Der Torschrei – ein moderner Mythos aus Herne-Sodingen

Zur Geschichte der Plastikgruppe „Das Tor – Gruppe der Ballspieler/Drei Jungen“ auf dem Schulhof der Mont-Cenis-Gesamtschule und einer bemerkenswerten „Gefälligkeitsgeschichtsschreibung“1

„Das Beispiel zeigt, so einfach ist Geschichte
nun wieder auch nicht.“

Zitat eines Heimatforschers

Die belegbare Geschichte

Nach einem Erlass des Bundesfinanzministers durften für öffentliche Bauten ein bis drei Prozent der Gesamtbausumme für künstlerische Ausgestaltungen verausgabt werden. Hiervon machte die Stadt Herne Gebrauch und schrieb 1955 einen Ideenwettbewerb zur künstlerischen Ausgestaltung des Volksschulneubaus in Herne-Sodingen aus. Insgesamt neun Künstler, u. a. die bekannten Robert Imhof sowie Hermann und Jupp Gesing, reichten ihre Vorschläge ein.

Den Zuschlag bekam die Börniger Bildhauerin Elisabeth Hoffmann mit der Plastik Das Tor, die von der Künstlerin als Gruppe der Ballspieler beschrieben wurde. Es gab zwei Varianten, die Plastikgruppe mit und ohne Brunnenanlage. Die Stadt entschied sich aus Kostengründen für die Variante ohne Brunnen. Die Plastikgruppe sollte auf einen Sockel gesetzt werden. Insgesamt wurden 12.000,00 DM veranschlagt, 10.000,00 DM für die Plastik, 2.000,00 DM für Sockel und sonstige Arbeiten.

Mit Schreiben vom 3. Februar 1957 legte Hoffmann einen ersten Entwurf der Plastik Gruppe der Ballspieler vor. Dieser Entwurf stellte Oberbürgermeister Robert Brauner, Oberstadtdirektor Edwin Ostendorf sowie Stadtkämmerer Hermann Kleine nicht zufrieden. Gemäß des Titels Das Tor, sollte die Gruppe der Ballspieler lebendiger gestaltet werden. Elisabeth Hoffmann erklärte sich bereit, ihren Entwurf in Ton zu überarbeiten. Am 30. April 1957 trafen sich Brauner, Ostendorf und Kleine im Atelier von Hoffmann. Der neue Entwurf fand Zustimmung, und so wurde am 14. Mai 1957 Elisabeth Hoffmann der Auftrag erteilt, die Plastikgruppe zu einem Festpreis von 10.000,00 DM aus Anröchter Dolomit zu fertigen.

Plastik Gruppe der Ballspieler, Angebot der Künstlerin Elisabeth Hoffmann vom 3.2.1957 (Foto: Stadtarchiv Herne)

Geplant war, die Plastikgruppe aus einem Block zu fertigen. Dies ließ sich jedoch nicht realisieren, da die Dolomitensteinbrüche in der Bruchsaison keinen geeigneten Steinblock liefern konnten. Mit Schreiben vom 20. Juli 1957 schlug Hoffmann vor, die Plastikgruppe in Maßblöcken aufzuschichten. Man würde zwar Horizontalfugen sehen, die aber nicht stören würden. Weiter führte sie aus, dass die Aufschichtung von Steinmaterial in der Bildhauerei gebräuchlich sei. Als Beispiele führte Hoffmann an: Venus von Milo: zwei Blöcke, Laokoon-Gruppe: sechs Blöcke, Bamberger Reiter: drei Blöcke, Martin von Lucca: acht Blöcke, Buddhaplastiken in Japan und Aztekische Karyatiden in Mexiko: mehrere Blöcke.

Beeindruckt von den Beispielen erklärte sich die Verwaltung mit Schreiben vom 13. August 1957 einverstanden, die Plastikgruppe aus drei Blöcken Dolomit herzustellen. Dabei legte die Stadt größten Wert darauf, „daß die Arbeit auch in handwerklicher Weise einwandfrei zusammengefügt wird, sodass die Plastik wie bei dem von Elisabeth Hoffmann erwähnten historischen Beispielen gefertigt wird.“

Das Tor – Gruppe der Ballspieler wurde im August 1958 fertiggestellt, die Abnahme durch Robert Brauner, Edwin Ostendorf und Hermann Kleine erfolgte im Atelier der Bildhauerin am 8. August 1958. Anschließend wurde die Plastikgruppe auf dem Schulhof der Sodinger Volksschule, der jetzigen Mont-Cenis-Gesamtschule, aufgestellt. Am 2. September 1958 wurde Elisabeth Hoffmann die vierte Abschlagszahlung in Höhe von 3.000,00 DM ausgezahlt (vorherige Abschlagszahlungen: 6. Juni 1957 = 1.000,00 DM, 16. Oktober = 3.000,00 DM, 17. Februar 1958 = 1.000,00 DM). Mit der Schlusszahlung in Höhe von 2.000,00 DM am 12. November 1958 hatte Elisabeth Hoffmann den Auftrag erfüllt.

