Möbelhaus Wollstein

Auf der Bahnhofstraße 28 führte der Kaufmann Berthold Wollstein ein Möbelhaus. Bis zum Schluss widersetzte er sich der Arisierung seines Geschäfts. Arisierung oder Entjudung nannten die Nationalsozialisten die Verdrängung von Juden und „jüdischen Mischlingen“ aus Handel, Gewerbe, Wohnungen, Häusern und Wissenschaft im Sinne der Nürnberger Gesetze. Sie fand von 1933 bis 1945 im Deutschen Reich sowie angeschlossenen und besetzten Ländern statt und wird heute in der Regel als Raub eingeordnet. Meist wurde sie zwar in Form als formell ordnungsgemäßer Verkauf inszeniert, dieser geschah jedoch unter erheblichen faktischen und/oder behördlichen Zwängen, sodass der Verkäufer nur selten einen angemessenen Preis erzielen konnte. Die „arischen“ Käufer hingegen erzielten mitunter erhebliche Gewinne.1

Mit der Reichspogromnacht aber setzte ein wildes Gerangel um sein Vermögen ein. Die Fensterscheiben des Geschäfts wurden zertrümmert, die Ausstellungsware geplündert und ein erheblicher Teil des Inventars zerstört. Am Morgen des 10. November 1938 schaltete sich die „Gruppe Einzelhandel“ ein, um das Warenlager zur Verteilung zu bringen. Die Bestände wurden in gleichmäßige Teile aufgeteilt und unter den anwesenden „arischen“ Möbelhändlern verlost, die Reste einem Althändler überlassen.

Die NSDAP setzte den Treuhänder Rudolf Hüls zur Abwicklung der Geschäfte ein. Berthold Wollstein floh mit seiner Frau und den drei erwachsenen Kindern nach Luxemburg, später nach Frankreich. Hüls erwirtschaftete aus den Restbeständen inklusive der Sparguthaben, der Wertpapiere, der Lebensversicherung und den Außenständen 500.000 RM. Davon wurden die Gläubiger bezahlt, wie die Firma Sayn & Hüls, die für das Wiedereinsetzen der Fensterscheiben nach dem 09. November 9.414 RM in Rechnung stellte. 50.000 RM behielt er als Gebühren für seinen Arbeitsaufwand. Zwei Beträge von je 60.000 RM wurden für die Judenvermögensabgabe und die Reichsfluchtsteuer an das Finanzamt bezahlt. „Außerdem wurden an das Finanzamt Herne auch Gelder ohne Steuerzettel abgeführt, das heißt, lediglich auf Drängen des Finanzamtes, ohne dass wir wussten, wofür diese Gelder bestimmt waren. Sämtliche Zahlungen sind von uns entweder in bar oder durch Scheck geleistet worden“, so der kaufmännische Leiter beim Rückerstattungsprozess in den 1950er Jahren.

Die Bahnhofstraße mit dem Haus Nummer 28 auf der rechten Seite, charakteristisch war der Zwiebelturm, etwa 1960. Foto Stadtarchiv Herne

Die Familie Wollstein lebte illegal in der französischen Stadt Nimes. Anfang 1942 gerieten sie an einen Franzosen, der für eine hohe Geldsumme Erich (27), Herbert (26) und Ursula Wollstein (22) über die Pyrenäen nach Portugal schmuggeln wollte. Unter dem Druck der Verhältnisse ging man auf das Angebot ein, dass sich jedoch als Falle erwies. Die Kinder wurden an die deutschen Behörden ausgeliefert und über das Sammellager Drancy bei Paris nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Das Ehepaar Wollstein überlebte versteckt bis zum Einmarsch der Alliierten. 1949 kehrte es seelisch gebrochen nach Herne zurück. In seinem Testament verfügte Berthold Wollstein: „Der Rest von 30 Prozent der Erbsumme soll von mir als Vermächtnis für die Aufforstung des Landes Israel sein, mit dem ausdrücklichen Wunsch einen Gedächtniswald zu unserem Andenken für Berthold und Franziska Wollstein sowie für unsere drei Kinder Herbert, Erich und Ursula-Edith anzulegen, und das auch nach meinem Ableben für alle Zeiten das Kaddisch für alle fünf Personen gesagt wird.“

Der Eigentümer des Hauses, Arthur Samson, wurde mit seiner Frau Lotte ebenfalls aus dem Haus gedrängt. „Es waren im Winter 1939 einige gute Wohnungen zur Auswahl, was uns sehr überraschte. Wegen der Wohnung kamen wir ja nach Herne“, erzählte Gisela Thünes, die mit ihren Eltern nach Herne kam. Ihr Vater wollte als Bergmann auf Shamrock anfangen. Arbeitskräfte waren begehrt, guter Wohnraum ein überzeugendes Argument. Die Familie bezog die Wohnung der Samsons, mit denen sie in Kontakt kamen. Frau Thünes Großmutter strickte Kleidung für das kleine Kind der Samsons, Tana, die sie dann ins Judenhaus in der Bahnhofstraße 57/59 bringen musste. Die Großmutter selbst hatte Angst, dort hineinzugehen. Man wusste ja nicht, wer einen beobachtete.

Im April 1942 wurden Arthur, Lotte und Tana Samson nach Zamość deportiert und ermordet. Das „Judengrundstück“ wurde 1943 auf das Reich umgeschrieben.2

Jürgen Hagen

Anmerkungen

  1. Zitiert nach Wikipedia: Arisierung. ↩︎
  2. Ralf Piorr (Hg.): Herne und Wanne-Eickel 1933-1945. Ein historischer Stadtführer. adhoc Verlag Herne. 1. Auflage November 2013. Seiten 23 und 24. ↩︎