Beginn des Zweiten Weltkrieges in Herne und Wanne-Eickel

Sommer 1939: Die Menschen in Herne und Wanne-Eickel spüren seit Längerem, dass was in der Luft liegt, das tatsächliche Ausmaß des bevorstehenden Weltbrandes lässt sich zu diesem Zeitpunkt aber nicht erahnen.

Seit dem Machtantritt der NSDAP im Januar 1933 hat sich das Leben in Herne und Wanne-Eickel grundlegend gewandelt. Die örtlichen Gewerkschaften, bürgerliche und Arbeiterparteien, ihre Kultur- und Sportorganisationen sind zerschlagen, die Presse gleichgeschaltet und politische Oppositionelle, wie auch rassisch und religiös Verfolgte schmachten in Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern oder befinden sich, wenn die Flucht noch rechtzeitig geglückt ist, längst in der Emigration. Im November 1938 waren die jüdischen Synagogen in beiden Städten von den Faschisten in Brand gesteckt worden. Eine von den NS-Machthabern erzwungene Auswanderungswelle der verbliebenen jüdischen Familien erreicht im Sommer 1939 ihren Höhepunkt.1 Sogenannte „Gemeinschaftsfremde“, wie Kranke oder Homosexuelle, sind weitgehend gewaltsam aus der „Volksgemeinschaft“ ausgegrenzt worden.2 Justizgefängnis (Hafthaus) und Polizeigefängnis am „Adolf-Hitler-Platz“ (heute: Friedrich-Ebert-Platz) neben dem Herner Rathaus sind gefürchtete Orte und stets mit Regimegegnern und Angehörigen anderer Opfergruppen überbelegt. Das Straßenbild wird in den Jahren bis zum Kriegsbeginn durch Uniformträger aller Art, seit 1935  auch durch die Uniformen des Reichsarbeitsdienstes und zunehmend der Wehrmacht, bestimmt.3

Bereits zum 01. April 1939 waren, wegen der rüstungswirtschaftlichen Bedeutung der Kohle, zum Verdruss der Bergarbeiter die Schichtzeiten auf den Schachtanlagen verlängert worden. Die tägliche Schichtzeit unter Tage wird von 8 auf 8 ¾ Stunden, die Arbeitszeit über Tage um 45 Minuten auf 9 ¾ Stunden ausgedehnt.4

Die Stimmung ist gedrückt. Bereits im August kommt es vielerorts zu Hamsterkäufen. Schon Monate vor Kriegsbeginn sind in den Kommunalverwaltungen beider Emscher-Städte im Rahmen eines sogenannten „Mob.Plan“ eine Fülle von Vorarbeiten für den bevorstehenden Kriegsausbruch zu leisten. Seit dem 22. August erfolgen die ersten Einberufungen zur Wehrmacht, am 24. des Monats wird von Berlin ein dauerhafter Fernsprechbereitschaftsdienst in den Rathäusern angeordnet. Am 26. August beschlagnahmt die Wehrmacht in Herne eine Reihe planmäßig vorgesehener Truppenunterkünfte, darunter das Schloss Strünkede, die Schulen an der Forell-, Gräff-, Gneisenau-, Kaiser-Wilhelm-Straße (heute: Viktor-Reuter-Straße), Schützenplatz (heute: Berliner Platz) und Grüner Weg sowie das Stadtgartenrestaurant für ein Flakkommando. Seit dem 27. August werden Lebensmittelkarten ausgegeben. Am 28. August wird die Ausgabe von Textilien und Schuhwaren gesperrt, gleichzeitig richtet die Stadtverwaltung ein Ernährungsamt und eine Fahrbereitschaft ein.5 Am gleichen Tage trifft im Herner Rathaus ein Erlass über die „Vereinfachung der Verwaltung“ ein. Nach diesem Erlass wird die kommunale Selbstverwaltung rechtlich aufgehoben und die Stadt dem Staat unmittelbar unterstellt. Zugleich ergeht die Anordnung, alle nicht kriegswichtigen Arbeiten einzustellen und das frei werdende Personal für neu auftretende Kriegsaufgaben einzusetzen.6