Aktenvermerk der Stadt Herne vom 8.2.1957 zur Plastik Gruppe der Ballspieler (Foto: Stadtarchiv Herne)

Am 4. August 1960 dokumentierte der Stadtfotograf Rolf Baumann die Gruppe unter der Negativ-Kartei-Nr. R369 und dem Auffindnamen „Plastik ‚Das Tor‘, Schulhof Sodinger Str., Ostbachtal“.

Dann wurde es still um die Plastikgruppe, bis Elisabeth Hoffmann selbst das Kunstwerk 1968 wieder in Erinnerung rief. In der Herner Ausgabe der Westfälischen Rundschau vom 20./21. Juli 1968 erklärte sie, dass die Gruppe eine sogenannte „Allround-Plastik“ sei, die drei Jungen darstellt. Sie erklärte hierzu: „Man gewinnt immer einen neuen Eindruck, ob man die Plastik morgens, mittags, nachmittags oder abends betrachtet. Lichteffekte spielen eine große Rolle“.

Die Gruppe der Ballspieler im Jahr 1960 (Foto: Rolf Baumann, Bildarchiv Herne)

Die erste Karriere als Fußballzuschauerdenkmal – Presseberichterstattung 1958/1959

Die Plastikgruppe wurde ohne eine besondere Zeremonie aufgestellt. Eine Berichterstattung hierüber findet man nicht. Drei Zeitzeugen, die vom Stadtarchiv Herne befragt wurden, waren zum Zeitpunkt der Aufstellung dort Schüler. Unabhängig voneinander erklärten sie, dass es eine offizielle Einweihung nie gegeben habe, die Plastik „stand einfach da“ und zwar ursprünglich auf dem ehemaligen, höher gelegenen Schulsportplatz, der mit einer Sprunggrube mit Anlaufbahn und einer Wurfgeraden ausgestattet war.

Die lokale Presse aber berichtete einige Zeit nach der Aufstellung über die Hoffmannsche Plastikgruppe. So schrieb die Herner Zeitung vom 3. Oktober 1958, dass drei Schüler ihre Fußballmannschaft anfeuern würden. Der Herner Lokalteil der Westfälischen Rundschau mit gleichem Datum berichtete, drei Jungen würden einem Fußballspiel zuschauen und der Volksmund hätte diese Gruppe auch als drei Findelkinder oder das erste Denkmal des SV Sodingen bezeichnet. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung wiederum erklärte in ihrer Lokalausgabe, ebenfalls am 3. Oktober 1958, drei Sodinger Jungen würden in künstlerischer Form „Toor!“ schreien. Einen Namen, so war man sich in den Artikeln einig, habe die Plastik aber nicht. Ganz anders der Bericht im Westfalenteil der Westfälischen Rundschau vom 24./25. Januar 1959: Die bis dato namenlose Plastik ist nun ein Ehrenmal für den unbekannten Fußballzuschauer, anstatt drei Schüler/Jungen verfolgen nun drei Herren ein Fußballspiel und die Plastik steht nicht auf dem Schulhof, sondern in einer Parkanlage.

Die Erhebung zum Ehrenmal für Fußballzuschauer. Westfälische Rundschau, Rubrik Westfalen, 24./25. Januar 1959 (Repro: Stadtarchiv Herne)

Bei allen vier Artikeln wurde richtigerweise angegeben, dass Elisabeth Hoffmann die Plastik geschaffen hat. Ganz offensichtlich wurde sie aber nicht persönlich befragt, anders sind die unterschiedlichen Deutungen in den Berichten, die zwar alle von Fußball und Zuschauern sprechen, aber im Detail die Plastik unterschiedlich beschreiben, nicht zu erklären. In zwei Artikeln wird die Frage aufgeworfen, seit wann die Plastik dort steht. Eine anwesende Elisabeth Hoffmann hätte sicherlich etwas dazu gesagt. Ebenso hätte Sie das Kunstwerk eindeutig bezeichnet.

Und so kam es, dass die Plastik von ‚Schülern, die ein Spiel ihrer Fußballmannschaft anschauen‘, zu einem Denkmal für den ‚unbekannten – erwachsenen – Fußballzuschauer‘, mutierte. Doch so schnell die Zeitungsenten über ein „König-Fußball-Denkmal“ in Herne-Sodingen auftauchten, so schnell tauchten sie wieder unter.

