Der Januar 1933 brachte für die Herner und Wanne-Eickeler Juden eine völlige Änderung ihrer Lebensgrundlage. Wirtschaftliche Ausbeutung, politische Entrechtung und schließlich physische Vernichtung waren nach nationalsozialistischem Willen die drei Stufen, in denen das Leben der deutschen Juden beendet werden sollte. Die Analyse der Vorgänge zwischen 1933 und 1938 kann unter verschiedenen Fragestellungen durchgeführt werden. Eine Betrachtung der Einwohnerentwicklung der Jahre 1932 bis 1940 zeigt, dass Herne zu den Städten gehörte, die nach der Machtergreifung von den jüdischen Bewohnern nur sehr zögernd verlassen wurden, während Wanne-Eickel zu den Städten mit einer schnelleren Abwanderung gehörte. lm Jahre 1930 lebten offiziel 1.474 Juden in Herne und 316 in Wanne-Eickel, deren Zahl sich 1937 auf 341 in Herne bzw. 124 in Wanne-Eickel verringerte. Man kann daher fragen, warum so viele Juden in Herne geblieben sind oder warum so viele Juden Wanne-Eickel schon vor der Reichspogromnacht, auch als ‚Kristallnacht‘ bezeichnet, verlassen haben. In diesem Artikel soll versucht werden, die lokalen Faktoren zu verdeutlichen, die Einstellung und Handeln der in Herne und Wanne-Eickel ansässigen Juden in der Zeit des Nationalsozialismus beeinflusst haben. Aus den Verhaltensunterschieden, zum Beispiel in Bezug auf Emigration oder Ausharren, wird deutlich, dass die Gründe auf lokale Umstände zurückgeführt werden müssen.
Die Zeit zwischen Hitlers Machtübernahme und der ‚Kristallnacht‘ 1938 ist in den einzelnen Städten des Deutschen Reiches unterschiedlich verlaufen. Die politische Ordnung in Wanne-Eickel und Herne brach nicht von einem Tag auf den anderen zusammen. Hitlers Kanzlerschaft kam nicht durch eine Wahl zustande, sondern durch Hindenburgs Beauftragung. Erst am 05. März 1933 sollte eine gekoppelte Reichstags- und Landtagswahl die NSDAP-Mehrheit ergeben, die für ein konsequentes Umsetzen von Hitlers Mein Kampf erforderlich war. Die antisemitischen Zwischenfälle in der Zeit zwischen dem 31. Januar und dem 05. März 1933 wurden von Teilen der jüdischen Bevölkerung als Wahlkampfszenario bewertet. Auch der Ausgang der Wahl selbst konnte von der ansässigen jüdischen Bevölkerung als nicht bedrohlich interpretiert werden. Die NSDAP schnitt in Wanne-Eickel um 8 % und in Herne sogar um 14 % schlechter ab als im Reichsdurchschnitt, das Zentrum und die KPD um rund 10 % besser.
Die Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz der Herner und Wanne-Eickeler Juden war das erste Ziel, das die NSDAP-Mitglieder in Angriff nahmen. Schon seit 1927 erlitten jüdische Geschäftsleute in Wanne Einbußen dadurch, dass NSDAP-Mitglieder ihre Frauen zwangen, nicht mehr in Geschäften jüdischer Inhaber zu kaufen. Aber erst die Machtübernahme ergab die Möglichkeit, mit illegalen Mitteln gegen die jüdischen Mitbürger vorzugehen, ohne dabei polizeilich oder gerichtlich belangt zu werden. Geschäftsinhaber und -inhaberinnen, die sich nicht im C.V. (Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, weitere Informationen unter Jüdisches Vereinswesen) organisiert hatten, waren die ersten Opfer der NSDAP. Das Textilgeschäft Lina Levy auf der Hindenburgstraße, jetzt Hauptstraße in Wanne war wenige Tage nach der Machtergreifung das erste Ziel eines NS-Überfalls. Aus der Fülle der einzelnen Aktionen sei hier ein Beispiel herausgegriffen, welches typisch ist für die Zeit zwischen 1933 und 1938 in Wanne-Eickel.
