Die Märzrevolution 1920 oder der Generalstreik gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch

Die Ereignisse in Wanne, Röhlinghausen und Eickel

Nach der Novemberrevolution von 1918 und der in deren Folge entstandenen Sozialisierungs- und Generalstreikbewegung vom Frühjahr 1919 hatte sich das politische Gesicht Deutschlands grundlegend verändert: Die Arbeiterbewegung hatte nach der militärischen Niederlage des preußischen Militarismus im Ersten Weltkrieg (1914-1918) die Monarchie gestürzt und die parlamentarische Demokratie errichtet.

Im Dezember 1918 beschloss das damalige höchste Organ des neuen Staates, der Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands, die Einführung der parlamentarischen Demokratie. Dieser Beschluss stellte einen Sieg der SPD dar, die sich gegen die rätedemokratischen Vorstellungen der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) und des Spartakusbundes (ab 31.12.1919 KPD) durchsetzen konnte.

Im weiteren Verlauf der Novemberrevolution zerschlug die SPD unter der Verantwortung von Friedrich Ebert und Gustav Noske die radikaldemokratische Arbeiterbewegung im politischen Bündnis mit der Obersten Heeresleitung um General Groener. Um die weitere Radikalisierung der Arbeiterbewegung zu verhindern, stellte Noske Freikorps-Truppen mit monarchistisch gesinnten Offizieren als Befehlshaber zusammen. Der militärische Oberkommandierende dieser Freikorps-Truppen war kein geringerer als der General Walther von Lüttwitz, der späteres Putsch-General.

Diese Freikorpstruppen setzte die nach der Wahl zur Nationalversammlung gebildete SPD-geführte Reichsregierung gegen die Gruppen der Arbeiterbewegung ein, die auf der Einhaltung der Beschlüsse des Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte bestanden. Neben dem Beschluss zur Einführung der parlamentarischen Demokratie verabschiedeten die Räte zwei weitere grundlegende Beschlüsse: die Sozialisierung/Vergesellschaftung der Industrie und die demokratische Kontrolle des Militärs durch Soldatenräte. Nach der Wahl zur Nationalversammlung wurden diese beiden Beschlüsse zum Zentrum der politischen Auseinandersetzungen. Die Bergarbeiterbewegung im Ruhrrevier führte zwei Generalstreiks im Februar und im April 1919 mit dem Ziel der Sozialisierung des Bergbaus durch. Diese beiden Generalstreiks wurden durch die von der SPD geführten Reichsregierung eingesetzten Freikorpstruppen teilweise brutal niedergeschlagen. In Deutschland gründeten sich z.B. in Bremen und München Räterepubliken, die ebenfalls von diesen Truppen gewaltsam aufgelöst wurden. Das gleiche Schicksal erfuhr die Berliner Generalstreikbewegung vom März 1919, als sogar Flugzeuge der Luftwaffe und schwere Artillerie eingesetzt wurde. In weiten Teilen Deutschlands herrschte monatelang der sogenannte Belagerungszustand mit dem Aussetzen der demokratischen Grundrechte, verbunden mit Schießbefehl, Kriegsgerichten und Schutzhaftverordnungen. Im Ruhrgebiet herrschte vom 1. April 1919 bis zum Sommer 1920 der Belagerungszustand mit Zeitungs-, Streik- und Versammlungsverboten. Der Beginn der Weimarer Republik stand von Anfang an unter einem schlechten Stern.

Ein Jahr später: Die gleichen Freikorps unter Führung des Oberkommandierenden Generals Walther von Lüttwitz, flankiert vom reaktionären Politiker Wolfgang Kapp, putschten am 13. März 1920 gegen die von der Nationalversammlung gewählte Reichsregierung. An diesem Tag zogen die Söldner der Marinebrigade Ehrhardt unter schwarz-weiß-roten Fahnen der Monarchie und mit dem altgermanischen Hakenkreuz am Stahlhelm in das Berliner Regierungsviertel ein.

Freie Presse vom 13.03.1920, Repro Norbert Kozicki

Die Reichsregierung flüchtete nach Dresden. Die Putschisten erklärten das Parlament, die Nationalversammlung, für aufgelöst. Als Grundidee dieses Putsches nannten die führenden Köpfe dieser verbrecherischen Aktion: „Eine freiheitliche Fortbildung des Deutschen Reiches, Wiederherstellung der Ordnung und Heiligkeit des Rechtes.“ Konkret bedeutete dies laut Putschist Kapp: Sturz der parlamentarischen Demokratie, Beseitigung der republikanischen Verfassung, Errichtung einer starken, von Parteien und Parlament unabhängigen Regierung und Wiederaufbau eines autoritären Ständestaates.

Ein deutschlandweit sofort durchgeführter Generalstreik beendete nach fünf Tagen dieses politische Abenteuer von ganz rechts. Im weiteren Verlauf der historischen Ereignisse entwickelte sich eine bewaffnete Erhebung von großen Teilen der Arbeiterschaft im Ruhrgebiet: es entstand die Rote Ruhr-Armee.

Die Reaktionen auf den Berliner Putsch im Raum Wanne-Eickel

Nachdem sich die Nachricht vom Putsch der Reaktionäre und Militaristen in Wanne ausgebreitete, wurde noch am Samstagnachmittag, dem 13. März 1920, ein provisorischer Arbeiterrat gebildet. Am Tag danach nannte er sich Aktionsausschuss. Das Wesentliche an der Zusammensetzung dieses Arbeiterrates war, dass in ihm alle drei Arbeiterparteien gleichberechtigt vertreten waren: die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD) und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD).

Essener Arbeiter-Zeitung vom 13.03.1920, Repro Norbert Kozicki

Die erste Handlung des Wanner Aktionsausschusses bestand am Sonntag darin, die politische Macht und die öffentliche Gewalt in den Gemeindegebieten zu übernehmen. Praktisch wurden folgende Maßnahmen eingeleitet:

Die Polizei wurde dem Aktionsausschuss unterstellt. Alle Handlungen der Polizei mussten vorher mit den Parteien abgestimmt werden. Der Aktionsausschuss verstärkte die Polizei personell durch 15 bis 20 erfahrene Sozialisten und Kommunisten, die im Sinne des Aktionsausschusses als zuverlässig galten. Als Berater des zuständigen Polizeiortskommandanten wurde der Kommunist und Leiter der Allgemeinen Bergarbeiter Union Max Turzinski vom Aktionsausschuss gewählt.

