Genius und Hydra – den Lebenden zur Mahnung

Am 20. September 1959 wurde dem antifaschistischen Widerstand in Herne ein Denkmal gesetzt – zur Geschichte des Mahnmals an der Bebelstraße.

Prolog:

Wir schreiben das Jahr 1959. Vierzehn Jahre liegen das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Befreiung vom Faschismus zurück. Die kurzen, politischen Träume von einer grundlegenden Neuordnung der Besitz- und Machtverhältnisse, der Demokratisierung der Wirtschaft, einer Ausmerzung von Nazismus und Militarismus sind ausgeträumt. Viele der Steigbügelhalter der Faschisten aus Wirtschaft und Hochfinanz sitzen bereits wieder fest im Sattel.

Bei den Bundestagswahlen im August 1949 sowie im September 1953 werden die Schwesterparteien CDU/CSU jeweils stärkste Kraft und erreichen im September 1957  mit dem Slogan „Keine Experimente“  sogar die absolute Mehrheit der Stimmen und Mandate. Im September 1961 überschattet der Mauerbau an der DDR-Grenze den Wahlkampf. Die CDU verliert zwar vier Prozent, bleibt aber der bestimmende Faktor. Auf einem außerordentlichen Parteitag Mitte November 1959 in Bad Godesberg führt die SPD den tiefsten Einschnitt in ihrer Nachkriegsgeschichte herbei. Nach drei verlorenen Bundestagswahlen und ohne erkennbare Aussicht, aus der Rolle einer Oppositionspartei herauszukommen, revidiert die SPD einige ihrer Grundauffassungen und verabschiedet ein neues Grundsatzprogramm. Sie verzichtet darauf, sich weiterhin auf den Marxismus als einzig mögliche weltanschauliche Grundorientierung festzulegen, gibt ihre antikapitalistische Grundeinstellung auf und vollzieht den Wandel von einer Arbeiter- zu einer Volkspartei.1

Im Zeichen der Systemkonfrontation sowie der deutschen Teilung herrscht kalter Krieg und der Antikommunismus feiert bereits seit Jahren freudige Auferstehung. Bereits 1956 ist die KPD auf Betreiben der Adenauer-Regierung verboten, jede kommunistische oder als solche denunzierte Regung wird hysterisch und mit aller Härte der Staatsgewalt verfolgt. Während 1951 und 1955 die rechtsextremistische Deutsche Reichspartei (DRP) in den Landtag von Niedersachsen gewählt wird und noch  bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz 1959 der DRP der Sprung über die 5-Prozent-Sperrklausel gelingt. Hakenkreuzschmierereien an ersten wiedereröffneten, jüdischen Synagogen und öffentliche Versammlungen und Aktionen ehemaliger SS-Angehöriger finden internationale Beachtung. In höchsten Regierungskreisen, sowie u. a. auch in Justiz, Polizei, in der bereits 1956 gegründeten Bundeswehr und im Bildungswesen tummeln sich immer noch viele alte Nazis.2

Ein gewisser Heinrich Lübke (CDU) ist von 1953 bis 1959 Bundesminister in der Regierung Adenauer und wird 1959 der zweite Bundespräsident der BRD. Im Mai 1933 hatte er als Zentrum-Abgeordneter des preußischen Landtages für das Ermächtigungsgesetz der Nazis gestimmt. Der spätere Wehrmachtshauptmann d. R. avanciert schließlich zum KZ-Baumeister und zeichnet für den Einsatz von KZ-Häftlingen in der Rüstungsproduktion verantwortlich, was seiner Nachkriegskarriere aber nicht im Wege steht.3

Hans Globke, ein ehemaliger Verwaltungsjurist und Schreibtischtäter im NS-Innenministerium, Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze und verantwortlicher Ministerialbeamter für die judenfeindliche Namensänderungsverordnung, ist jetzt ebenfalls CDU-Mitglied und seit 1953 (bis 1963) Chef des Bundeskanzleramts unter Adenauer.4 Zeitgleich kämpfen viele ehemalige Nazi-Gegner und Widerstandskämpfer oder deren Hinterbliebene, nicht selten erfolglos, um eine karge Haftentschädigung. Manche Antifaschisten, die KZ und Zuchthaus überlebt haben, stehen in Verfahren wegen Verstöße gegen das KPD-Verbot oder ähnlicher Vergehen, den gleichen Richtern und/oder Staatsanwälten gegenüber, die sie während des Faschismus bereits abgeurteilt haben.