Um den 15. März 1933 setzte beim Rechtsberater Elias Nussbaum und seiner Frau, die ein Textilgeschäft betrieb, ein Telefon- und Briefterror ein. Nussbaum wurde ‚unter den schwersten Drohungen angehalten, sofort Wanne-Eickel und Deutschland zu verlassen. Die Drohungen und Warnungen häuften sich bis zur Unerträglichkeit. Etwa am 19. oder 22. März 1933 erschien abends gegen sieben Uhr der F. S. in Begleitung seines Schwagers, des Polizeiwachtmeisters H. G. Wanne-Eickel, Gabelsbergerstraße 4 wohnhaft, und teilten mir mit, dass ich in dieser Nacht von der NSDAP geholt würde, da ich auf der ’schwarzen Liste‘ stände …. Ich habe mich wiederholt telefonisch an die Polizei gewandt, jedoch vergebens, ein Schutz konnte mir nicht gewährt werden. Es wurde mir lediglich anheimgestellt, mich in Schutzhaft zu begeben. In der Nacht vom 23. auf den 24. März 1933 sind ebenfalls nach vorauf gegangenen telefonischen schweren Drohungen meine Firmenschilder zerschlagen worden… Am 28. März 1933 ist meine Etage und der Zugang zu derselben von etwa acht Uhr morgens an von SA-Männern belagert worden. Durch meine Hausangestellte ließ man mir sagen, dass ich es nicht wagen dürfte, das Haus zu verlassen und in der Wohnung bleiben müsste …
Als ich daraufhin wieder die Polizei und die Kreisleitung anrief, kam wieder unmittelbar nach Einhängen des Telefonhörers ein Telefongespräch an, in welchem mir folgendes wörtlich gesagt wurde: ‚Ihre dauernden Anrufereien an die Polizei und die Kreisleitung sind vollständig zwecklos. Sie haben bis heute Abend sechs Uhr zu verschwinden. Außerdem haben Sie bis heute Nachmittag fünf Uhr ein Schild an die Stelle, wo früher Ihre Schilder saßen, anzubringen, mit folgender Aufschrift, die deutlich sichtbar zu sein hat, dass ich als Jude, der polnischer Staatsangehöriger ist, gutwillig Deutschland verlasse; sollten Sie das Schild nicht innerhalb der Ihnen vorgeschriebenen Zeit und der Ihnen vorgeschriebenen Art und Form anbringen, so wissen Sie, was Ihnen erblüht’…. Von dem Erkerfenster meiner Wohnung aus beobachtete ich die Wachposten und sah, wie sie gerade zu Gude in die gegenüberliegende Wirtschaft herübergingen. Diese Zeit ausnutzend, habe ich mit meiner Familie in hastiger Flucht die Wohnung abgeschlossen, die Schlüssel meiner Hausangestellten ausgeantwortet und sind nach Köln geflüchtet. Etwa zwanzig bis vierzig Minuten nach meiner Flucht sind die Korridortüren meiner Etage demoliert worden…
Am 21.04.1933 war meine Frau in Wanne-Eickel. Dort sagte ihr der F. S., der, wie er angibt, Berichterstatter der Kreisleitung Wanne-Eickel ist, folgendes wörtlich: ‚Ihr Mann soll nur nicht wagen, nach Wanne-Eickel zu kommen, denn hier würde sein Kopf in eine Ecke und sein Rumpf in eine andere Ecke der Straße rollen‘. Seine Schwester, die Frau des Polizeiwachtmeisters H. G., bestätigte das meiner Frau gegenüber…. Weshalb mich jetzt solch ungeheuer harte Schläge trafen und weshalb ich brot- und obdachlos gemacht wurde, kann ich als Mensch nicht verstehen und nicht begreifen.‘ Soweit der Bericht von Elias Nussbaum.
Nussbaum war durch diese Aktion überrascht worden, weil er als deutscher Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg nach Verwundung und russischer Gefangenschaft geglaubt hatte, von den Übergriffen der Nazis verschont zu bleiben. Die SA-Leute zogen nun in Nussbaums Wohnung ein und zwangen die Haushälterin, vier Wochen lang aus den Vorräten der Familie Nussbaum für sie kostenlos zu kochen. In dieser Zeit stahlen, die SA-Leute alles unauffällig Transportierbare aus der Wohnung. Haushaltsgegenstände, Toilettenartikel, Bargeld, Bettwäsche. Sie trennten sogar die Federbetten auf, entnahmen die Federn und vernähten die Einschütte wieder.