Max Turzinski war während des Generalstreiks vom April 1919 Bezirksleiter der rätedemokratisch ausgerichteten Gewerkschaft „Allgemeine Bergarbeiter Union“, Bezirk Wanne. Gleichzeitig war er der Schriftführer in der örtlichen Gruppe der KPD, die zu diesem Zeitpunkt laut Berichten der Spitzelorganisation „Büro Kölpin“ beim Generalkommando VI im Münster, das auch für das Ruhrgebiet zuständig war, über 300 Mitglieder in Wanne verfügte. Diese Tatsache erklärt, warum ein Kommunist zum Polizeiberater gewählt wurde.

Die Gemeindeverwaltung wurde ebenfalls unter die Kontrolle des Aktionsausschusses gestellt. Jede Amtshandlung musste von den Arbeiterparteien genehmigt werden. Die Gemeindevertretung selbst blieb in ihrer Form bestehen. An jeder Sitzung der Gemeindevertretung nahmen Vertreter des Aktionsausschusses teil. Die Beschlüsse des Gemeindeparlaments hatten nur dann Gültigkeit, wenn der Aktionsausschuss keinen Widerspruch einlegte.

Die bürgerliche Presse, d.h. der „Westdeutsche Herold“ und die „Wanner und Eickeler Zeitung“, wurde unter Vorzensur gestellt. Vor dem Druck einer Zeitungsausgabe musste dem Aktionsausschuss ein sogenannter Bürstenabzug eingereicht werden. Diese Vorzensur, mit dem Ziel jede mögliche Bekanntmachung der Putschisten zu verhindern, wurde streng eingehalten. Am Montag, den 15. März 1920, erschien die „Wanner und Eickeler Zeitung“ nur mit örtlichen Nachrichten. Die Zeitung war mit der Aufschrift versehen: „Überprüft durch den Aktionsausschuß der drei sozialistischen Parteien.“

Der Generalstreik wurde für den 15. März 1920 beschlossen. Die Lebensmitteltransporte und die medizinische Versorgung in den Gemeindegebieten wurden sichergestellt. Nach der Gründung des Aktionsausschusses erklärten alle in Wanne und Röhlinghausen vertretenen Parteien, dass sie nach wie vor auf dem Boden der neuen Verfassung der jungen Weimarer Republik standen.

Die Beschlüsse des Aktionsausschusses vom Samstag, den 13. März 1920, wurden in folgender Bekanntmachung veröffentlicht:

Der Aktionsausschuss der drei sozialistischen Parteien beschließt, die Exekutivgewalt zu übernehmen. Die Polizei ist dem Aktionsausschuß unterstellt.

Alle Amtshandlungen sowohl der Kommunal- als auch der Polizeiverwaltung bedürfen der Genehmigung des Aktionsausschusses. Die Gemeindevertretung bleibt in ihrer jetzigen Form bestehen, tagt jedoch nur unter Hinzuziehung des Aktionsausschusses. Der Aktionsausschuß greift nur beratend in die Verhandlungen der Gemeindesvertretung ein.

Die Beschlüsse der Gemeindevertretung haben nur dann Gültigkeit, wenn der Aktionsausschuß zu denselben keinen Widerspruch erhebt.

Kinos dürfen ihre Vorstellungen weiter geben, alle Festlichkeiten dagegen sind vorläufig untersagt.

Die bürgerliche Presse wird bis auf weiteres der Zensur des Aktionsausschusses unterstellt. Vor dem drucke ist ein Bürstenabzug zur Genehmigung vorzulegen.

Von den 3 sozialistischen Parteien werden 15 bis 20 Mann zuverlässige Leute der Polizei zur Verstärkung angegliedert und Herrn Polizeikommissar Porath unterstellt.

Herr Polizeikommissar Porath wird zum Ortskommandanten des Amtes Wanne mit Herrn Polizeiwachtmeister Beckmann als Stellvertreter ernannt. Zum Berater wird Genosse Turzinski dem Polizeikommissar Porath beigegeben.

Die vornehmste Aufgabe der Polizei muß sein, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, die Lebensmittellager der Gemeinde und das Eigentum der Gemeindeeingessenen zu sichern.

Diebstahl, Raub, Plünderungen, aufreizende Flugblätter, Presseartikel und Hetzreden werden standrechtlich verfolgt.

Der Generalstreik wird für Montag, den 15. März, beschlossen. Lebensmitteltransporte werden jedoch sichergestellt. Von dem Generalstreik nicht betroffen sind die Lebensmittelgeschäfte und Apotheken.

Ferner ist sofort die Kontrolle über sämtliche passierende Automobile einzuführen.

Wer sich diesen Anordnungen des Aktionsausschusses nicht fügt, wird standrechtlich verfolgt.

Der Aktionsausschuß

der drei sozialistischen Parteien

gez. Poczatek           Turzinski          Luckei

In einer ersten Besprechung der verschiedenen Parteien regte sich Widerspruch von Seiten der bürgerlichen Parteien gegen die Maßnahmen des Aktionsausschusses. Als Begründung wurde angeführt, dass sie nicht mit dem „Geist der Verfassung“ in Einklang zu bringen seien. Doch der Aktionsausschuss lehnte eine Veränderung der beschlossenen Maßnahmen mehrheitlich ab.

Die Lokalpresse berichtete, dass der „Gewaltstreich der Rechtsradikalen“ auch in Wanne „eine gewaltige Erregung“ auslöste. Der Aktionsausschuss rief die Arbeiter von Wanne und Röhlinghausen zu einer Kundgebung auf, die am Sonntag, den 14. März 1920, vor dem Wanner Rathaus abgehalten wurde. An diesem Tag trat auch die Gewerkschaft „Polnische Berufsvereinigung“ als Vertreterin der polnischen Bergarbeiter dem Aktionsausschuss bei.