Die Mythenbildung

Die tatsächliche Geschichte, die hinter der Plastikgruppe steht, lag lange Zeit im Dunkeln. Erst im Dezember 2018 konnten die Untersuchungen, die mit Auftreten erster Zweifel an den bisherigen Deutungen Mitte 2017 begannen, abgeschlossen werden. Zwei gutgefüllte Aktenhefter sind das Ergebnis dieser Untersuchungen.

2014 war die Sammlung noch recht bescheiden. In einem Aktendeckel mit der Aufschrift „Ehrenmal für Fußballzuschauer“ fanden sich genau zwei Zeitungsartikel und zwar die o. g. Berichte aus der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung vom 1. Oktober 1958 und der Westfälischen Rundschau vom 24./25. Januar 1959.

In Vorbereitung eines Vortrages über Denkmale in Herne und Wanne-Eickel stieß der Verfasser dieses Textes auf die Zeitungsartikel und nahm die Plastik unter der Rubrik „Denkmale mit Seltenheitswert“ auf. Bei der Vortragsveranstaltung wurde aus der Westfälischen Rundschau zitiert. Zusätzlich wurde aus persönlicher Sicht angemerkt, dass die besonders fußballbegeisterte Stadt Herne der ideale Standort für solch ein Denkmal sei. Schließlich gab es zu der Zeit mit dem SV Sodingen und dem SC Westfalia Herne gleich zwei aus Herne stammende Aushängeschilder des deutschen Fußballs.

Ende 2014 meldete sich die Mont-Cenis-Gesamtschule im Rahmen eines Wettbewerbes beim Stadtarchiv und fragte nach, ob Informationen zu der Plastik vorlägen. Entsprechend wurden die beiden bekannten Zeitungsartikel der Schule übersandt.

In einem am 15. Dezember 2014 im Internet veröffentlichten Blog der Schule wurde Folgendes mitgeteilt: „Die Überraschung war perfekt, als sich das Stadtarchiv Herne bei der Redaktion der mcg-inside meldete und die Nachricht überbrachte, dass dort zwei Zeitungsartikel aus dem Jahr 1959 erhalten sind, die unser Rätsel um die Statuen auf unserem Schulhof lösen können: Es handelt sich um das Denkmal für den unbekannten Fußballzuschauer von der Bildhauerin Elisabeth Hoffmann aus dem Jahre 1958. Das Denkmal steht bereits seit spätestens Oktober 1958 auf unserem Schulhof, auf dem ehemals noch die Schüler der Hauptschule Nr. 8 ihre Pause verbrachten“. Soweit so – dem Kenntnisstand von 2014 geschuldet – gut.

Danach wurde es weniger gut, denn weiter heißt es: „Es erinnert an die fußballbegeisterten Fans des SV Sodingen, der bis 1959 erstklassig (!) spielte und damals sogar gegen Westfalia Herne, ebenfalls Erstligist, gewann.“

Im Folgenden wird auf das legendäre Heimspiel des SV Sodingen am 22. Mai 1955 gegen den 1. FC Kaiserslautern eingegangen, um dann noch darauf hinzuweisen, dass die Sodinger Mannschaft sich aus Bergleuten der Zeche Mont Cenis rekrutierte.

Wie kam die mcg-inside-Redaktion zu der Schlussfolgerung „Denkmal für die fußballbegeisterten Fans des SV Sodingen“? Belege? Fehlanzeige. Eine Anfrage seitens des Stadtarchivs blieb unbeantwortet.

Zum Schluss des Blogs regte die Internet-Redaktion einen weiteren Wettbewerb an, nämlich der Plastik einen Namen zu geben. Nun betraten ein Heimatforscher, ein Heimatverein und ein bücherschreibender Journalist das Spielfeld.

So legte im Mai 2017 der Heimatforscher eine Arbeit über die Künstlerin Elisabeth Hoffmann vor.2 Im Vorwort heißt es: „Das auf dem Gelände der Mont-Cenis-Gesamtschule in Herne-Sodingen befindliche Denkmal soll im Rahmen eines Schulprojektes geschichtlich aufgearbeitet werden. Der Historische Verein Hün un Perdün beabsichtigt, über dieses Schulprojekt einen Film zu produzieren. Der von der Projektleiterin […] Anfang Januar d. J. an mich herangetragenen Bitte, Informationen zu dem Denkmal zu erkunden, bin ich gerne nachgekommen, zumal ich der Börniger Künstlerin Elisabeth Hoffmann noch persönlich bei der Bildhauerei zugeschaut habe“.

