Marßolek: Sozialdemokratie und Revolution im östlichen Ruhrgebiet, in: Reinhard Rürup: Arbeiter- und Soldatenräte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, Wuppertal 1975, S. 242)

Auch im Herner Bergrevier war der eklatante Widerspruch zwischen der materiellen Not der Arbeiterbevölkerung und den hohen Gewinnen der Zechengesellschaften feststellbar. So steigerte die Harpener Bergwerksgesellschaft mit Sitz in Herne ihren Gewinn von 25,3 Millionen Mark im Jahr 1914 auf 32,3 Millionen Mark im Jahr 1917, was einer Steigerung um 27,6% entspricht. Für die Zechengesellschaft Constantin der Große stieg der Gewinn von 5,5 Millionen Mark auf 10,7 Millionen Mark im gleichen Zeitraum von drei Jahren, was einer Steigerung von 96% entspricht. (Heinrich Teuber: Für die Sozialisierung des Ruhrbergbaus, Frankfurt a.M. 1973, S. 30)

Im Folgenden eine Darstellung eines Konflikts auf der Zeche Teutoburgia, in dessen Verlauf u.a. das Zusammenspiel von Stadtverwaltung, Zechenleitung und Militär exemplarisch dargestellt werden kann: Ausgangspunkt der Darstellung ist zunächst ein Bericht des Polizeikommissars Seibert über eine am 31. Juli 1917 stattgefundene Belegschaftsversammlung der Zeche Teutoburgia in Herne-Börnig an den Landrat von Dortmund. (Stadtarchiv Herne, VII/332, Bl.87-95) Die vom Mitglied des Arbeiterausschusses Henkel einberufene Belegschaftsversammlung begann vormittags gegen 10.30 Uhr und endete abends gegen 22 Uhr. 700 Mann von der Belegschaft und 20 Frauen waren anwesend . Der Bergmann Klein, Mitglied des ‚Alten Verbandes‘, bemängelte zunächst die unzureichende Versorgung der Belegschaft mit zusätzlichen Lebensmitteln durch die Zechenleitung. Da der Arbeiterausschuss trotz wiederholter Aufforderung von Seiten der Belegschaft hierzu nicht tätig geworden sei, forderte er den freiwilligen Rücktritt des Arbeiterausschusses, da dieser nicht mehr das Vertrauen der Belegschaft besitze.

Die Forderung nach der Verbesserung der Lebensmittelversorgung wurde von vielen Rednern geteilt. ‚Es wurde ausgeführt, dass die umliegenden Zechen außer den rationierten Lebensmitteln auch durch freihändigen Ankauf Lebensmittel heranschafften und dieselben z.T. unter dem Einkaufspreis an ihre Arbeiter verteilten, nur auf Teutoburgia geschehe nichts…‘ Diese Beschwerde wurde durch Klagen über die schlechte Behandlung und Misshandlungen der Pferdejungen ergänzt. Und immer wieder wurde das Thema der Notwendigkeit von Lohnerhöhungen angesprochen. Ein Bergmann mit Namen Maczkowiak protestierte: ‚..dass die Belegschaftsmitglieder einzeln ihre Wünsche vortragen sollten, nur durch eine geschlossene Versammlung und durch Einigkeit könnten die Wünsche der Belegschaftsmitglieder durchgedrückt werden.‘ Die Versammlung beauftragte den Arbeiterausschuss, der Zechenleitung die Forderungen sofort vorzutragen und vertagte die Versammlung auf 16 Uhr nachmittags. Zur Unterstützung der Forderungen fuhren die Kumpel der Mittagsschicht nicht mehr an. Die erste Reaktion der Zechenleitung bestand darin, den Bergleuten für die Nachmittagsversammlung die zecheneigenen Räumlichkeiten zu verweigern. Nach Verhandlungen mit dem Betriebsleiter sah sie sich dann gezwungen, die Räume wieder zur Verfügung zu stellen. Diese Reaktion war alles andere als eine vertrauensbildende Maßnahme.