Viele tausend Menschen versammelten sich am Nachmittag auf dem Rathausplatz. Der Gemeindevorsteher Kicinski (SPD), gleichzeitig für seine Partei Mitglied im Aktionsausschuss, eröffnete die Kundgebung. Er stellte fest, „dass sich in Folge des Putsches der Rechtsradikalen in Berlin die hier in drei Lager gespaltenen drei sozialistischen Parteien wieder zu geschlossenem und einheitlichem Widerstande gegen die Reaktion von rechts  zusammengefunden habe.“

Als zweiter Redner verurteilte der SPD-Gemeinderat, der Schulrektor Schumacher, den Putsch der ehemaligen Kriegstreiber von 1914. Als politisches Ziel der Widerstandsbewegung gegen die Putschisten mit dem Hakenkreuz an den Stahlhelmen formulierte er das feste Bündnis zwischen Kopf- und Handarbeitern, möglichst unter Mitwirkung der republikanisch gesinnten Gruppen des Bürgertums. Weiterhin sprachen die Vertreter der KPD und der USPD. Energisch vertraten sie die Notwendigkeit des Generalstreiks. Interessanterweise berichtete die Lokalpresse, dass sich ein Vertreter der bürgerlichen „Deutschen Demokratischen Partei“, von der Heydt, für den Generalstreik aussprach.

Aufruf zum Generalstreik, Repro Norbert Kozicki

In der Gemeinde Eickel fand eine weitere Kundgebung auf dem Marktplatz statt, zu der ebenfalls einige tausend Menschen erschienen. In Eickel bildeten die Parteien einen sogenannten Volksrat, der sich aus den Vertretern der SPD, der USPD, dem Verband der Kriegsbeschädigten und dem katholischen Zentrum zusammensetzte.

Nach Abschluss der Kundgebungen stellte der Wanner Aktionsausschuss eine Arbeiterwehr mit 100 Mann zusammen. Diese Arbeitertruppe bewaffnete sich aus den vorhandenen Beständen in der Gemeinde. Von der Ortsverwaltung erhielten diese Männer eine wöchentliche Entschädigung von 300 Mark. Ihr Dienst versahen die bewaffneten Arbeiter mit der Polizei. Die Arbeiterwehr war die Keimzelle der Wanner Abteilung der Roten Ruhr-Armee, die zeitweise eine Gesamtstärke von 100.000 Mann gehabt haben soll.

Seit Montag, dem 15. März 1920, wurde auf den Wanner und Eickeler Schachtanlagen der Generalstreik voll durchgeführt. Zur Mobilisierung für den Generalstreik ließ der Aktionsausschuss am Sonntag, den 14. März 1920, folgendes Flugblatt verteilen:

Aufruf!

Arbeiter von Wanne und Röhlinghausen!

Heraus zum Kampfe für die Republik!

Heraus aus Zeche, Fabrik und Werkstatt zur Demonstration: Wollt Ihr die Republik und die Demokratie meucheln lassen?

Aus Berlin erhalten wir folgende Meldung: Gestern Morgen um 10 Uhr standen 5.000 meuternde Soldaten vor dem Reichstag. Sie stellten ein Ultimatum, daß Giesberts, Müller, Schmidt und andere Reichsminister abtreten und durch Fachminister ersetzt werden sollten.

Das ist natürlich nur ein Vorwand, um eine Regierung nach ungarischem Muster zu bilden. Da die Berliner zuverlässigen Truppen nicht stark genug sind, hat die Regierung sie zurückgezogen, um zweckloses Blutvergießen zu verhindern. Die Regierung berät, ob sie nach Dresden gehen oder sich in Schutzhaft nehmen lassen soll.

Alle, die ihr eine friedliche Entwicklung und die notwendige Gesundung des Wirtschaftslebens wollt, tretet an zum Schutze der Republik und der Demokratie.

Mit heuchlerischen Worten haben sich die Fanatiker von Rechts gegen andere Kreise gewandt und sich als Demokraten aufgespielt. Nun decken sie ihre Karten auf. Aber sie sind nicht die Herren Deutschlands. Herr des Landes ist und bleibt die werktätige Arbeit.

Legt sofort die Arbeit nieder! Zeigt millionenfach, daß ihr Ruhe und Frieden wollt!

Erscheint in Massen zu einer Demonstration heute nachmittag 3 Uhr auf dem Rathausplatz. Es kann keine Rede davon sein, daß dieser wahnsinnige Putsch dauernden Erfolg hat. Aber wir brauchen die Unterstützung jedes einzelnen, der die Schrecken des Bürgerkriegs von unserem Volk fernhalten will, indem wir zeigen, daß Millionen und Abermillionen von Arbeitern nur arbeiten werden, wenn die Grundlagen unserer Staatsverfassung unangetastet bleiben, damit unser Volk zur Gesundung kommt.

Die drei vereinigten sozialistischen Parteien und die polnische Arbeiterschaft

gez.

Kicinski (SPD) Turzinski (KPD) Gorulla (Polen)  Gendera (USPD)1

Nachdem die Berliner Putschisten am 18. März 1920 infolge des breiten Widerstands ihren Staatsstreich für gescheitert erklärten, und die Regierung Bauer in Berlin wieder im Amt war, erließ der Wanner Aktionsausschuss wie viele andere Arbeiterräte einen Aufruf zur Wiederaufnahme der Arbeit. Zunächst folgte die Wanner Arbeiterschaft diesem Aufruf. In anderen Städten des Ruhrgebietes kam es nach den Informationen über die militärischen Auseinandersetzungen zwischen dem Freikorps Lichtschlag und bewaffneten Arbeitern im Raum Wetter/Witten am 15. März 1920 zu einer Verschärfung des Generalstreiks. Das Freikorps Lichtschlag hieß nach den Ereignissen von 1919, als das Freikorps gegen die streikenden Bergarbeiter im Ruhrgebiet eingesetzt wurde, „Totschlag“.