Der Familie Nussbaum gelang es, über Köln nach Paris zu flüchten. Von dort versuchten sie, Schadenersatz für die beiden Geschäfte zu bekommen, die sie hatten aufgeben müssen, sowie für ihre Wohnungseinrichtung. Der Gesamtschaden belief sich auf über 100.000 RM. Im November 1933 begann der Prozess. Der damalige Oberbürgermeister Günnewig beantragte die Abweisung des Schadenersatzantrages: ‚Im vorliegenden Falle lagen weder innere Unruhen vor, noch sind Schäden durch offene Gewalt oder ihre Abwehr, insbesondere nicht durch unmittelbare Gewalt entstanden… Die ganze Sache ist damit zur Abweisung reif. Der einzige etwa in Betracht kommende Schaden könnte nur der sein, der durch die gewaltsame Öffnung der Korridortür entstanden ist. Diesen anzumelden ist Nussbaum aber nicht legitimiert, da er nicht Eigentümer des Hauses ist‘. Die gesamte Beweisaufnahme war durch eine enge Zusammenarbeit von Polizei, NSDAP und Justiz gekennzeichnet. Offensichtlichen Falschaussagen von Parteimitgliedern wurden nicht nachgegangen; trotz Kenntnis von Namen und Anschrift der SA-Leute, die die Einrichtungsgegenstände der Familie Nussbaum entwendet hatten, fand dort keine Hausdurchsuchung statt. Im Juli 1934 wurden beim Prozess die Entschädigungsansprüche der Familie Nussbaum abgelehnt. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Fälle wie der eben geschilderte spielten sich ab den 31. Januar 1933 häufig in Herne und Wanne-Eickel ab. Am 28. März 1933 bildete die NSDAP sogenannte ‚Boykott-Komitees‘, um die jüdischen Bürger wirtschaftlich zu ruinieren und die Parteimitglieder mit dem so gewonnenen Besitz zu belohnen. Bei ihrem Vorgehen legte die NSDAP größten Wert darauf, dass die Öffentlichkeit über die Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung unterrichtet wurde. Unter Überschriften wie ‚Der Jude gehört vor dem Staatsanwalt‘, ‚Vermögen eines Juden beschlagnahmt‘ oder ‚Ein Jüdisches Prachtexemplar‘ erschien fast täglich ein Artikel in der Lokalpresse, der über das Vorgehen gegen Herner und Wanne-Eickeler Juden aus nationalsozialistischer Sicht informierte. Über den Fall des Elias Nussbaum schrieb die Rote Erde unter der Überschrift ‚Jud Nussbaum über Nacht ausgerückt‘ unter anderem: ‚Da nach der Machtergreifung der Boden für den Hebräer in Wanne-Eickel zu heiß geworden ist, hat er bei Nacht und Nebel unsere Stadt verlassen‘.
Als Folge der ‚inoffiziellen‘ Überfälle und des ‚offiziellen‘ Boykotts jüdischer Geschäftsleute sah man nun häufig im Handelsregister den Vermerk: ‚Die Firma ist erloschen‘. In den Lokalzeitungen erschienen auch zahlreiche Anzeigen, die den Total-Ausverkauf wegen Geschäftsaufgabe oder die Übernahme bekannt gaben. Die Bekanntmachung der Übernahme durch Nicht-Juden geschah in der Regel mit dem Zusatz, dass es sich jetzt um ein ‚rein deutsches Kaufhaus‘ oder ein ‚christliches Geschäft‘ handelte.
Für die Herner Juden stellte sich die erste Zeit nach Machtübernahme der Nazis nicht mit der Brutalität dar wie für die jüdische Bevölkerung im benachbarten Wanne-Eickel. Zu den Faktoren, die für ein wenig verändertes Leben nach dem 31. Januar 1933 in Herne sprachen, gehörte sicher auch die Person des Bürgermeisters Hermann Meyerhoff. Meyerhoff erfreute sich zunächst großen Vertrauens seitens der jüdischen Bevölkerung und konnte sich aufgrund einer geschickten Politik aus Anpassung und Widerborstigkeit bis zum Zusammenbruch 1945 im Amt halten. Die Geschichte der Herner NSDAP trug ebenfalls nicht dazu bei, dass alle jüdischen Bürger sich sofort in Lebensgefahr wähnten. Die Nationalsozialisten in Herne machten im Gegensatz zu denen in Wanne-Eickel eine verspätete Entwicklung durch.
Ein weiterer Punkt, der viele Herner Juden in der Stadt hielt, war die Tatsache, dass trotz der Boykottmaßnahmen viele Herner weiterhin in Geschäften jüdischer Inhaber kauften. Darunter waren auch prominente Sozialdemokraten wie Karl Hölkeskamp. Dazu kamen die vielen persönlichen Bindungen, die im alltäglichen Leben entstanden waren. Aus all diesen Gründen wird die Anhänglichkeit vieler Herner Juden an ihre Heimatstadt erklärlich. Zitat aus einem 1986 geschriebenen Brief an das Stadtarchiv Herne: ‚Mein Vater wollte nichts wissen vom Auswandern. Er war im Ersten Weltkrieg Offizier, er war im Kriegerverein und Schützenverein, er war auch Schützenkönig vor dem Krieg. Sein bester Freund war ein Amtsgerichtsrat Schramm von Recklinghausen. Meines Vaters Ansicht war leider, dass Deutschland seine Heimat war. Er war dort geboren, sein Vater, Großvater usw. Er sagte immer: ‚Hitler wird nicht lange an der Regierung bleiben, die Deutschen sind gute Leute, die werden das nicht mitmachen‘. Es wäre besser für uns gewesen, wenn er nicht so gedacht hätte. Er war einfach zu Deutsch eingestellt, und er wollte nicht, dass wir Herne verlassen. So, dann kam der 9. November 1938, Kristallnacht, das war der Anfang vom Ende.‘
Kurt Tohermes
Aus: Sie werden nicht vergessen sein – Geschichte der Juden in Herne und Wanne-Eickel, Eine Dokumentation zur Ausstellung im Stadtarchiv Herne vom 15. März bis zum 10. April 1987, Hrsg. Der Oberstadtdirektor der Stadt Herne, 77 Seiten, Herne 1987, Seiten 54 bis 58 – Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Stadt Herne.