01. September 1939: Der Krieg beginnt mit einer Lüge

Der 01. September des Jahres 1939 ist ein spätsommerlicher Freitag. Seit 6:00 Uhr früh sendet der Rundfunk über die inzwischen verbreiteten Volksempfänger alle zehn Minuten Sondermeldungen. Für 10:00 Uhr ist eine Rede Adolf Hitlers vor dem eilig zusammengerufenen Reichstag in Berlin angekündigt, die im ganzen Land übertragen werden soll. Zu dieser Zeit sind die Straßen wie leergefegt. Lediglich vor den Radiogeschäften drängt sich die Menge. Nun wird die böse Vorahnung zur Gewissheit.  In den meisten Betrieben wird die „Führerrede“ per Lautsprecher übertragen. Einige der Lautsprechertrichter sind auf die Straßen gerichtet, damit Passanten mithören können. Hitler gibt bekannt, dass in den frühen Morgenstunden, nach vorausgegangenen polnischen Grenzverletzungen, der deutsche Angriff auf Polen erfolgt sei und „seit 5 Uhr 45 (…) zurückgeschossen“ werde. Wie jeder Krieg beginnt auch dieser mit einer Lüge. Tatsächlich werden die sogenannten Grenzzwischenfälle, d. h. Überfälle auf schlesische Zollstationen und den Sender Gleiwitz, unter Leitung des SS-Obergruppenführers Heydrich durch SS-Angehörige in polnischen Uniformen in den letzten Augusttagen inszeniert.7 Die Warnung der Arbeiterbewegung vor 1933 und der Widerstandskämpfer in den Jahren danach, dass der Erfolg der Faschisten notwendig in den Krieg treibt, wurde wahr.

Die von den Nazis erwartete Begeisterung hält sich in beiden Bergarbeiterstädten allerdings in Grenzen. Viele Gesichter drücken Sorge und Angst aus. Die direkte oder überlieferte Erfahrung der Not und der Niederlage im Ersten Weltkrieg hat vielfach die dumpfe Ahnung zur Folge, dass es auch diesmal die Millionen von kleinen Leuten sein werden, die am Ende die Verlierer sein könnten. Kurzerhand wird die verbreitete Skepsis und vielfache Kriegsunlust von der gleichgeschalteten Presse in „eine eindrucksvolle Ruhe und Ordnung “, mit der die Nachricht in Herne aufgenommen wurde, uminterpretiert. So am 02. September in einem Bericht der „Herner Zeitung“ über das Echo, dass der Kriegsbeginn in der Stadt ausgelöst hatte. Geradezu beschwörend endet der Artikel, „Kleinmut und Verzagtheit“ auch dann nicht aufkommen zu lassen, wenn im „persönlichen und Gemeinschaftsleben Opfer, ja größte Opfer“ zu bringen seien. Nur ein Ziel habe Bedeutung: „Das ist der Sieg, das ist unser Reich!“8 Die Parteizeitung der NSDAP „Rote Erde“ schreibt im Gleichklang der Nazi-Propaganda „Die Bevölkerung der Kohlenstadt Wanne-Eickel war über diesen Schritt keineswegs überrascht. Wanne-Eickel war um diese Stunde und überhaupt im Laufe des ganzen gestrigen Tages ruhig und gefasst.“9

Den Nazis ist klar, dass die Industriearbeiter und unter ihnen nicht zuletzt die Bergleute die soziale Schicht in Wanne-Eickel und Herne bildet, die dem NS-Regime noch am ehesten distanziert gegenübersteht und nicht zu den aktiven Trägern des deutschen Faschismus zählt.10 Das kann natürlich nicht darüber hinweg täuschen, dass es auch in Herne und Wanne-Eickel eine gehörige Zahl fanatischer und zumindest bis in den ersten Kriegsjahren hinein auch begeisterter  Mitläufer gibt. Gleichwohl erinnert sich der ehemalige Herner Oberstadtdirektor Meyerhoff daran, dass etwa das im Dezember 1938 von der NS-Führung  gestiftete und vielfach für das 4., 6. und 8. Kind verliehene „Ehrenkreuz der Deutschen Mutter“, in den Kriegsjahren häufig in den Altmetallsammlungen wiederzufinden ist, wo diese „stillschweigend ausgesondert wurden“.11

Am 03. September erklären Frankreich und England, die zuvor einen Beistandspakt mit Polen abgeschlossen hatten, dem Deutschen Reich ihrerseits den Krieg. Schon in der folgenden Nacht ertönen die Sirenen, britische Flugzeuge überfliegen das Ruhrgebiet und werfen zunächst nur Flugblätter ab.