Aufruf an die Arbeiter und Parteigenossen, Repro Norbert Kozicki

Zum weiteren Verständnis der historischen Abläufe wird hier der damalige Reichs- und Staatskommissar im Befehlsbereich des VII. Armeekorps in Münster – zuständig auch für das Ruhrgebiet – Carl Severing (SPD) zitiert:

Und dann nahm das Unglück seinen Lauf. Sofort nach Bekanntwerden der Berliner Ereignisse bildeten sich im ganzen Revier und besonders im Hagener Bezirk Ausschüsse mit der Zweckbestimmung, der Kapp-Regierung allen möglichen Widerstand zu leisten. Gleichzeitig wurde versucht, diesen Ausschüssen Machtmittel durch die Bildung von Arbeiterwehren zur Verfügung zu stellen… Am 15. März, vormittags 9 Uhr, wurden in einer Versammlung unter freiem Himmel von Konrad Ludwig alle diejenigen, die im Besitze von Waffen waren, aufgefordert, um 11 Uhr anzutreten. Auf diese Aufforderung meldeten sich zu der festgesetzten Zeit etwa 200 bewaffnete Leute. Gerade um diese Stunde wurde bekannt, daß in Wetter an der Ruhr eine Abteilung des Hauptmanns Hasenclever vom Korps Lichtschlag eingetroffen sei.2

Anlass für die Truppenverlegung vom Freikorps Lichtschlag war das von interessierter Seite gestreute Gerücht, in Wetter würde die Räterepublik ausgerufen. Severing vermerkte an dieser Stelle in seinen Erinnerungen ausgerechnet in Wetter!.

Severing berichtete weiter: Ich habe bei meinen Nachforschungen nicht feststellen können, ob die dem Hauptmann Hasenclever zur Last gelegten Äußerungen, daß er auf dem Boden der neuen Regierung stehe, wirklich gefallen sind. Es besteht aber die hohe Wahrscheinlichkeit, daß der Führer der Truppe, von den erregten Arbeitern nach seiner Haltung zur Regierung befragt, ausweichende unklare Antworten gegeben und daurch das Mißtrauen der Arbeiter hervorgerufen hat. Es sind bei der Truppe auch Plakate gefunden worden, die zur Unterstützung der Regierung Kapp aufforderten. Da diese Plakate sicherlich nicht von der Kapp-Regierung nach Wetter geschickt worden sind, liegt der Schluß nahe, daß irgendeine Verbindung zwischen Verschwörern in Berlin und einigen Leuten der Truppe bestanden hat. Jedenfalls erblickten die Arbeiter in den Truppen Anhänger Kapps, die sich in Wetter festsetzen und hier für die Putschregierung eine feste Position schaffen wollten, und gegen diese Absicht glaubten sie sich zur Wehr setzen zu müssen.

Diese Informationen über die Abteilung des Hauptmanns Hasenclever verbreiteten sich in Windeseile, so dass immer mehr bewaffnete Arbeiter aus Hagen und Umgebung nach Wetter strömten. Dort kam es zu einer militärischen Auseinandersetzung mit der Folge „der vollständigen Vernichtung der Kolonne Hasenclever“.3 Einen Tag später erreichte eine weitere militärische Formation des Freikorps Lichtschlag die Stadt Herdecke. Aber auch diese Truppe wurde von den bewaffneten Arbeitern entwaffnet, nachdem sich der kommandierende Hauptmann dieser Truppe nicht von den Kapp-Putschisten distanzierte. Dazu muss man wissen, dass diese Abteilungen des Freikorps Lichtschlag immer noch mit den schwarz-weiß-roten Fahnen der Monarchie unterwegs waren und so das Misstrauen der Arbeiter verstärkten.  An diesen Vorgängen in Wetter und Herdecke wird deutlich, dass sich vor dem Putsch die SPD-geführte Reichsregierung in der Frage der Ausübung staatlicher Gewalt auf solche militärischen Formationen stützte. Die bewaffneten Arbeiter gingen konsequent gegen diese Truppen vor. Das sollte die weitere Entwicklung im März und April bestimmen.

Bergarbeiter-Zeitung vom 20.03.1920, Repro Norbert Kozicki

Aus Zeitzeugenberichten weiß man, dass im Raum Wetter auch Kämpfer aus dem Gemeindegebiet Wanne und Eickel beteiligt waren. U.a. holten Mitglieder der USPD aus Eickel dort Waffen für die örtliche Arbeiterwehr ab. Im weiteren Verlauf dieser militärischen Auseinandersetzung, die sich ins Bergische Land nach Elberfeld verlagerten, waren auch Arbeiter aus Wanne beteiligt. In einer Verlustliste der Arbeiter-Samariter-Kolonne Elberfeld wurden auch Arbeiter aus Wanne aufgelistet.4

Am ersten Tag des Generalstreiks in Wanne organisierte die Ortsgruppe der USPD eine sogenannte Volksversammlung auf dem Rathausplatz. Der ehemalige Vorsitzende des Soldatenrats aus den Tagen der Novemberrevolution von 1918, Bähner, sprach über das Leiden der Arbeiter und ihrer Familien während des Ersten Weltkriegs und über die politischen Auseinandersetzungen während der Revolution, als die Arbeiterbewegung die parlamentarische Demokratie erkämpfte. Ausdrücklich betonte er, dass die klassenbewusste Arbeiterschaft nur eine Regierung anerkennen könne, die auf sozialistischer Grundlage aufgebaut sei. Es gelte, den Anweisungen der Sicherheitskräfte Folge zu leisten, „um unser Wanne vor Ausschreitungen zu bewahren.“ So zitierte der Redakteur der Wanner Lokalpresse den USPD-Funktionär.

In jener Woche zwischen dem 13. Und 20. März 1920 gab es im Wanner und Eickeler Gebiet viele dieser Volksversammlungen, in den vorwiegend die örtliche Arbeiterbewegung gegen den Putsch Stellung bezog. Über die Politisierung des öffentlichen Lebens berichtete die Lokalpresse wie folgt: „Naturgemäß ist der Verkehr auf den Straßen erheblich lebhafter als sonst. Überall bilden sich Gruppen, die die Lage mehr oder weniger lebhaft erörtern und nachrichtenhungrig auf neue Meldungen warten.“5

Während der gesamten Dauer des Generalstreiks kam es kaum zu gewalttätigen Konflikten vor Ort. Nur am Dienstagnachmittag fielen in der Passage, in der heutigen Mozartstraße, etliche Schüsse. Der Grund für diese Schießerei blieb unbekannt.