Über die Hoffmannsche Plastikgruppe ist zu lesen: „Ein noch heute in Sodingen sichtbares Ergebnis einer Arbeit von ihr steht auf dem Gelände der Mont-Cenis-Gesamtschule. Elisabeth Hoffmann nannte es Der unbekannte Fußballzuschauer, von vielen vereinfacht Der Torschrei genannt. Das Denkmal ist eine Hommage an die Fußballzuschauer in der damaligen Fußballhochburg Herne, mit den damals sehr erfolgreichen Vereinen SV Sodingen und SC Westfalia Herne. In den 50er Jahren waren diese Fußballvereine sehr erfolgreich und spielten mit um die Deutsche Fußballmeisterschaft.“ Im Anschluss wird auch hier an das Spiel SV Sodingen gegen 1. FC Kaiserslautern vom 22. Mai 1955 erinnert.

Der bereits im Dezember 2014 gebildete Mythos vom „Denkmal für die fußballbegeisterten Fans des SV Sodingen“ wurde mit dieser Arbeit erweitert und auf die Fans des SC Westfalia Herne ausgedehnt, wobei der Hinweis auf das im Mai 1955 stattgefundene Fußballspiel wohl eine besondere Nähe zum SV Sodingen suggerieren soll. Bemerkenswert ist die Behauptung, die Plastik wäre vereinfacht Der Torschrei genannt worden. Belege hierfür? Wieder Fehlanzeige.

Unter dem Namen Der Torschrei beantragte der Heimatforscher dann die Aufnahme des Kunstwerkes in die Denkmalliste, wohlwollend unterstützt von den Fraktionen der CDU und SPD der Bezirksvertretung Sodingen.

Die zweite Karriere als Fußballzuschauerdenkmal

Der die Öffentlichkeit nicht scheuende Heimatforscher und die Projektleiterin der Schule sorgten für eine medienwirksame Inszenierung des „weltweit einzigen Denkmals für Fußballzuschauer“.

„Das Kunstwerk sei einzigartig, und es könnte gut sein, dass es im Fußballmuseum landet“, mutmaßte beispielsweise die Schulvertreterin.3 „Hoffmann wollte mit dieser Plastik nicht nur die Fußballleidenschaft der Sodinger Bevölkerung würdigen, sondern schuf sie auch aus Dankbarkeit für Aufträge der Stadt Herne“, so die Theorie des Heimatforschers.4

Seitenansicht der Ballspieler mit angedeuteten Ausfallschritten nach vorne, 2018 (Foto: Stadtarchiv Herne)

Im Dezember 2017 schließlich fand der von der Mont-Cenis-Gesamtschule und dem Heimatverein produzierte Film Der Torschrei – Die vergessene Skulptur von Sodingen eine Vorpremiere. Eingeladen waren unter anderem Vertreter des SV Sodingen, denn, so war auf der Website der Schule zu lesen, es gehe schließlich in Der Torschrei um „ihre Skuptur“, die von der Börniger Künstlerin Elisabeth Hoffmann geschaffen worden war, um den fußballbegeisterten Fans des SV Sodingen ein Denkmal zu setzen. Da ließ sich auch der Archivar des Vereins nicht lange bitten.5

Der Heimatforscher, der „die Geschichte der Skulptur ausführlich recherchiert“ habe, war ebenfalls zu Gast. Abgesehen davon, dass bei einem 71 Wörter umfassenden Text von einer ausführlichen Recherche kaum die Rede sein kann, kehrte die Schule, entgegen dem „Ergebnis“ aus dieser „Recherchearbeit“, zu der Deutung aus dem Blog, der im Dezember 2014 veröffentlicht wurde, zurück.

Der dort beschriebene fußballbegeisterte Fan des Bergarbeitervereins SV Sodingen sollte nun helfen, einen Preis für den Film beim Geschichtswettbewerb Hau rein! des Forums Geschichtskultur zu gewinnen, der 2018 das Ende des deutschen Steinkohlenbergbaus thematisierte: „Am Ende der Spurensuche nach der Identität der mysteriösen Statue auf dem Schulhof stehe ‚ein Denkmal‘, das verschiedene lokale Akteure zusammenbringt und auf beeindruckende Weise die Geschichte des ehemaligen Bergarbeiterdorfes, seiner Zeche und seines Vereines lebendig macht‘. Der stumme Torschrei werde ‚zum beredten Narrativ für die Fußball- und Fankultur der Bergarbeitervereine im Ruhrgebiet‘.“6 Mit dieser Argumentation erhoffte man sich einen Preis. Die narrative Geschichtsschreibung konnte jedoch nicht überzeugen.

