Betrachtet man im Raum Recklinghausen, Castrop-Rauxel und Herne die Pest und ihre Folgen, so muss man mit Bedauern feststellen, dass es kaum publizierte historische Quellen gibt. Zumeist findet man nur oberflächliche Darstellungen in der Sekundärliteratur. Schwierig ist auch die Bewertung von Quellen, in denen nur von „Krankheit“ die Rede ist, wo man aber gelegentlich aus dem Kontext schließen kann, dass die Pest gemeint ist.
Das Pestjahr 1350
Das nach dem Stadtbrand vom 04. April 1500 neu angelegte Memorienbuch der Pfarrkirche St. Peter in Recklinghausen berichtet davon, dass um Fronleichnam des Jahres 1350 eine große Pestseuche in „parochia Ryclenchusen“ geherrscht haben soll. Das ist die früheste erhaltene Überlieferung des Ausbruchs dieser ansteckenden Krankheit.
Die Pest im 16. und 17. Jahrhundert
Historisch gesichert ist, dass man versuchte, in Städten und Dörfern Pestkranke zu isolieren und die Bevölkerung vor Menschen zu schützen, bei denen vermutet wurde, dass sie von außerhalb die Krankheit durch die Stadttore ins Ortsinnere mitbringen könnten. Die Stadttore wurden bei Bekanntwerden von Krankheits- und Verdachtsfällen in der Umgebung verschlossen gehalten. In Recklinghausen hat man 1527 den an der Pest erkrankten Johan Huysken „umme der pestilenten willen“ zum Loerhof gebracht, also in ein dünn besiedeltes Gebiet, in dem die Menschen von der Lohgerberei lebten. Er erhielt dafür laut städtischer Rentmeisterrechnung 2 Schillinge. Eine andere Recklinghäuser Rentmeisterrechnung von 1578 dokumentiert, dass ein Pestkranker gegen Zahlung einer Entschädigung von 6 Schillingen in den unbewohnten Emscherbruch weit südlich der Stadt abgeschoben wurde. Im gleichen Jahr hat man in diesem Gebiet für die aus der Stadt ausgewiesenen Pestverdächtigen eine Schutzhütte zimmern lassen. Weitere Beispiele für das erzwungene Verlassen der Stadt „der pesten halben“ sind 1578 der Fall der Frau von Steven Togeman und 1615 der des Heinrich Kluete.
Die vielfach in der Literatur wiederholte Nachricht, dass im Dorf Merklinde (heute Castrop-Rauxel) 1636 alle Einwohner der Epidemie zum Opfer gefallen sind, ist historisch nicht belegt. Bereits 1926 hat B. Stegmann-Sodingen diese Information als Sage bezichnet. Interessant ist ein Blick in die Recklinghäuser Rentmeisterrechnungen von 1555. Die Stadtrechnungen weisen eine größere Zahl, vermutlich von Pesttoten, aus, für die auf Kosten der Stadt Särge beschafft wurden. Berufsangaben geben nähere Auskünfte über die Opfer. Es wurden Särge für den Stadtboten und seine Frau, den Kuhhirten sowie den Sohn des Organisten angefertigt. Der Ankauf von Holz diente der Herstellung von Särgen für die arme Bevölkerung. Prominentes Opfer der Pest war 1555 der damalige Bürgermeister von Recklinghausen Johann Ophoeff. Er war aus nicht bekannten Gründen vom 19. April bis zu seinem Tod am 09. Juni in der Küche des Rathauses gefangen gehalten worden. Dort ist er an der Pest verstorben. Die Herstellungskosten des Sarges, das Einsargen und die Überführung zur Kirche durch die Stadtdiener und ihre Hilfskräfte verursachten nicht unerhebliche Kosten. Der Sarg mit der Leiche des Pestopfers wurde zur Vermeidung von Ansteckung mit Pech luftdicht verschlossen. Ein Angehöriger der adeligen Herner Familie von Strünkede, Johann Georg (geboren 1600), diente unter Herzog Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel, dem sogenannten Tollen Christian im Dreißigjährigen Krieg. Der Strünkeder wurde im ostfriesischen Jever 1623 Opfer der Pest. Die Mitgliedschaft Recklinghausens in der Hanse von etwa 1300 bis zu deren Auflösung 1669 könnte durch den Fernhandel ein Grund für den Ausbruch der Pest in der Stadt gewesen sein.
Aus Angst vor dem Tod durch die Pest flüchteten Menschen in die vermeintlich „pestfreie“ Nachbarschaft, um ihrer beruflichen Tätigkeit weiter nachgehen zu können. Recklinghausen liefert dafür Beispiele: 1555 geht Bürgermeister Rotger Molmann zunächst nach Oer (heute Stadt Oer-Erkenschwick). Aus Angst vor Kontakten mit dem potenziellen Pestüberträger, dem Recklinghäuser Stadtboten, zog er weiter zur Wasserburg Vogelsang bei Ahsen (heute Stadt Datteln). Ob dort seine Furcht vor Ansteckung durch den Kontakt mit dem Stadtboten geringer war, ist nicht bekannt. Bürgermeister Hegger fühlte sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor der Ansteckungsgefahr in Suderwich (heute Stadt Recklinghausen) sicherer und führte von dort die Amtsgeschäfte als Bürgermeister. Und auch der Richter des Hohen Gerichts zu Recklinghausen, Lizentiat Johann Averdunck, verrichtete seinen Dienst lieber im pestsicheren Suderwich. Rentmeister Johann Stucke glaubte, dass ihn die Pest in Speckhorn (heute Stadt Recklinghausen) nicht erreichen könne. Die Flucht vor der Pest hat sicherlich die Erledigung der Amtsgeschäfte wesentlich erschwert und verzögert.