Der Wanner Aktionsausschuss erweiterte sich im Verlauf jener Woche durch einige Vertreter der bürgerlichen Parteien, wie des Zentrums und der „Deutschen Demokratischen Partei“ (DDP). Der Vorsitzende des Aktionsausschusses der spätere Kommandierende der Wanner Abteilung der Roten Ruhr-Armee, Peter Kujawka, stellte diesen Parteienvertreter vor Eintritt in den Aktionsausschuss die Frage, ob sie bereit wären, unter Einsatz ihres Lebens die Verfassung zu verteidigen. Offensichtlich bejahten diese Parteienvertreter diese Frage. In dieser neuen Zusammensetzung beschloss der Aktionsausschuss am Mittwoch, den 17. März 1920, den Generalstreik aus dem oben erwähnten Grund abzubrechen und zur sofortigen Wiederaufnahme der Arbeit aufzurufen.

Ein Grund mit für den frühzeitigen Aufruf zum Abbruch des Generalstreiks war im Landkreis Gelsenkirchen, zu dem auch die Gemeinden Wanne, Röhlinghausen und Eickel gehörten, die extreme schlechte Versorgungslage der Bevölkerung mit Lebensmitteln. Der Arbeiterrat in Gelsenkirchen fasste den gleichen Beschluss mit der Begründung, dass ein Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung bevorstehe. Deshalb sollte die Arbeit wieder aufgenommen werden, damit die geförderte Kohle als Zahlungsmittel zur Verfügung stünde. Auch in anderen Städten des Ruhrgebiets wurde erwogen, Kohle gegen Lebensmittel in Holland einzutauschen.

Der Aufruf zur Wiederaufnahme der Arbeit wurden den Wanner Bergleuten nur zögernd befolgt. Erst am Donnerstag, dem 18. März 1920, als am späten Nachmittag die Nachricht vom Rücktritt der Putschisten Wanne, Röhlinghausen und Eickel erreichte, wurde die Arbeit vollständig wieder aufgenommen.

Zur Entstehung der Roten Armee in Wanne

Ein Augenzeuge aus jenen Tagen berichtete, dass es in den ersten Tagen des Kampfes gegen die Kapp-Lüttwitz-Putschisten in Wanne ruhig blieb. Aber nach den Ereignissen vom 16./17. März 1920 in Wetter und Herdecke  setzte eine Radikalisierung ein, die zu den Ereignissen führte, die in der heutigen Geschichtsschreibung als Märzrevolution bezeichnet wird.

Aufruf der Roten Armee vom 20.03.1920, Repro Norbert Kozicki

Die Stimmung unter den Arbeitern im Gelsenkirchener Raum beschrieb ein Offizier wie folgt: „Die Versammlungen hatten die Arbeiter fraglos zu der Überzeugung gebracht, dass ihre Revolution durch reaktionäre Gewalten von rechts in Gefahr schwebte. Die Geschwindigkeit, mit der dieser Gedanke sich verbreitete und allgemein wurde, sowohl bei radikalen als auch bei lauen Elementen diese aufrüttelt und zusammenschweißt, war bewunderungswürdig…“

Die Nachrichten über die ersten Kämpfe zwischen bewaffneten Arbeitern und den Freikorps mit ihren kaisertreuen reaktionären Offizieren sowie die Entwaffnung dieser putschtreuen Truppen verschärfte den Radikalisierungsprozess auch in Wanne. „Radikale Elemente hetzten jetzt in der Bevölkerung“, berichtete der ehemalige Stadtinspektor Bernhard Brandt in seinen Erinnerungen.6 Ein Anzeichen dafür war, dass die Mitglieder der USPD und der KPD die Beschlüsse des Aktionsausschusses nicht mehr respektierten, obwohl die politischen Führer dieser Parteien die Beschlüsse mitverantworteten. Gleiches wurde aus dem Stadtgebiet von Gelsenkirchen berichtet.

Die Nachrichten vom Sieg der Arbeitertruppen in Wetter und Herdecke über das den Kapp-Putschisten ergebene Freikorps „Lichtschlag“ motivierte die Arbeiter in ihrem Kampf für die junge Weimarer Republik und ihre weitergehenden politischen Ziele, wie z.B. die Vergesellschaftung bestimmter Industriezweige, die später im sogenannten Bielefelder Abkommen nochmals vereinbart wurde. Trotz des Beschlusses des Aktionsausschusses, die Anzahl der bewaffneten Arbeiter auf 100 Mann zu beschränken, nahm die Zahl der bewaffneten Arbeiter in Wanne erheblich zu.

Aufgrund der Radikalisierung brachen im Aktionsausschuss die politischen Gegensätze der sozialistischen Parteien auf. Brand berichtete, dass der Ausschuss, d.h. die gemäßigten Kräfte von der SPD und der USPD, die Radikalisierung nicht verhindern konnten.

„Sie (die gemäßigten Kräfte) konnten auch nicht mehr dagegen tun, da ihre einzige Stütze – die von ihnen bewaffneten Arbeiter – fast ganz in das spartakistische Lager übergegangen waren“, konstatierte Bernhard Brand in seinen Erinnerungen.

An dieser Stelle muss ein Wort zum Begriff des „spartakistischen Lagers“ festgestellt werden. Häufig wurde mit diesem Begriff das Auftreten von revolutionär gesinnten Arbeiter bezeichnet. Damit ist nicht die KPD oder der Spartakusbund gemeint, obwohl dieser Begriff antikommunistische Vorurteile erzeugen soll. Im Jahr 1919 bis zum Kapp-Lüttwitz-Putsch herrschte in weiten Teilen von Deutschland der Belagerungszustand mit Zeitungs-, Versammlungs- und Streikverboten mit dem Aussetzen der demokratischen Grundrechte wie z.B. dem Koalitionsrecht. Diese Verbote betrafen besonders die neugegründete KPD, die nach Aussagen von Zeitzeugen bis zu diesem Zeitpunkt eine randständige Rolle in der deutschen Geschichte spielte. Die Bezeichnung „Spartakist“ oder „Bolschewist“ empfanden viele der aktiven Arbeiter als Verleumdung. In der Hagener Zeitung vom 19. März 1920 gab es folgende Schlagzeile: „Gelsenkirchener Spartakisten beschlagnahmen in Eickel und Wanne Fuhrwerke“. Der Redakteur der Zeitung der USPD Hagen kommentierte diese Titulierung wie folgt: „Das ist denn doch die Höhe! Die Kämpfenden, hinter die sich bisher einmütig das gesamte arbeitende Volk… gestellt hat, werden hier frech Spartakisten genannt.“7

Eine Voraussetzung für diese Radikalisierung in der bewaffneten Arbeiterschaft bildete in der Gemeinde Wanne die Distanzierung der örtlichen KPD von der Mehrheitspolitik des Aktionsausschusses. So erklärt sich die Tatsache, dass die Rote Armee von Wanne im Wesentlichen von kommunistischen Parteifunktionären organisiert wurde.