Zu Beginn der Nachmittagsverhandlung stellte sich heraus, dass die amtierenden Mitglieder des Arbeiterausschusses nicht wieder erschienen waren. Die Belegschaft wählte daraufhin eine provisorische Kommission, bestehend aus drei Bergleuten, von denen jeweils einer dem christlichen Bergarbeiterverband, einer der polnischen Berufsvereinigung und einer dem sozialdemokratischen Bergarbeiterverband angehörte. Es wurden folgende Forderungen beschlossen: Absetzung des Arbeiterausschusses, bessere Versorgung mit Lebensmitteln, Lohnerhöhung auf einen Durchschnittshauerlohn von 13,50 Mark, 20 bis 30% Aufschlag für Schichtlöhner und Frauen und freie Fahrt mit der Strassenbahn für auswärts wohnende Belegschaftsmitglieder. Nach der Aufstellung der Forderungen vertagte sich die Versammlung erneut, um die Verhandlungen zwischen der provisorischen Kommission und der Zechendirektion fortzusetzen. Gegen 8 Uhr abends mussten die Kommissionsmitglieder den anwesenden Kumpel mitteilen, dass der zuständige Assessor die Forderungen rundweg ablehnte. Seinen ‚absoluten Herr-im-Hause-Standpunkt‘ unterstrich der Assessor mit der Drohung: ‚dass die Belegschaft, falls sie nicht in zwei Tagen anfahre, vom Generalkommando durch andere Arbeiter ersetzt würde.‘ Alle Vertreter der gewerkschaftlichen Organisationen sahen sich gezwungen, sich klar und deutlich zu positionieren. ‚Die Ursache des Streiks sei nicht allein die Lebensmittelnot, die niedrigen Löhne, sondern in der Hauptsache spiele die schlechte Behandlung der Arbeiter eine große Rolle…die Zeche Teutoburgia habe bisher das freie Wahlrecht gedrückt und zu Schanden getreten und das Staatsbürgerrecht der Arbeiterschaft geknechtet.‘

Gleichzeitig sprachen die Vertreter dieser Organisation entsprechend ihrer Burgfriedenspolitik für die sofortige Beendigung des Streiks aus. Sie begründeten: ‚Ein Streik zur Jetztzeit führe zur Knechtschaft der Arbeiter. Ein wirksamer Kampf gegen das Kapital würde und könne erst nach dem Krieg aufgenommen werden.‘ Und weiterhin: ‚…da die Arbeiter hierdurch nur Massregelungen und keine Besserung zu erwarten hätten.‘ Durch eine vom Versammlungsleiter vorgenommene Abstimmung wurde der Streik auf der Zeche Teutoburgia für beendet erklärt.

Eine Gruppe der Zechenbelegschaft in der Größe von zwei- bis dreihundert Mann hoffte auf eine vermittelnde Tätigkeit der Gemeinde Sodingen. Am Nachmittag, als die Versammlung auf eine Rückkehr der provisorischen Kommission wartete, zog diese Gruppe zum Amtshaus und demonstrierte dort für die Unterstützung ihrer Forderungen durch den Amtmann. Dieser erklärte sich für nicht zuständig und verbat sich ‚energisch derartige Straßendemonstrationen‘. Gegenüber der Zechenleitung von Teutoburgia erklärte der Amtmann, dass man ‚bei frühzeitiger Kenntnis sicherlich in der Lage gewesen wäre, diesen (aufregend und sehr peinlichen Auflauf) zu verhüten.‘ Diesen Vorwurf des Amtmanns der Nichtinformation konterte die Zechenleitung mit dem Hinweis, dass die Kürzung der Kartoffelration durch das Amt Sodingen mitverantwortlich für den Streik auf der Zeche Teutoburgia sei. Seinerseits erwiderte der Amtmann in einem Schreiben vom 8. August 1917 , ‚dass es effektiv zu keiner Kürzung gekommen sei.‘ Gleichzeitig verwies er auf die angebliche Tatsache, dass das Amt Sodingen auch zusätzliche Lebensmittel einkaufe und dies der Zechenleitung auch möglich sei. Als Beispiel führte er die anderen Zechen des Bochumer Vereins an.

