Gestörte Totenruhe
Im Jahre 1925 wandte sich die Synagogengemeinde Wanne-Eickel an die Kommune mit der Bitte, auf dem neu anzulegenden Waldfriedhof auch eine jüdische Abteilung einzuplanen. Der bisher benutzte Friedhof am Eickeler Bruch war zu diesem Zeitpunkt noch nicht voll belegt, jedoch hätte der Raum wohl nur noch zehn Jahre gereicht. Ein weiterer Grund für diesen Vorstoß war die Tatsache, dass in der politischen Kultur der Weimarer Republik ein gemeinsamer Friedhof für alle Konfessionen und für die steigende Zahl der Konfessionslosen als Zeichen gesellschaftlicher Gleichstellung angesehen worden ist.
Diese Auffassung wurde auch von den liberal-jüdischen Gemeindemitgliedern geteilt, die im Vorstand und in der Repräsentantenversammlung eine Mehrheit hatten. Das Amt Wanne griff die Initiative auf und bot der Synagogengemeinde zunächst die Abteilung I an. Da dieses Feld an exponierter Stelle jedoch nicht den religiösen Mindestanforderungen an einen jüdischen Begräbnisplatz genügte, wünschte der Synagogenvorstand, ein anderes Feld zu erhalten. Bedingt durch das gute Verhältnis von Kommune und Synagoge, konnte man sich schnell einigen. Schon im Oktober 1925 erfolgte die erste Beisetzung auf der Abteilung VI. Diese lag am Rande des Friedhofs und sollte so Abgeschiedenheit und Ruhe gewährleisten. Bis 1935 wurden insgesamt 17 Personen hier beigesetzt. Auch die Gräber auf dieser Abteilung wurden nach der allgemein gültigen Friedhofsordnung belegt, also auch mit einer zeitlichen Limitierung der Gräber, die es in der jüdischen Tradition nicht gibt.
Die aufgestellten Grabsteine waren zum Teil in Material und Ausführung großzügig angelegt. Diabas und Granit waren die vorherrschenden Materialien der Steine, viele Inschriften waren in Bronzebuchstaben ausgeführt. Stilistisch interessant waren einige Grabmale, die deutlich vom Stil des Bauhauses beeinflusst waren.
Nach 1935 konnten hier keine jüdischen Beerdigungen mehr stattfinden. Sieben Jahre lag der Begräbnisplatz, vergessen oder totgeschwiegen, in relativer Ruhe. Ab 1942 tauchte für die Wanne-Eickeler Behörden das Problem auf, wo man die getöteten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter vergraben sollte. Mehr als 1000 Männer, Frauen und Kinder, meist russischer Nationalität, starben an Überarbeitung, Infektionen durch mangelnde sanitäre Anlagen oder durch Übergriffe des Wachpersonals. Für diese Leichname wurde die jüdische Abteilung auf dem Waldfriedhof als Begräbnisort bestimmt. Viele Wanne-Eickeler erinnern sich noch heute an die Wagen, die zum Waldfriedhof fuhren und aus denen oft Gliedmaße der Getöteten herausragten. Auf der Abteilung VI wurden die Grabsteine abgeräumt und als Wegbefestigung benutzt, damit die schweren Wagen nicht im sumpfigen Boden des Waldfriedhofs einsackten. Die Leichen wurden ohne Särge in geringer Tiefe und aus Platzgründen quer zur ursprünglichen Bestattungsrichtung in die Erde gelegt.
Durch Verfügung der alliierten Siegermächte aus dem Jahre 1946 sollte dem Begräbnisplatz der Kriegsgefangenen auf dem Waldfriedhof ein würdiges Aussehen gegeben werden. Damit schied die Wiederherstellung der Abteilung als jüdische Begräbnisstätte aus. Kurze Zeit wurde daran gedacht, in der Abteilung XIV ein jüdisches Gräberfeld einzurichten, wo auch 1946 eine jüdische Beerdigung stattfand. Nach Abstimmung mit Dr. Kronheim, dem damaligen Vertreter der jüdischen Interessengemeinschaft, ist schließlich in der benachbarten Abteilung XVI ein Gräberfeld errichtet worden. Im Juni 1947 erfolgten die Umbettungen, allerdings ohne die nach jüdischem Ritus erforderliche Anwesenheit eines Rabbiners. Durch die oben geschilderten Umstände traten, technisch gesehen, keine Probleme bei der Identifizierung der Toten und deren Umbettung auf. Auf Wunsch der Angehörigen wurde auch die Leiche des auf Abteilung XIV beigesetzten Gemeindemitglieds auf die neue Abteilung überführt. So haben heute 18 Personen auf der jüdischen Abteilung ihre letzte Ruhestätte gefunden. Zum Abschluss der Arbeiten ließ die Stadt neue Grabsteine aufstellen. Diese entsprechen in Material, Stil und Ausführung nicht den Originalsteinen. Die verwendeten Symbole sind jedoch der jüdischen Tradition entnommen.
Wegen seiner tragischen Geschichte ist der Waldfriedhof von den wenigen zurückgekehrten Juden in Wanne-Eickel nicht mehr als Begräbnisplatz ausgewählt worden. Sie zogen es vor, ihre Angehörigen auf dem jüdischen Friedhof in Gelsenkirchen beisetzen zu lassen, da sie nun auch synagonal zu Gelsenkirchen gehörten. 1972 rückte die Abteilung XVI noch einmal kurz in das öffentliche Interesse. Weil man auf dem ehemaligen Synagogengrundstück keine Gedenktafel anbringen durfte, begann ein jahrelanges Suchen nach einem geeigneten Ort. Auch die jüdische Abteilung auf dem Waldfriedhof wurde dabei als Standort vorgeschlagen. Bei einer Ortsbesichtigung durch den damaligen Landesrabbiner wurde diesem die Geschichte der Abteilung XVI bekannt. Daraufhin kam der Waldfriedhof als Platz für das jüdische Ehrenmal nicht mehr in Betracht. So besteht hier auf dem Waldfriedhof die paradoxe Situation, einen jüdischen Friedhof zu haben, auf dem ausschließlich Gräber von Verstorbenen sind, die hier ihre zweite Ruhestätte gefunden haben. Ist auch das jüdische Gräberfeld in kunsthistorischer oder denkmalpflegerischer Hinsicht nicht mit den Friedhöfen im Eickeler Bruch oder auf dem Hoverskamp zu vergleichen, so ist es doch ein Mahnmal an die dunkelste Zeit dieser Stadt.
Kurt Tohermes
Aus: Sie werden nicht vergessen sein – Geschichte der Juden in Herne und Wanne-Eickel, Eine Dokumentation zur Ausstellung im Stadtarchiv Herne vom 15. März bis zum 10. April 1987, Hrsg. Der Oberstadtdirektor der Stadt Herne, 77 Seiten, Herne 1987, Seiten 69 und 70 – Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Stadt Herne.