Wiederum kann Brand berichten, „dass es nicht beobachtet wurde, dass Fremde in der Gemeinde geweilt haben und die Organisation der Arbeitertruppen vorgenommen haben.“ Die Lageinformation holten die verantwortlichen KPD-Funktionäre aus Essen, wo die Bezirksleitung der KPD ihren Sitz hatte.

Bergarbeiter-Zeitung vom 27.03.1920, Repro Norbert Kozicki

Am Donnerstag, den 18. März 1920, wurde die bewaffnete Arbeitertruppe mittags durch die Sirene vom Wanner Schlachthof alarmiert, um nach Essen zu eilen, wo die Arbeitertruppen gegen die dortige Sicherheitspolizei kämpfte. Die Wanne Gruppe der bewaffneten Arbeiter kämpfte in Essen-Katernberg unter Führung des Maurers Peter Kujawka.

Einen Tag später verteilte der Wanner Aktionsausschuss ein Flugblatt mit folgendem Inhalt:

Der Gegner auf der ganzen Linie geschlagen.

Essen im Besitz der Proletarierarmee.

Die Polizeitruppen und Zeitfreiwilligen größtenteils gefangen.

Der Aktionsausschuß.

Bei dem „Sturm auf Essen“ starb ein Arbeiter und mehrere wurden verwundet.

Die Bewaffnung der Arbeiterschaft korrespondierte mit der Entwaffnung des Bürgertums. Die drei vereinigten sozialistischen Parteien erließen einen Aufruf, in dem die örtlichen Arbeiterräte zur Entwaffnung des Bürgertums aufgerufen wurden. Nach der Übernahme der politischen Macht im Ruhrgebiet durch die Arbeitertruppen kam es im Wanner Aktionsausschuss zu einer personellen Veränderung. Nicht mehr der Sozialdemokrat Brosius zeichnete sich verantwortlich für die Bekanntmachungen des Ausschusses, sondern der „Kommandierende“ der bewaffneten Wanner Arbeiterschaft, Peter Kujawka.

Am gleichen Tag ordnete der Aktionsausschuss an, dass die Gemeindeverwaltung ab sofort alle öffentlichen Bekanntmachungen vom Aktionsausschuss genehmigen lassen musste. Alle Bekanntmachungen waren mit folgenden Unterschriften zu versehen: für den Aktionsausschuss Peter Kujawka, für die Gemeindeverwaltung Amtmann Friedrich Weiberg. Die Bekanntmachungen der Polizei mussten von einem der Zivilkommissare gegengezeichnet werden: Turzinski, Stank oder Glänzer.

Die Niederlage der Roten Ruhrarmee und die Folgen in Wanne, Röhlinghausen und Eickel

Nach zehn Tagen Kampf waren die Regierungstruppen in allen Teilen Deutschlands Herr der Lage, aber nicht im Ruhrgebiet. Der Generalstreik gegen die Kapp-Lüttwitz-Putschisten war erfolgreich und die gewählte Reichsregierung war wieder in Amt und Würden. Das Problem der Freikorps mit ihrer reaktionären-monarchistischen Ausrichtung war aber für die Arbeiterschaft noch nicht gelöst. Sie blieben im Ruhrgebiet unter Waffen. Die von der Reichsregierung angebotenen Verhandlungen um diese Probleme im Interesse aller Beteiligten zu lösen, führte am 23. März 1920 zur Konferenz von Bielefeld. Die Vertreter der Roten Ruhr-Armee, der örtlichen Aktionsausschüsse und der Regierung setzten sich an einen Tisch.

Zunächst wurden die Bedingungen für einen Waffenstillstand ausgehandelt. Die Vertreter der Roten Ruhr-Armee verpflichteten sich dafür zu sorgen, dass sich die bewaffneten Arbeiter südlich der Lippe zurückziehen. Die Konferenz beschloss weiterhin, dass sich die Regierung verpflichtete, alle am Kapp-Lüttwitz-Putsch beteiligten Personen zu bestrafen, eine Verwaltungsreform und die Vergesellschaftung bestimmter Industriezweige durchzuführen.

Die Aktionsausschüsse sollten dafür sorgen, dass alle Arbeiter ihre Waffen niederlegen und an die Arbeit zurückkehren. Ein Einmarsch der Truppen im Dienst der Reichsregierung ins Ruhrgebiet sollte unterbleiben.

Die Vereinbarungen der Bielefelder Konferenz mit dem entsprechenden Abkommen führten zur Spaltung der sozialistischen Parteien. Auf die genauen Gründe kann hier nicht eingegangen werden, da sich dieser Vorgang als sehr kompliziert darstellt. Die bewaffneten Arbeiter, die vor Wesel lagen, fühlten sich in Bielefeld nicht vertreten und begannen wieder mit dem bewaffneten Kampf gegen die Truppen, die mit der schwarz-weiß-roten Fahne der Monarchie kämpften. Die Aktionsausschüsse im westlichen Ruhrgebiet und die Kampfleitung der Roten Armee in Mülheim lehnten das Bielefelder Abkommen ebenfalls ab. In der KPD gab es erhebliche Meinungsverschiedenheiten über die Beschlüsse der Bielefelder Konferenz.

Zwei Tage nach dem Wiederaufflammen der militärischen Kämpfe wurde eine Vollversammlung der Aktionsausschüsse des Ruhrgebietes nach Essen einberufen. Dort wurden 10 USPD-Mitglieder, 7 KPD-Mitglieder und 1 SPD-Mitglied in den sogenannten Zentralrat gewählt, der die zentrale Vertretung aller örtlichen Aktionsausschüsse darstellen sollte. Der Zentralrat beschloss die Einstellung der Kampfhandlungen und forderte die Reichsregierung zu erneuten Verhandlungen auf.