Überzeugt werden konnte aber die Denkmalbehörde: Im März 2018 wurde die Plastikgruppe von Elisabeth Hoffmann in die Liste der Baudenkmäler der Stadt Herne als Der Torschrei/Der unbekannte Fußballzuschauer eingetragen. Der Heimatverein, die Schule und der Sodinger Bezirksbürgermeister luden zu einer Filmvorführung im Bürgersaal der Akademie Mont-Cenis ein, wie ein Zeitungsbericht informierte. Weiter heißt es dort, fast schon im besten Boulevardstil: „Eine Projektgruppe der Gesamtschule und des Historischen Vereins Herne haben sich daher auf Spurensuche begeben und einen rund 35-minütigen Film produziert, der nicht nur viele Fragen beantwortet, sondern auch Antworten gibt auf Fragen, von denen niemand geträumt hätte, sie zu stellen.“ Forsch geht es weiter: „Das noch in Sodingen sichtbare Ergebnis einer Arbeit von ihr nannte die Künstlerin Der unbekannte Fußballzuschauer, wurde im Volksmund aber der Torschrei genannt“.7

Die Filmvorführung fand am 22. März 2018 statt. Bei dieser Veranstaltung wurde ein Zeitzeuge präsentiert, der Ende der 1960er Jahre Praktikant von Elisabeth Hoffmann war. Einen Tag später war er bei der offiziellen Denkmaleinweihung dabei. Der Zeitzeuge erinnert sich: „Mit der Künstlerin habe er auch über den Torschrei gesprochen, der damals schon seit Jahren in Sodingen stand. Der Schwung, der in den Kindern entsteht, wenn auf dem Sportplatz ein Tor fällt, habe Elisabeth Hoffmann begeistert.“8

Deckt sich diese Erinnerung zumindest mit der von den Herner Stadtoberen 1957 eingeforderten „Lebhaftigkeit“ der Plastikgruppe, wird es dann fragwürdig. In der Vereinszeitschrift Der Bote vom Mai 2018, die über das Kunstwerk und die Denkmaleinweihung berichtete, kann sich der ehemalige Praktikant nun „ganz genau“ erinnern, was oder wen die Skulptur darstellt. Er klärt auf: „Zu sehen sind drei Kinder, zwei ältere Jungen mit Schiebermütze im Hintergrund, die ihre Hand auf ein jüngeres Mädchen mit Strickmütze legen. Zu Füßen des Mädchens sitzt ein Hund. Die Kindergruppe befindet sich im Stadion und verfolgt gebannt ein Fußballspiel. Es handelt sich um eine Allround-Plastik, die von der Künstlerin so gestaltet und aufgestellt wurde, dass sie von allen Seiten zu betrachten ist.“ Weiterhin erinnert er sich, dass die Künstlerin gerne zu Spielen des SV Sodingen ging.

Rückansicht der Ballspieler mit angedeuteten Ausfallschritten nach hinten, 2018 (Foto: Stadtarchiv Herne)

Zwei Anmerkungen zu den persönlichen Erinnerungen: Bei ihren regelmäßigen Stadionbesuchen muss Elisabeth Hoffmann entgangen sein, dass Hunde im Stadion nicht zugelassen waren. Klarzustellen bleibt auch, dass es die Stadt Herne war, die den Aufstellungsort bestimmt hatte und nicht etwa die Bildhauerin. Die Erinnerung des zitierten Zeitzeugens mag, beeinflusst durch den Hype „Fußballzuschauerdenkmal“, nach gut 50 Jahren schlichtweg trügen. Die vorliegenden Unterlagen sprechen jedenfalls eine andere Sprache.

Es gibt einen weiteren Zeitzeugen, der Elisabeth Hoffmann persönlich kannte. Helmut Sczepan wohnte in unmittelbarer Nachbarschaft der Künstlerin. Er möchte weder bestätigen noch dementieren, dass Hoffmann tatsächlich Anhängerin des SV Sodingen war und zu den Spielen der Mannschaft ging. Seine Erinnerungen geben aber Hinweise: Elisabeth Hoffmann sei ein schwieriger Charakter gewesen, habe sehr zurückgezogen gelebt und gerne Karten mit den wenigen Menschen, die sie besuchen durften, gespielt.

Rekonstruktion der Geschichte um die Schulhofplastik

Wie bereits beschrieben, wurde dem Stadtarchiv noch während der Projektphase ein Zeitungsartikel bekannt, der Zweifel an der bisherigen Deutung aufkommen ließ. Hierin spricht Hoffmann von einer „Allround-Plastik“, die drei Jungen darstellt. Diese Zweifel wurden Heimatforscher, Heimatverein, Verwaltung und Politik mitgeteilt. Gleichzeitig begann das Stadtarchiv in Zusammenarbeit mit einer Reihe von lokalgeschichtlichen Akteuren, eigene Forschungen zur Plastikgruppe von Elisabeth Hoffmann anzustellen.

