Ferdinand Leopold (Leo) Justmann (Opfer des NS-Regimes)

Horst Justmann (90) aus Herne erinnert sich an einen großen Verlust: den ungeklärten Tod seines Vaters Leopold im 2. Weltkrieg. Ein Protokoll.

Vor 75 Jahren, im Mai 1945, ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Horst Justmann (90) aus Herne-Horsthausen berichtet im Gespräch mit Norbert Arndt und Udo Jakat von der DGB-Geschichtswerkstatt erstmals über seine Jugend im Krieg und insbesondere an den bis heute nicht geklärten Tod seines Vaters Ferdinand Leopold. Seine Erinnerungen kochten hoch, als er einen WAZ-Bericht über die Euthanasie in Herne las. Die WAZ gibt das aufgezeichnete Protokoll, leicht gekürzt und redigiert, wieder.

Leo Justmann (2.v.r.), hier im Bild um 1930 während der Weltwirtschaftskrise beim „freiwilligen“ Arbeitsdienst für Erwerbslose in Herne, wurde in der Nazizeit offenbar ermordet. Foto Horst Justmann

„Mein Vater war Ferdinand Leopold, genannt Leo, und wurde am 26.10.1893 in Trantow/Pommern geboren. Zuerst haben meine Eltern auf der Goethestraße gewohnt und sind dann zur Bismarckstraße 6 umgezogen, da bin ich am 22.01.1930 geboren. Mein Vater kam aus Pommern, meine Mutter stammt aus Schlesien. Ich hatte eine jüngere Schwester.

Kinderlandverschickung nach Schlesien

Mit zehn oder elf Jahren kam ich im Rahmen der Kinderlandverschickung nach Schlesien. Die Kinder sollten in Sicherheit gebracht werden, weil man später Soldaten brauchte. Das war der Grund. Nicht unser Wohlergehen. Bei der Kinderlandverschickung war ich bei Tante und Onkel, die hatten selber fünf Kinder. Die hatten mich nur deshalb aufgenommen, weil es dafür Geld gab. Und die brauchten Geld. (Mit stockender Stimme) Von Liebe war da nichts zu spüren. Ich musste auf meine Schwester aufpassen, die haben sie ja auch noch hinterhergeschickt.

1943 kam dann meine Tante zu mir und sagt, Horst, dein Papa ist gestorben. Das war wie ein Hammer. Da war keiner, der einen getröstet hat.

Wie ich dann 1944 nach Hause kam, fing der Bombenkrieg erst richtig an. Da war ja jeden Tag Fliegeralarm. Meine Mutter habe ich gar nicht mehr gekannt. Wir waren uns fremd geworden. Bis wir uns wieder an einander gewöhnten, das hat eine Zeit gedauert. Ich habe dann auf Friedrich der Große als Schlosserlehrling angefangen. Meine Mutter hat auch auf dem Pütt gearbeitet, zunächst als Hilfsarbeiterin in der Kohlenwäsche.

Ein Bild aus dem Familienalbum: Leo Justmann (links unten neben dem Schild) im Jahre 1917 als Angehöriger der Kriegsmarine. Seine Eltern gaben ihm Geld, damit er ein Steuermannspatent in Hamburg macht. Der junge Leo brachte aber das Geld mit Kollegen durch – und landete in Herne auf der Zeche Friedrich der Große. Foto Horst Justmann

Obersteiger: Das ist Wehrkraftzersetzung

Über den Tod meines Vaters hat meine Mutter geschwiegen, die hat das lange verdrängt. Jedes Mal, wenn das Gespräch nur ansatzweise auf ihn kam, fing sie sofort an zu heulen. Ich habe mich schon gar nicht mehr getraut, darüber zu sprechen. Ich würde sagen, er war eher sozialdemokratisch ausgerichtet. Ich weiß nicht, ob er Parteimitglied war. Er war aber auf der ,links gerichteten Schiene’. Mutter war mit Wilhelmine Schuster befreundet. Die war vor 1933 Stadtverordnete der KPD und saß hier in Herne im Polizeigefängnis. Meine Mutter hat sie besucht und warme Decken vorbeigebracht. Wir haben sie nie mehr wiedergesehen.