Die Reichsregierung ihrerseits antwortete mit einem Ultimatum: Die bewaffneten Arbeiter hätten sofort ihre Waffen niederzulegen. Der kommandierende General Freiherr von Watter verschärfte den Konflikt, indem er diesem regierungsamtlichen Ultimatum weitere Bedingungen hinzufügte, die für viele der bewaffneten Arbeiter nicht annehmbar waren. Die Arbeiterschaft im Ruhrgebiet reagierte mit am 29./30.März 1920 mit einem erneuten Generalstreik.

Zu diesem Zeitpunkt zeigte sich mit aller Deutlichkeit, inwieweit sich die bewaffneten Arbeiter in der Gemeinde Wanne radikalisiert hatten. Der überwiegende Teil der Arbeiter war ins linksradikale Lager hinübergeschwenkt. Das Bielefelder Abkommen mit der Niederlegung der Waffen wurde in Wanne nicht durchgeführt.

Kapp und Lüttwitz sind zurückgetreten, Repro Norbert Kozicki

Der Generalstreik aufgrund des Beschlusses des Essener Zentralrats wurde im den Gemeindegebieten von Wanne, Röhlinghausen und Eickel vollständig durchgeführt. Alle Zechenräder standen still. Infolge des Streiks sammelte sich vor dem Wanner Bahnhof eine große Menschenmenge, meistens Menschen, die schwerbepackt vom Lebensmittelhamstern aus dem Münsterland zurück nach Wanne kamen. Die Versorgungslage mit Lebensmitteln war extrem schlecht in jenen Tagen. Der normale Personennahverkehr erfolgte nicht mehr. Auf der Straßenbahnlinie 4, Wanne – Gelsenkirchen, patrouillierten Sonderwagen der Roten Armee, die auch mit Krankenschwestern besetzt waren.8

Am Mittwoch, dem 31. März 1920, wurde infolge eines Streiks der Eisenbahner die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln sehr kritisch. Konfliktträchtig wurde auch die Situation am Rathaus in Wanne, wo es zu Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Arbeitern und den Verwaltungsbeamten kam. Die Lokalpresse berichtete, dass an jenem Mittwoch die Rotarmisten das Wanner Rathaus besetzen wollten. Über die näheren Gründe wurden keine Angaben gemacht.

Gleichzeitig führten die bewaffneten Arbeiter die Entwaffnung der örtlichen Polizei durch und folgten einem weiteren Beschluss des Essener Zentralrates. An diesem Mittwoch erließ der Zentralrat einen letzten Aufruf zum Generalstreik, als die Verhandlungen zwischen den Vertretern der Aktionsausschüsse und den Vertretern der Reichsregierung in Münster wieder aufgenommen wurden.

Die bewaffneten Arbeiter in Wanne führten die Besetzung des Wanner Rathauses nicht aus, weil die Verwaltungsbeamten ihrerseits auch mit Streik drohten. Durch diese Konflikte wurde eine „mehr als gewöhnliche Erregung in die Bewohnerschaft getragen“, berichtete der Chronist in der Lokalpresse. Dazu kam, dass in den Abendstunden zahlreiche auswärtige bewaffnete Arbeitergruppen auf der Flucht vor den ins Ruhrgebiet einrückenden Regierungstruppen durch das Gemeindegebiet zogen. Die flüchtenden Arbeiter waren noch in Herten in gewalttätige Auseinandersetzungen mit Streikbrechern verwickelt, bevor sie Wanne erreichten. In Eickel kam es ebenfalls zu gewalttätigen Konflikten zwischen den bewaffneten Arbeitern der Roten Ruhr-Armee und den Streikbrechern, die den Generalstreik unterlaufen wollten. Diese Kämpfe dauerten bis zum nächsten Morgen.

Infolge der Vereinbarungen von Münster und der militärischen Besetzung des Ruhrgebietes durch die Regierungstruppen löste sich am 1. April 1920 der Wanner Aktionsausschuss auf. Es wurde ein neuer sogenannter Ordnungsausschuss gebildet, der den Generalstreik für beendet erklärte und zur Wiederaufnahme der Arbeit aufrief. Teilweise waren in diesem Ordnungsausschuss dieselben Personen aktiv, die vorher im Aktionsausschuss tätig waren.

Aufruf!

Der Aktionsausschuss hat sich aufgelöst.

An seine Stelle ist auf Grund des zwischen der Reichsregierung und der Arbeiterschaft getroffenen Bielefelder Abkommens ein Ordnungsausschuß getreten, der für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung sorgen wird.

Der Ordnungsausschuß setzt sich zusammen aus der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft, der Angestellten- und Beamtenschaft und den bisher im Aktionsausschuß vertretenen politischen Parteien. Er wirkt im Einvernehmen mit der Gemeindebehörde und der Amtsverwaltung bei der Durchführung des Sicherheitsdienstes mit.

Die Bevölkerung wird hiervon in Kenntnis gesetzt mit der Aufforderung, auch fernerhin Ruhe und Besonnenheit zu bewahren.

Die gemeinsam mit den Polizeimannschaften tätigen Sicherheitsmannschaften haben einen mit Amtssiegel versehenen besonderen Ausweis. Nur dadurch legitimierte Sicherheitsorgane sind zum Tragen von Waffen befugt. Ihren Anordnungen ist Folge zu leisten.

Der Ordnungsausschuß erklärt den Generalstreik für beendet und empfiehlt, die Arbeit sofort wieder aufzunehmen.

Wanne, den 1. April 1920

Für die Verwaltung:

Amtmann Weiberg, Beigeordnete Oberdrevermann, Gemeindevorstehen Kicinski

Für den provisorischen Ordnungsausschuß:

Peter, Faber, Grunenberg, Kaufmann, Gibson, Warda, Stank, Turzinsiki, Kujawka, Glänzer, Podello.“9

Nach dem Abschluss der Verhandlungen in Münster wurde der bewaffnete Kampf der betreffenden Arbeiter für beendet erklärt. In Wanne wurde das Münsteraner Abkommen zwangsläufig akzeptiert, da die Regierungstruppen vor den Toren der Gemeinde standen. Die Entwaffnung der Arbeiter wurde termingerecht durchgeführt. Am 2. April 1920 organisierte der neue Ordnungsausschuss den Löhnungsappell für die noch bewaffneten Arbeiter vor dem Rathaus. Anschließend bis 12 Uhr erfolgte die Abgabe der Waffen. Die Arbeiterwehr wurde in eine Ortswehr umgebildet, entsprechend dem Aufruf des Ordnungsausschusses.