So wurde als erster Schritt der „Volksmund“ befragt. Ergebnis: Keiner der Befragten konnte sich daran erinnern, dass die Plastik Fußballzuschauer darstellen sollte oder vereinfacht Torschrei genannt wurde. Für viele Sodinger, die die damalige Volksschule besucht haben, stellte das Kunstwerk drei Kinder/Schüler dar. Der angeblich vereinfacht oder im Volksmund genannte Torschrei war demnach als eine Behauptung, die durch nichts belegt oder belegbar ist, einzuordnen.

Elisabeth Hoffmann und die drei Jungen. Westfälische Rundschau (Herne) vom 20./21. Juli 1968 (Repro: Stadtarchiv Herne)

Als zweiter Schritt folgte die Prüfung auf Authentizität der 1958 und 1959 veröffentlichten Zeitungsartikel. Hierzu kontaktierte das Stadtarchiv Professor Dr. Horst Pöttker vom Institut für Journalistik der Technischen Universität Dortmund. Ihm wurden diese Berichte sowie der Artikel aus der Westfälischen Rundschau aus dem Jahr 1968 und der Artikel aus der Herner Zeitung vom 7. April 1956, in dem Hoffmann interviewt wird und ein Entwurf ihrer Arbeiten mit dem Titel „Spielende Kinder“ abgebildet ist, zur Untersuchung übersandt.

Das Ergebnis dieser Untersuchung lautet: Die Zweifel werden geteilt. Die Artikel aus den Jahren 1958 und 1959 scheinen weniger den Absichten von Elisabeth Hoffmann gerecht zu werden als journalistischer Phantasie zu entspringen. Darauf deuten das Fehlen von Zitaten und Fotos der Künstlerin in den Artikeln sowie dort verwendete Floskeln wie „von der Öffentlichkeit unbemerkt“, „soweit wie bisher bekannt“, „uns scheint“ usw., die von Journalisten gern verwendet werden, wenn keine exakten Rechercheergebnisse vorliegen. Anders jedoch die Artikel aus den Jahren 1956 und 1968. Hier sprachen die jeweiligen Autoren tatsächlich mit der Künstlerin.

Die Aussagen der Zeitzeugen und die Analyse der Zeitungsberichte durch einen Medienexperten waren starke Indizien, aber noch kein zwingender Beweis dafür, dass an der Geschichte vom Fußballzuschauerdenkmal nichts dran ist.

Entwurf Spielende Kinder, Ausschnitt aus der Herner Zeitung vom 7.4.1956 (Repro: Stadtarchiv Herne)

Dieser konnte dann Mitte 2018 durch gefundene Unterlagen angetreten werden. Die Untersuchungen fanden im Dezember 2018 ihren Abschluss.

Ein Fußballzusammenhang war gegeben, wenn auch ein anderer als der von Heimatforscher, Heimatverein und Schule behaupteter. Denn Hinweise auf Fußballzuschauer, dem SV Sodingen und Westfalia Herne fanden sich nicht.

Zusammengefasst stellt die Plastik nach dem Willen von Elisabeth Hoffmann eine Gruppe der Ballspieler dar, die von der Künstlerin den Titel Das Tor erhalten hat. Im Ergebnis werden (ball)spielende Kinder/Jungen dargestellt, die ein gerade geschossenes Tor bejubeln. Das lässt sich gleichfalls aus der Plastikgruppe selbst schließen. Man sieht keineswegs drei sitzende Personen, vielmehr werden Ausfallschritte der drei Akteure angedeutet, mithin eine dynamische Bewegung bei Sportlern, die sich – nach dem Erfolgserlebnis Torschuss – freuend umarmen. Der Kontext ergibt sich auch daraus, dass die Plastikgruppe ursprünglich auf dem Schulsportplatz stand.

Zehn Jahre später erfolgte dann die Umwidmung des Kunstwerkes durch die Künstlerin als eine Allround-Plastik, die drei Jungen darstellt – von einem Mädchen oder gar einem Hund war nicht die Rede.

Das Tor ohne Schrei, Negativ-Kartei des Bildarchivs Herne (Foto: Ralf Piorr)

Warum aber die Umwidmung erfolgte, konnte nicht geklärt werden. Möglich, dass Hoffmann auf ihren früheren Entwurf „Spielende Kinder“ zurückgriff. Aber das ist nur Spekulation.