Bereits für den Abend des 01. September ist  für beide Städte „bis auf weiteres“ Verdunkelung angeordnet. Am gleichen Tage wird der Luftschutz und ein erweiterter Selbstschutz im Rathaus und der Sparkasse sowie ein Sicherheitsdienst (SHD) mit seinen Untergruppen der Feuerwehr, des Sanitäts-, Instandsetzung- und Entgiftungsdienstes neben weiteren Fachtrupps  in Bereitschaft gesetzt. Von nun an herrscht ständige Alarmbereitschaft in den Rathäusern, wo Tag und Nacht ein Dezernent mit einem Einsatzstab anwesend sein muss. An verschiedenen Stellen der Herner Innenstadt werden Deckungsgräben ausgehoben. Anfang September dient der Rathausplatz in Herne als Sammelplatz für beschlagnahmte Kraftfahrzeuge. Der Luftschutz baut mehrere Fliegerabwehrstellungen aus und im Sodinger Kaiser-Wilhelm-Turm wird eine FLAK-Beobachtungsstelle eingerichtet.12

Starke Veränderungen erfährt das Stadtbild auch durch den zunehmenden Bau privater Luftschutzkeller. Sandsäcke und Balken verschließen die Kellerfenster.13 Nachdem zunächst nur bei Neubauten der Einbau von Luftschutzräumen zwingend vorgeschrieben ist, war bereits am 17. August 1939 angeordnet worden, dass sie auch in bestehende Gebäude behelfsmäßig einzurichten sind.14

Seit dem 01. September ist der Schulbetrieb in beiden Städten zunächst eingestellt. In Herne wird der Unterricht bereits am 19. und in Wanne-Eickel am 22. bzw. 25. September wieder aufgenommen. Die Schüler müssen allerdings auf verschiedene Schulgebäude neu verteilt werden, da eine Reihe von Schulgebäuden weiterhin für militärische Zwecke beschlagnahmt bleiben.15

Als im Herbst 1939 im Ruhrbergbau erstmals Sonntagsschichten ohne Zuschläge verfahren werden, artikulieren die Bergleute ihren Protest mit Kreide auf den Kohlewagen z. B. so: „Das Schaf, das Pferd, die Kuh / Die haben Sonntagsruh‘ / Nur der Kumpel, das doofe Schwein / Fährt sonntags ohne Prozente ein.“16

Seit Kriegsbeginn treten für die Arbeiterfamilien die Probleme der Ernährung und der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs auch in Herne und Wanne-Eickel erneut in den Vordergrund. Ab September 1939 gehören lange Schlangen vor den Geschäften die ganzen Kriegsjahre hindurch zum Stadtbild. Die Höhe der Zuteilung ist fortan die beherrschende Frage des täglichen Lebens. Jede Kürzung der Rationen bedeutet eine Katastrophe, jeder Sonderaufruf wie der eines Ei oder von Zucker eine Sensation.17

Einberufungen zur Wehrmacht, Abtransporte zur Front nehmen jetzt deutlich zu und es dauert nicht lange, da erhalten die ersten Familien in der Stadt die Nachricht, dass der Sohn oder Vater für „Führer Volk und Vaterland den Heldentod gestorben ist“.

Auf den 01. September 1939 folgen fünf schwere Jahre eines Weltkrieges, der in der Menschheitsgeschichte bis dahin und auch danach kein Beispiel findet. Nacheinander überfallen die deutschen Truppen im April 1940 Dänemark und Norwegen, im Mai desselben Jahres Frankreich, die Niederlande, Belgien und Luxemburg, im April 1941 schließlich Jugoslawien und Griechenland. Fast ganz Europa befindet sich in den Händen Hitlerdeutschlands und seiner Satellitenstaaten. Am 22. Juni 1941 fällt die Wehrmacht ohne Kriegserklärung – unter Bruch des 1939 abgeschlossenen Nichtangriffsvertrages – in die Sowjetunion ein und entfesselt einen Vernichtungsfeldzug ohnegleichen.