Am Dienstag, dem 3. April 1920, besetzte die Regierungstruppe das Gemeindegebiet von Wanne. In Röhlinghausen marschierten die Regierungstruppen erst am 7. April ein, nachdem sich die bewaffneten Arbeiter über die Ruhr ins bergische Land zurückgezogen hatten. Die Vorzensur für die bürgerliche Presse wurde abgeschafft. Jetzt konnte wieder gegen die sozialistische Arbeiterschaft gehetzt werden. Die Mittwochsausgabe der „Wanner und Eickeler Zeitung“ benutzte wieder die alte Sprache und sprach nach dem reaktionären Kapp-Lüttwitz-Putsch „…vom Ende des roten Schreckens“.

Telegramm der Reichsregierung, Repro Norbert Kozicki

Die historischen Tatsachen sprechen eine andere Sprache. Mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch die Regierungstruppen begann der Leidensweg vieler Arbeiter, die gegen den reaktionären Kapp-Lüttwitz-Putsch gekämpft hatten: Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Untersuchungshaft, Verschleppungen, Morde und auch Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Verletzte Rotarmisten wurden sogar wie in Herne im Krankenhaus verhaftet und in die Schutzhaft überführt. Im Wanner Rathaus wurde ein Büro der Regierungstruppen eingerichtet. Dort führte ein Offizier Vernehmungen über angebliche Vergehen der bewaffneten Arbeiter durch. Der zuständige Militärbefehlshaber, Hauptmann Wilke, setzte den Arbeitern in den hiesigen Gemeindegebieten eine neue Frist bis zum 8. April 1920 für die Abgabe der Waffen. Diesem Ultimatum folgten die Arbeiter nur zögernd in der Ungewissheit über die weitere politische Entwicklung in Deutschland. Deshalb erfolgten weitere Aufrufe zur Waffenabgabe in Wanne. Obwohl eine große Menge an Waffen abgeliefert wurde, konnte Stadtinspektor Bernhard Brandt in seinen Memoiren berichten, verblieben immer noch Waffen bei den Wanner Arbeitern.

Aufgrund der abgelieferten Waffen lässt sich vermuten, dass mindestens 400 Mann die bewaffnete Arbeitertruppe in Wanne und Umgebung bildeten. Dazu kommen die Arbeiter aus dem Gemeindegebiet, die in Gelsenkirchen arbeiteten und dort mit der Roten Armee unterwegs waren.

Für die organisierte Arbeiterbewegung im Ruhrgebiet stellten die Ereignisse im März und April des Jahres 1920 eine große politische Niederlage dar: erst putschten Teile der neuen Reichswehr in Berlin, das für das Ruhrgebiet zuständige Generalkommando in Münster stellte sich demonstrativ nicht auf die Seite der gewählten verfassungsgemäßen Reichsregierung und dokumentierte so mindestens Sympathie für die Putschisten, die Arbeiter bewaffnen sich und kämpfen diese mit dem Putsch sympathisierenden Reichswehrtruppen nieder, um ein paar Tage später an die gleichen Truppen ihre Waffen abzugeben. Und nicht nur das. In jenen Tagen wurde der Begriff vom „Weißen Terror“ aus den Tagen der Französischen Revolution aktuell. Damit war die Siegerjustiz des Militärs gemeint.

Am 6. April 1920 erließ der Militärbefehlshaber für Wanne folgende Bekanntmachung:

Ich habe im Verein mit der bereits bestehenden Polizei und Einwohnerwehr den militärischen Sicherheitsdienst über den Amtsbezirk Wanne übernommen.

Um die Ruhe und Ordnung, welche bisher hier in erfreulicher Weise geherrscht hat, auch weiterhin zu gewährleisten, wird die Bevölkerung ersucht, etwa noch vorhandene Waffen und Munition bis Donnerstag, den 8. April, mittags 12 Uhr im Amtsgebäude, Polizeiwache, abzugeben.

Waffenabgabe bis zu diesem Zeitpunkt bleibt straffrei.

Personen, bei denen nach diesem Zeitpunkt noch Waffen und Munition gefunden werden, machen sich strafbar.

Wanne, den 6. April 1920

Der Militärbefehlshaber

Wilke, Hauptmann10

Norbert Kozicki

Nachwort

Als Nachwort möchte ich als Autor dieses Artikels den Historiker Hans Mommsen zitieren, der in einem Katalog zur Ausstellung „Bergarbeiter“ des Bergbau-Museums Bochum (November 1969 bis Februar 1970) folgendes zu einer Einschätzung der Gewaltfrage in jenen Tagen schrieb:

„Der Bürgerkrieg wurde von beiden Seiten mit Erbitterung geführt. Zweifellos wurden von putschistischen Gruppen der Roten Armee beispiellose Verbrechen verübt, die die Bevölkerung terrorisierten. Jedoch stand der Weiße Terror der Regierungstruppen jenem nichts nach, und er war politisch um so verhängnisvoller, als er gegen gemäßigte und zum Waffenstillstand ratende Arbeiter ebenso geübt wurde wie gegen die Ultralinken, von denen sich selbst die KPD-Führung distanzierte.“

Norbert Kozicki, 09. Oktober 2019

Anmerkungen

  1. Quelle: Lokalpresse ↩︎
  2. Carl Severing: 1919-1920 – Im Wetter- und Watterwinkel, Bielefeld, 1927, S. 145 ff. ↩︎
  3. Carl Severing, ebenda.) ↩︎
  4. Barmer Zeitung, 22.3.1920. ↩︎
  5. Wanner und Eickeler Zeitung vom 17.3.1920. ↩︎
  6. Stadtarchiv Herne, Bestand Wanne. ↩︎
  7. Volksstimme Hagen, 19.3.1920. ↩︎
  8. Westdeutscher Herold, 31.3.1920. ↩︎
  9. Lokalpresse vom 1. April 1920. ↩︎
  10. Lokalpresse ↩︎