Reaktionen

Im Januar 2019 lud das Stadtarchiv zu einer Gesprächsrunde ein, um die Forschungsergebnisse vorzustellen. Neben dem Sodinger Bezirksbürgermeister und dem Leiter der Unteren Denkmalbehörde der Stadt Herne wurde unter anderem der Heimatforscher gleichzeitig als Vertreter für Heimatverein und Schule eingeladen. Zur Kenntnisnahme und um einen möglichen Wunsch auf persönliche Teilnahme zu ermöglichen, wurden alle Beteiligten über den Termin in Kenntnis gesetzt. Drei Tage vor der terminierten Gesprächsrunde sagte der Heimatforscher ab. Ein Vertreter für ihn erschien nicht.

Nach Vorstellung der neuen Forschungsergebnisse und einer zielführenden Diskussion wurde der Denkmalbehörde eine gutachterliche Stellungnahme zur Fortschreibung des Listeneintrages zugesandt.

Schließlich berichtete die Westdeutsche Allgemeine Zeitung in ihrer Herner Online-Ausgabe vom 3. Mai 2019 und ihrer Print-Ausgabe vom 4. Mai 2019 unter der Überschrift Doch keine Hommage an die große Fußball-Ära über die Forschungsergebnisse.

Der Heimatforscher erklärte gegenüber der Zeitung, „dass es bei historischen Themen ein normaler Vorgang sei, wenn neue Erkenntnisse auftauchten: Das bereichert das Wissen über das Denkmal.“

Falscher Einwurf, denn bis dato lagen keine belastbaren Erkenntnisse vor. Zwei Zeitungsartikel, die in sich schon widersprüchlich sind und aus der wahlweise ein Torschrei, ein Denkmal für die fußballbegeisterten Fans des SV Sodingen oder eine Hommage an die Fußballzuschauer der damaligen Fußballhochburg Herne hergeleitet werden, scheinen eher die Phantasie als irgendeine Erkenntnis befördert zu haben.

Der Pinocchio-Torschrei, Fotomontage Roland Schönig, 2019

Die Mont-Cenis-Gesamtschule stellte auf rustikale Spielweise um. Sie kritisierte – mangels Sachargumenten ins Formelle ablenkend – „die Informationspolitik des Stadtarchivs“ und hatte allen Ernstes erwartet, vom Stadtarchiv „über die Recherchen und Entwicklung auf dem Laufenden gehalten zu werden“. Die Untersuchungsergebnisse nahm die Schule zur Kenntnis. Immerhin.

Die Reaktion des Heimatvereins: Schweigen in der Kabine.

Abpfiff

Eine mehr als vier Jahre andauernde Geschichtsposse, die nach Dafürhalten des Verfassers dieses Textes in einer indifferenten Gefälligkeitsgeschichtsschreibung, gemengt aus Marketingstreben und Geltungsdrang verschiedener Akteure mündete, ist beendet.

Das Stadtarchiv und seine Unterstützer konnten der Künstlerin Elisabeth Hoffmann die Deutungshoheit über ihr Werk zurückgeben.

Ernüchternd bleibt die Erkenntnis, wie einfach Behauptungen als seriöse Geschichtsrecherche in den Raum gestellt werden können und trotz anderslautender Hinweise und offensichtlicher Widersprüche kritiklos hingenommen werden.

So einfach ist Geschichte nun wirklich nicht.

Verlängerung

Mitunter wird eine längst widerlegte Geschichtsschreibung – aus welchen Gründen auch immer – weitertradiert. Davon betroffen ist auch das Kunstwerk von Elisabeth Hoffmann. So findet sich auf der Website des Herner Heimatvereins zwar folgender Zusatz zu dem dort veröffentlichten Artikel über die Plastik: „2019 fand man im Stadtarchiv ein Dokument mit einem weiteren Namen des Denkmals, aus dem Jahr 1957, wieder“[sic]. Unter einem Foto von der Plastikgruppe wurden überdies als Ergänzung zu der Bildbeschreibung „Auch bekannt als: Gruppe der Ballspieler und Tor!“ gesetzt.

Auf die Entstehungsgeschichte und Bedeutung der Skulptur, die lückenlos und mit mehr als nur einem Dokument9 hinreichend belegt sind, wird jedoch nicht weiter eingegangen.10 Erstaunlich auch, dass der Vertreter des Heimatvereins behauptet, das „Dokument“ sei im Stadtarchiv gefunden worden. Wie er darauf kommt, wird sein Geheimnis bleiben.

Aber auch die Denkmalbehörde tradiert die fehlerhafte Geschichtsschreibung weiter. So findet sich nach wie vor in einem Infoblatt zu einer Denkmal-Radtour folgende Beschreibung: „Die Skulptur ‚Der Torschrei‘ wurde im Jahr 1958 von der Herner Künstlerin Elisabeth Hoffmann (1914 – 1973) geschaffen. Das Kunstwerk ist ca. 1,60 Meter hoch und aus massiven Grünsandstein gehauen. Dargestellt sind im expressionistischen Stil drei Zuschauer, die eng hintereinander sitzend ein gleiches Ziel betrachten. Der Name der Skulptur wird jedoch recht kontrovers diskutiert.“11

Wenn es mal nur um den Namen gehen würde und wenn es mal eine kontroverse Diskussion gegeben hätte.