Als sich an der verfahrenen Situation nichts änderte, verweigerte die Belegschaft eine Woche später das Verfahren der samstäglichen Überschicht. Erst jetzt sah sich die Zechenleitung veranlasst, zusätzliches Gemüse anzukaufen und in Lohnerhöhungen einzuwilligen. Parallel dazu ging die Zechenleitung dazu über, gegen die Wortführer der Bewegung auf der Zeche Teutoburgia vorzugehen. Die Zechenleitung forderte den Amtmann auf, zum Schutz der arbeitswilligen Bergleute die ‚Rädelsführer‘ des Streiks zum Militär einzuziehen. Der Amtmann von Sodingen griff diese Forderung der Zechenleitung auf und machte sich die Argumentation des Assessors der ZecheTeutoburgia dem ‚Königlichen Landrat zu Dortmund‘ gegenüber zu eigen. In einem Brief an den Landrat bemerkte er: ‚…und meines Erachtens ist nur durch sofortiges Einziehen der Rädelsführer zum Militär unbedingte Besserung der Verhältnisse zu erwarten. Auf diesem Standpunkt steht auch die Direktion, die sonst, wie mir der Direktor sagte, nicht mehr ein und aus wisse.‘ Am 18. Oktober 1917 konnte der Sodinger Amtmann dem Bergrevier Bochum ( die Zeche Teutoburgia gehörte zum Bochumer Verein) melden: ‚Die Einberufung der Haupträdelsführer hat hier übrigens wie eine befreiende Tat gewirkt, die auch von den einsichtsvollen Bergleuten im Stillen begrüßt wurde. Mit Genugtuung haben wir festgestellt, dass von diesem Tage ab die sonst so kriselnde Stimmung gänzlich umgeschlagen und Ruhe und Besonnenheit auch auf den hiesigen anderen Zechen, die mitvergiftet worden sind, wieder Platz gegriffen hat. Gerade dieses Mittel hat besser gewirkt, als alle endlosen Verhandlungen, das Halten großer Reden und die immer wieder gemachten Beschwichtungsversuche der Arbeitgeber. Man hat eingesehen, dass man doch gänzlich unabkömmlich nicht ist und angesichts dieser Erkenntnis möchte nun so leicht keiner mehr ‚der Macher‘ sein.‘

Dass diese brutalen Massnahmen zur Unterdrückung jeglicher Opposition auch für andere Zechenbelegschaften Folgen zeigten, geht aus einem Bericht über die Belegschaftsversammlung der Zeche Mont Cenis vom 7. Oktober 1917 hervor. Dort heisst es: ‚(Der zweite Redner -N.K.) brachte die Vorgänge und Folgen für die verschiedenen Belegschaftsmitglieder der Zeche Teutoburgia, die durch den stattgefundenen Streik hervorgerufen wurden, zur Sprache. Wie die Zechenverwaltung der Zeche Teutoburgia das Generalkommando bewogen habe, und hierauf mehrere Arbeiter der Zeche eingezogen worden sein. Auf den Gestellungsbefehlen habe mit Blei der Vermerk gestanden: ´Kohlen´..Die Zechenverwaltung und das Amt Sodingen steckten unter einer Decke. Dass hier bei der heutigen Versammlung keiner den Mund auftue, wäre ganz klar, weil dieselben sofort eingezogen würden.‘

Norbert Kozicki

Dank an Jürgen Kotbusch für die Benutzung der Quellen aus seiner Diplomarbeit ‚Zur Soziologie der Arbeiterbewegung während der Novemberrevolution im Stadtkreis Herne‘, Betreuer Professor Dr. Leo Kofler