Sie erzählte mir dann später: Mein Vater hat sich im Kreise seiner Kumpels dahingehend geäußert: ,Der Hitler kann den Krieg nicht gewinnen!’ Das muss 1940 gewesen sein. Jemand hat das dem Obersteiger hinterbracht. Der hat meinen Vater dann vorgeladen und hat ihm gesagt, das wäre Wehrkraftzersetzung, ,das wirst du schwer bereuen’. Er wurde sofort einer neuen Arbeitsstelle zugeordnet, in der halbsteilen Lagerung, einem bruchgefährdetem Flöz. Und das dauerte gar nicht lange, da lag mein Vater unterm Bruch. Er hatte die Wirbelsäule angebrochen, war aber nicht querschnittsgelähmt. Der Vater wurde im Bergmannsheil behandelt, wurde entlassen und war kurz danach mit meiner Mutter in dem Kino Lichtburg. Dort ist er zusammengebrochen. Von dort haben sie ihn weggebracht.

Hält Rückschau: Horst Justmann. Foto Norbert Arndt

Dann wurde der Vater nach Aplerbeck verschleppt

Ich erinnere mich daran, dass wir nach Bottrop zu einer Nervenheilanstalt gefahren sind. Das war das letzte Mal, dass ich meinen Vater gesehen habe. Da sah er schon elend aus. Vorher war er ein großer, kräftiger Mann, bei unserem Besuch war er bereits ,richtig zusammengefallen’.

Mutter erzählte, dass sie noch mal in Bottrop zu Besuch war und mein Vater zu ihr gesagt habe: „Hol mich hier raus, die spritzen mich zu Tode! Aber was sollte sie machen?“ Sein Zustand hat sich jedenfalls zusehends verschlimmert. Dann haben sie ihn nach Aplerbeck verschleppt. Am 20.04.1943, zu Hitlers Geburtstag, ist er sozusagen ,als Geburtstagsgeschenk für den Adolf’ umgebracht worden. Hier habe ich die Sterbeurkunde. Ausgestellt vom Standesamt Dortmund-Aplerbeck.

Nach Hörensagen wurden dort Leute vergast. Und wo sie dann hingebracht und verscharrt wurden, das weiß ich bis heute nicht. Es gibt keine Informationen über eine Grabstelle oder sonst was. Das alles habe ich erst erfahren, da war ich 19, 20 Jahre alt.“

Anmerkung von Udo Jakat: Erst seit kurzer Zeit ist bekannt, dass auch in Dortmund-Aplerbeck Patienten systematisch von den Nazis ermordet wurden. Laut Stadtkartei kam der Vater Leopold nicht nach Bottrop, sondern nach Düsseldorf in die Heil- und Pflegeanstalt. Möglich, dass er zuvor in Bottrop war. Die DGB-Geschichtswerkstatt will das Schicksal von Leopold Justmann weiter recherchieren und bittet um weitere Hinweise über Euthanasieopfer in Herne zwischen 1933 und 1945 (Kontakt Udo Jakat: 02323/52193). Der hochbetagte, ehemalige Bergmann erzählt seine Geschichte erst heute, weil er angesichts aktueller Entwicklungen Sorge hat, dass sich so etwas wiederholen könnte.

Norbert Arndt, Udo Jakat1

Anmerkung

  1. Norbert Arndt und Udo Jakat von der DGB-Geschichtswerkstatt führten das Gespräch mit Horst Justmann vor der Corona-Krise in seiner Wohnung. Horst Justmann wurde Maschinensteiger und war nach dem Zweiten Weltkrieg überwiegend auf Friedrich der Große 4/5 eingesetzt und zwischenzeitlich auf Mont Cenis abgeordnet. Auf Friedrich der Große zurückgekehrt, erlebte er die Stilllegung der Verbundschachtanlage und wurde dann auf Zeche Blumenthal in Recklinghausen beschäftigt. Hier ging er nach 41 Jahren unter Tage in die vorzeitige Anpassung. Das Gespräch wurde in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (Herne) am 20.04.2020 erstveröffentlicht. ↩︎