Bis im April/Mai 1945 aus den Fenstern in Herne und Wanne-Eickel die weißen Fahnen der Kapitulation hängen, die örtlichen Nazi-Bonzen sich feige auf die Flucht machen und die Tore der faschistischen Folter- und Vernichtungsstätten sich öffnen, gehen an den Fronten des Krieges, im Bombenhagel über unserer Stadt, in Zwangsarbeiterlagern der Zechen und Großbetriebe, in Gefängnissen und Konzentrationslagern sowie in Euthanasieanstalten tausende Menschen elendig zu Grunde.

Norbert Arndt, DGB-Geschichtswerkstatt

Epilog:

Bald gibt es keine Zeitzeugen mehr, und es ist unsere Aufgabe, die Geschichten dieser Menschen, nicht zuletzt die Geschichte des opferreichen Arbeiterwiderstandes gegen den Faschismus, in Erinnerung zu halten.

In Zeiten, wo eine rechtspopulistische Partei bald in allen Parlamenten sitzt und im öffentlichen Diskurs zunehmend Intoleranz, Hass und Menschenverachtung einsickern, sollten wir den Fingerzeig eines Erich Kästner als Mahnung begreifen:

„Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen, später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man muss den rollenden Schneeball zertreten; die Lawine hält keiner mehr auf.“

Norbert Arndt, 01. September 2019

Anmerkungen

  1. Chronik Ruhrgebiet, WAZ, Chronikverlag, Gütersloh/München 1987, 1939: Juden verlassen auch das Ruhrgebiet, S. 431. ↩︎
  2. Barbara Dorn/Michael Zimmermann „Bewährungsprobe-Herne und Wanne-Eickel 1933-45“, Studienverlag Brockmeyer, Bochum 1987, S. 342. ↩︎
  3. Meyerhoff „Herne 1933-1945“ i.d.R. „HERNE auf dem Weg zur Großstadt“, Stadt Herne 1963, S. 102. ↩︎
  4. Chronik Ruhrgebiet, WAZ, Chronikverlag, Gütersloh/München 1987, 1939: Deutsche Wirtschaft braucht Kohle, S. 430. ↩︎
  5. Meyerhoff „Herne 1933-1945“ i.d.R. „HERNE auf dem Weg zur Großstadt“, Stadt Herne 1963, S.106 ff) ↩︎
  6. Meyerhoff „Herne 1933-1945“ i.d.R. „HERNE auf dem Weg zur Großstadt“, Stadt Herne 1963, S. 108. ↩︎
  7. Chronik Ruhrgebiet, WAZ, Chronikverlag, Gütersloh/München 1987, 1939; „Sorge im Revier bei Kriegsausbruch“, S. 429  und Wolfgang Berke (Hg.) „1939-1945-Nacht über Wanne-Eickel/Tagebuch einer Stadt“, Klartext-Verlag, Essen 2005. ↩︎
  8. Barbara Dorn/Michael Zimmermann „Bewährungsprobe-Herne und Wanne-Eickel 1933-45″, Studienverlag Brockmeyer, Bochum 1987, S. 277. ↩︎
  9. Wolfgang Berke (Hg.) „1939-1945-Nacht über Wanne-Eickel“, ebenda, S.13. ↩︎
  10. Barbara Dorn/Michael Zimmermann „Bewährungsprobe-Herne und Wanne-Eickel 1933-45″, Studienverlag Brockmeyer, Bochum 1987, S. 341. ↩︎
  11. Meyerhoff „Herne 1933-1945“, ebenda, S. 102. ↩︎
  12. Meyerhoff „Herne 1933-1945“, ebenda, S.107. ↩︎
  13. Wolfgang Berke, ebenda, S. 14. ↩︎
  14. Meyerhoff „Herne 1933-1945“, ebenda, S. 116. ↩︎
  15. Meyerhoff „Herne 1933-1945“ i.d.R. „HERNE auf dem Weg zur Großstadt“, Stadt Herne 1963, S.107. ↩︎
  16. Chronik Ruhrgebiet, ebenda, deutsche Wirtschaft braucht mehr Kohle, S. 430. ↩︎
  17. Meyerhoff „Herne 1933-1945“, ebenda, S.109. ↩︎