Dank

An dieser Stelle sei den Menschen, die das Stadtarchiv unterstützt und ihm den Rücken gestärkt haben gedankt:

Gerd Biedermann und Roland Schönig von der Geschichtsgruppe Die Vier!, die unermüdlich, geduldig und letztendlich erfolgreich in den Beständen des Stadtarchivs auf Spurensuche gegangen sind. Ein besonderer Dank geht an den Filmemacher Roland Schönig, der den Film des Heimatvereins und der Schule analysiert und auf Fehler und Ungereimtheiten hingewiesen hat;

Horst Pöttker für die richtungsweisende Analyse der Pressetexte und für das gemeinsam am 30. März 2019 genossene Fußballspiel VfL Bochum vs. Hamburger SV, auch wenn es zu keinem „Torschrei“ kam;

Ralf Piorr und Joachim Wittkowski für wichtige Hinweise;

Norbert Bartsch, Jörg Hilger, Werner Scheibe und Helmut Sczepan stellvertretend für alle befragten Zeitzeugen, die viel Licht ins Dunkel bringen konnten;

Thorsten Brokmann von der Unteren Denkmalbehörde für die fachliche Beratung.

Jürgen Hagen12

Meinung:

Der Torschrei – Ein Denkmal für den unbekannten Fußballzuschauer? | Orte im Ruhrgebiet, die uns Geschichte erzählen – ein Text von Ralf Koss

Anmerkungen

  1. Erstveröffentlichung des ursprünglichen Textes: Jürgen Hagen, Der Torschrei – ein moderner Mythos aus Herne-Sodingen, In: Der Emscherbrücher, Band 18 (2019/20), Seiten 55 bis 64, herausgegeben von der Gesellschaft für Heimatkunde Wanne-Eickel e. V., Herne 2019. ↩︎
  2. Der unveröffentlichte Aufsatz aus dem Jahr 2017 trägt den Titel Die Künstlerin / Bildhauerin / Malerin Elisabeth Hoffmann. Er kann im Stadtarchiv Herne eingesehen werden. ↩︎
  3. Geheimnis gelüftet: Skulptur ist einzigartig. Online abrufbar unter: https://inherne.net/geheimnisgelueftet-skulptur-ist-einzigartig/. Letzter Zugriff: 01. April 2020. ↩︎
  4. Der Fußballbegeisterung ein Denkmal gesetzt. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (Herne) vom 9.6.2017. Im Stadtarchiv lässt sich lediglich eine aus dem Jahr 1951 stammende Auftragsarbeit nachweisen. ↩︎
  5. Die zitierte Internetseite wurde am 15.1.2018 abgerufen und als Ausdruck zu der Akte genommen. Die Seite ist im Web nicht mehr zu finden. ↩︎
  6. Skulptur spielt im Schülerfilm die Hauptrolle. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (Herne) vom 11.1.2018. ↩︎
  7. Film löst Rätsel der Sodinger Skulptur. In: Sonntagsnachrichten (Herne) vom 18.3.2018. ↩︎
  8. Torschrei ist jetzt ein Denkmal. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (Herne) vom 24.3.2018. ↩︎
  9. Dieses Dokument wurde richtigerweise Mitte 2018 gefunden. Das Schriftstück selbst interpretierte der Autor des Herner Heimatvereins fehlerhaft. Nicht die erste Fehlinterpretation, wird doch beispielsweise im selben Artikel in einer Fußnote behauptet, es hätte eine Tageszeitung namens ‚Herner Rundschau‘ gegeben. Diese ‚Herner Rundschau‘ war jedoch lediglich der Lokalteil der ‚Westfälischen Rundschau‘. ↩︎
  10. Die entsprechende Seite wurde am 30.9.2020 abgerufen und zu den Akten genommen. ↩︎
  11. Aus: Denkmal-Radtour-Herne – 2019 – „außergewöhnlich, unerkannt, versteckt“. Abrufbar unter: https://www.herne.de/Wirtschaft-und-Infrastruktur/Verkehr/Radfahren-in-Herne/Denkmal-Radtouren/. Letzter Zugriff: 1.10.2020. ↩︎
  12. Siehe auch: Plastikgruppe ‚Das Tor – Gruppe der Ballspieler‘ / ‚Drei Jungen‘. ↩︎