Beginn des Zechensterbens an der Ruhr

War trotz staatlicher Interventionen die Arbeitslosigkeit bis Anfang  1950 auf den Allzeithöchststand von 12,2 %, d. h. auf 2,02 Millionen Menschen angestiegen, übersteigt 1959, getragen vom Wiederaufbauboom, die Zahl der freien Stellen erstmals die Zahl der Erwerbslosen.5 Aber über die Bergbaustädte an der Ruhr ziehen 1959 erste dunkle Wolken auf. Hatte der Abzug der Zwangsarbeiter nach Ende des Krieges, im Frühjahr 1945 zu einer Halbierung der Zechenbelegschaften und damit zu akutem Arbeitskräftemangel geführt, werden seit 1958 im Ruhrbergbau Feierschichten verfahren und erste Schachtanlagen stillgelegt. Seit Anfang 1959 wird deshalb das Revier von mehreren, machtvollen Bergarbeiterprotesten erschüttert, die im September mit über 60.000 Bergleuten bei einem „Marsch auf Bonn“ ihren Höhepunkt finden. Unter dem Druck der aufgebrachten Kumpel und der IGBE muss ab Oktober ein Härteausgleich für die von Feierschichten Betroffenen gezahlt werden.6

Es gibt nicht nur Anpassung, Verdrängung und Gleichgültigkeit

Die gesamten 1950er Jahre hindurch gibt es Massenbewegungen gegen die neuerliche Hochrüstung für Frieden und Völkerverständigung, so etwa die „Ohne mich!“-Bewegung  gegen die Remilitarisierung Westdeutschlands, die auf breiten Widerhall in der Bevölkerung stößt. 1950 unterstützen fast 6 Millionen Menschen eine verbotene „Volksbefragung gegen die Wiederbewaffnung“ mit ihrer Unterschrift. 1955 mobilisiert die „Paulskirchenbewegung“ gegen die Wiederbewaffnung und den Beitritt der BRD zur NATO. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre erzielt die „Kampf dem Atomtod-Bewegung“  gegen die Stationierung von Atomwaffen in der BRD einige Bedeutung. Ab September 1959 kommt es in vielen westdeutschen Städten zu Aktionen gegen die Rekrutierung und „Wehrerfassung des Jahrgangs 1922“. Ende September des Jahres findet in Hessen, initiiert durch die Naturfreunde-Bewegung, der erste  Ostermarsch in Westdeutschland statt, der in den Folgejahren im ganzen Land und auch in Herne und Wanne-Eickel Nachahmung findet. Aber letztlich scheitert die Friedensbewegung, wie zuvor die Gewerkschaften mit ihren wirtschaftsdemokratischen Konzepten, an den konservativen bis reaktionären Kräften der Restauration.  Das menschliche Gedächtnis erweist sich wieder mal als kurz. Das Grauen des Krieges und der Nazi-Barbarei sowie Hunger und Elend der Nachkriegsjahre scheinen bei der Mehrzahl der Menschen  vergessen oder auch im Lichte eines zunehmenden bescheidenen Wohlstands und gleichzeitigem antikommunistischem Trommelfeuer verdrängt und überlagert…

Ein Denkmal gegen die Legendenbildung neuer Art

In dieser Zeit entschließt sich der Rat der Kohlestadt Herne, ein „Denkmal für die Opfer des Widerstandes gegen das Nazi-Regime“ in zentraler Innenstadtlage zu errichten. Das scheint auch deshalb notwendig, da das bereits 10 Jahre zuvor, im September 1949 am Herner Neumarkt errichtete  Mahnmal für die Opfer des NS-Regimes, mit einer Bronzeplatte  und der Inschrift „Die Toten mahnen die Lebenden“, im Zuge der Umgestaltung des Platzes abgetragen wird. Offenbar ist  dies in jenen Tagen nicht ganz unumstritten und schon gar nicht selbstverständlich.

Am 21. September 1959 berichtet die Herner Zeitung über die Tags zuvor erfolgte Enthüllung des neuen Mahnmals:7

In einer schlichten Feierstunde, die von der Rezitation einer Schauspielschülerin der Essener Folkwangschule sowie Darbietungen des Herner Männerchors unter Leitung von Gerhard Bohner umrahmt war, übergab gestern Morgen Oberbürgermeister Brauner auf der Grünfläche an der Bebelstraße vor dem Herner Arbeitsamt das neue Ehrenmal der Öffentlichkeit. OB Brauner erinnerte an die Zeit von 1933 bis 1945, in der Hunderte Bürger unserer Stadt wegen ihrer politischen Einstellung, wegen ihres Glaubens oder ihrer Rassenzugehörigkeit in die Konzentrationslager gewandert seien. Fast 1000 Jahre Freiheitsstrafen habe die NS-Justiz über sie verhängt, viele Herner seien mit schweren Krankheiten aus den Gefängnissen und Zuchthäuser zurückgekommen, und 150 Bürger unserer Stadt –meist jüdischer Abstammung- hätten in den Konzentrationslagern Auschwitz, Dachau und Ravensbrück den Tod gefunden.

Beati Mortui („Selig sind die Toten“)  von Felix Mendelssohn Bartholdy  trägt der Herner Männerchor einleitend vor. Die erwähnte Schülerin der Folkwangschule rezitiert „An unsere Märtyrer“ von Ricarda Huch. Darin heißt es: „Ihr, die das Leben gabt für des Volkes Freiheit und Ehre. Nicht erhob sich das Volk, euch Freiheit und Leben zu retten. Wir vergessen euch nicht. Oft wird euer tragisches Opfer unser Gespräch sein, den Enkeln künftig ehrwürdige Sage.“

Lieber trocken Brot essen, als noch einmal ein solches System erdulden müssen

Robert Brauner, Sozialdemokrat von Jugend an und selbst Verfolgter der Nazis erklärt „dass es heute nach 14 Jahren fast verpönt ist, die Erinnerung an die Zeit zwischen 1933 und 1945  wachzurufen, doch seien wir es uns allen und unseren Menschen schuldig, die Zeiten nicht zu bagatellisieren oder zu vergessen, in denen Recht und Sitte gebrochen und die Freiheit in Ketten geschlagen“ wurden. (…) „Leider will heute eine neue Art von Legendenbildung alles vergessen machen, was damals geschehen ist und wohin es führt, wenn ein Volk blindlings einem einzigen Manne folgt.“ Offenbar sichtlich angefasst ruft der Oberbürgermeister aus: „Lieber trocken Brot essen, als noch einmal ein solches System erdulden müssen!“ Brauner mahnt, „wachsam zu sein in der Verteidigung der persönlichen Freiheit ohne Furcht und Gewalt. Nur dann bleibt uns ein ähnliches Schicksal wie damals erspart. Viele sagen heute, ein solches Mahnmal sei überflüssig, denn alle hätten Opfer an Blut und Gut gebracht. Dem muss man entgegenhalten, dass der Kreis der Menschen, denen dieses Ehrenmal bestimmt ist, hat sterben müssen für die Idee der Demokratie und der Freiheit, für das Festsein im Glauben. (…) Sie haben ihr Leben geben müssen, weil sie den damaligen Machthabern ein Hindernis gewesen sind, bei der Durchsetzung ihrer Diktaturgelüste.“8

Der Genius der Freiheit möge immer über die Hydra der Bosheit triumphieren

Nach dem Dank an den Rat der Stadt und den Schöpfer des Denkmals, Prof. Zoltan Székessy, einem ungarisch-deutschen Bildhauer an der Kunstakademie Düsseldorf, schließt Robert Brauner seine Ansprache mit dem Hinweis, bei aller möglichen Kritik an der künstlerischen Gestaltung des Werks immer zu bedenken, dass es eine Ehrung für die roher Gewalt zum Opfer gefallener Menschen und eine Mahnung an die Lebenden sei, zu erkennen, wohin es führt, wenn ein Volk sich freiwillig seiner Grundrechte begibt. Robert Brauner: „Möge der Genius der Freiheit immer über die Hydra der Bosheit triumphieren, das Schwert aber verachte derjenige nicht, der diese Freiheit hüten will!“

Beim Anblick dieses Denkmals wird die Jugend nach der Vergangenheit fragen

Im Namen der Verfolgten und Hinterbliebenen des Widerstandes gegen das Nazi-Regime dankt der Vorsitzende der VVN-Herne und ehemaliger KZ-Häftling, Stadtrat a. D. Otto Kuhn der Bevölkerung sowie Rat und Verwaltung  für die Errichtung dieser Gedenkstätte im Herzen der Stadt. Kuhn, Mitglied der 1956 verbotenen KPD,  bezeichnet die deutsche Widerstandsbewegung als das Gewissen der deutschen Nation in den dunkelsten Stunden der Geschichte. Kuhn: „Beim Anblick dieses Kunstwerks wird die Jugend nach der Vergangenheit fragen, von der sie viel zu wenig weiß. Hunderttausende sind im aktiven Widerstand gefallen, und alle haben einzig die Beseitigung des Nazi-Regimes zum Ziel gehabt. Dieser toten Helden gedenken wir heute bei der Enthüllung dieses Mals.“9

Nach der Enthüllung des Ehrenmals legen Vertreter der Stadt Herne, des DGB, der SPD, der CDU, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und der Jüdischen Kulturgemeinde Kränze nieder. Diese umrahmen die bronzene Gedenktafel mit der Inschrift:

          „ZU EHREN UND ZUM GEDENKEN DER OPFER IM WIDERSTAND GEGEN DIE     

                     NATIONALSOZIALISTISCHE GEWALTHERRSCHAFT 1933-1945“.

Die Feierstunde, die unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und im Beisein von Oberstadtdirektor Ostendorf, den Mitgliedern des Rates, für die evangelische Kirche Pfarrer Pook, für die katholische Kirche Vikar Klöpper stattfindet, wird mit dem vertonten Goethe-Text „Über allen Gipfeln ist Ruh“ beendet.

Zusätzliche Gedenktafel

Am 03. Mai 2002 enthüllte Oberbürgermeister Wolfgang Becker in Realisierung einer Anregung aus der Bürgerschaft,  eine zusätzliche Gedenktafel am gleichen Ort mit folgendem Text:

„ZUM GEDENKEN AN DIE VIELEN TAUSEND MENSCHEN AUS DEN VERSCHIEDENEN STAATEN EUROPAS, DIE IN HERNE UND WANNE-EICKEL WÄHREND DES ZWEITEN WELTKRIEGES UNTER UNMENSCHLICHEN BEDINGUNGEN ZWANGSARBEIT LEISTEN MUSSTEN“

Norbert Arndt, DGB-Geschichtswerkstatt

Genius und Hydra, 2015, Foto Stadtarchiv Herne
Genius und Hydra, 2015, Foto Stadtarchiv Herne

Epilog:

„Die Menschheit muss ständig wachsam sein, wenn sie nicht wieder in die Unfreiheit hineintreiben will“  hatte Robert Brauner vor 60 Jahren bei der Einweihung des Denkmals an der Bebelstraße ausgerufen. Der Genius der Freiheit hatte 1945 die Hydra des Bösen überwunden, aber bereits 14 Jahre später schien es nötig, daran zu erinnern und die (Über-)Lebenden zu mahnen. Wie viel nötiger und wichtiger scheint es heute, wo die geschichtsvergessene- und leugnende  „Hydra des Bösen“ nicht nur in Herne  wieder vielfach ihr Haupt erhebt und ihr Gift verspritzt, an jene Menschen zu erinnern, die unter Einsatz ihres Leben und ihrer Gesundheit, widerstanden und den Genius der Freiheit verteidigt haben. Dabei macht Gedenken und Erinnern nur Sinn, wenn es mit aktivem Eingreifen einher geht.10

Norbert Arndt, 20. September 2019

Anmerkungen

Siehe auch: Genius und Hydra

  1. Kraushaar: Die Protest-Chronik 1957 bis 1959, Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, 1996, S. 2065 ff. ↩︎
  2. Nach einem aktuellen Forschungsprojekt im Auftrag der Generalbundesanwaltschaft war die Bundesanwaltschaft in ihren Anfangsjahren nach 1945 mit Juristen mit NS-Vergangenheit durchsetzt. 1953 seien 22 von 28 Mitarbeiter (d. h. 80%) des höheren Dienstes ehemalige NSDAP-Mitglieder gewesen. Über den Untersuchungszeitraum von 1950 bis 1974 waren etwa die Hälfte der leitenden Mitarbeiter im Justizdienst  ehemalige Mitglieder der NSDAP. WAZ vom  03.07. 2019. ↩︎
  3. Wikipedia: Heinrich Lübke, letzter Zugriff: 20.09.2019. ↩︎
  4. Wikipedia: Hans Globke, letzter Zugriff: 20.09.2019. ↩︎
  5. Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 153/300. ↩︎
  6. Chronik Ruhrgebiet, Chronik-Verlag, 1997, S. 473/509. ↩︎
  7. Herner Zeitung vom 21.09.1959, Stadtarchiv Herne. ↩︎
  8. Herner Zeitung, ebenda. ↩︎
  9. Herner Zeitung, ebenda. ↩︎
  10. WAZ, Ausgabe Herne, 20.09.2019; online abrufbar unter https://www.waz.de/staedte/herne-wanne-eickel/herner-mahnmal-wird-60-wachsam-gegen-die-hydra-des-boesen-id227135855.html, letzter Zugriff: 20.09.2019. ↩︎