Die große Not der Bevölkerung durch den in Europa wütenden Dreißigjährigen Krieg wurde durch die Pestepidemie 1635/1636 noch gesteigert. Neben der Errichtung von Pestkreuzen im Dorf Rauxel, in Frohlinde und in Obercastrop (heute Stadt Castrop-Rauxel) wurden jährlich Bittprozessionen veranstaltet. Von 1637, also direkt nach dem Ende dieser Pestepidemie, stammt ein sogenanntes Bokengelübde. Inhaltlich schriftlich wiedergegeben im sogenannten Obercastroper Bokenbuch von 1732 mit einer Abschrift der Stiftungsurkunde. Das Original ist leider verschollen. Das Versprechen beinhaltet, dass alljährlich am Sonntag nach dem 16. August, dem Fest zu Ehren des Heiligen Rochus, Predigt, Gebet sowie Spenden von Roggen, Brot, Butter, Eiern oder Geld gegeben und an die Armen verteilt werden.
Der Zweck des Bokenbuches war die Buchhaltung über die Stiftungsgelder. Die ursprüngliche Stiftungssumme betrug 52 Reichstaler, die durch die Freigiebigkeit künftiger Generationen weiter vermehrt werden sollte, auf dass die „Armen St. Rochi“ als Empfänger der daraus angeschafften Almosen besser versorgt werden würden. Bis 1770 hatte sich das Kapital auf etwa 625 Reichstaler erhöht, das jährliche Zinsen von 31 Reichstalern abwarf. Im Jahr 1824 bricht die Dokumentation der Zahlungseingänge ab, es folgen tabellarische Verzeichnisse mit Namen der Schuldner und der zu entrichtenden Beiträge.
Die Boken-Tradition in Obercastrop (heutige Pfarrgemeinde St. Elisabeth), Frohlinde und im Dorf Rauxel wird bis heute gepflegt.
Die häufig noch zu lesende „Übersetzung“ von Boken als plattdeutscher Begriff für Pocken ist falsch. Vielmehr steht der Begriff Boken (auch Bouken, Bauken oder Bocken) für eine räumliche und/oder personelle Organisationseinheit rechtlicher Natur. Solche Organisationseinheiten sind aus den vorchristlichen Malstätten hervorgegangen. Die Malstätten beziehungsweise Boken waren Orte, an denen die Dorfgemeinschaften an einem Stein unter einer Buche oder Linde1 zusammenkamen, um ihre Angelegenheiten zu regeln.
Im Dorf Börnig gelobten die Bewohner, ein Kreuz zu errichten und jährlich eine Bittprozession zum Gedächtnistag des Heiligen Urbanus am 25. Mai im Eschfeld durchzuführen. Noch bis 1923 war dieser Erinnerungsort Station bei der jährlichen Fronleichnamsprozession. In Börnig gab es seit Jahrhunderten eine sogenannte Urbanus-Bruderschaft, die half, Not zu lindern. Zur Erinnerung an das Pestjahr 1636 wurde unter einer gewaltigen Linde, Urbanus-Linde genannt und möglicherweise der Börniger Versammlungsort, das versprochene Kreuz errichtet.
Zum 09. April 1900 erfolgte die Abpfarrung und kanonische Errichtung der Pfarrei „Börnig-Sodingen“ (mit Gysenberg). Bis dahin gehörte Börnig zur katholischen Kirchengemeinde St. Lambert in Castrop. Da die ursprüngliche sogenannte Urbanuslinde eingegangen ist, wurde sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ersetzt. Das hölzerne Pestkreuz, auch Urbanus-Kreuz genannt, in unmittelbarer Nähe musste mehrmals erneuert werden, zuletzt 1926. Nach Abbau, Einlagerung im Emschertal-Museum und konservatorischen Maßnahmen wurde es am 25. Mai 1984 wieder aufgestellt.
In der Literatur findet man sehr häufig Zahlenangaben zu Opfern. Diese muss man wohl in vielen Fällen mit einer gewissen Skepsis betrachten, da die Seuche überall eine Ausnahmesituation hervorgerufen hat, in der es der Bevölkerung vor allem darum ging, die Epidemie in den Griff zu bekommen. Merklinde ist dafür nur ein Beispiel. Statistik zu führen, war verständlicherweise das Letzte, was den Menschen in den Sinn kam. Die Nennung von Opfernamen wie 1555 in Recklinghausen bleibt daher eher eine Ausnahme. Anonym werden die Toten zumeist der großen Gruppe „Arme“ zuzuordnen sein. Unbestritten ist die deutliche Dezimierung der hiesigen Bevölkerung durch die Pest.
Manfred Hildebrandt, überarbeitet und ergänzt von Jürgen Hagen
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Literatur
- Keller, Norbert/Schumacher, Thomas: Gottesdienst, Gemeindefest und soziale Verpflichtung. Dreihundertfünfzig Jahre Boken-Gelübde in Obercastrop, Rauxel, Frohlinde und Börnig. In: Kultur und Heimat (Castrop-Rauxel) 38. Jg., Nr. 1/2, 1987, S. 4-10.
- Kneppe, Cornelia/Schrader, Mark: Recklinghausen – ein Schwerpunkt der mittelalterlichen Lohgerberei. In: Archäologie in Westfalen-Lippe 2012, 121ff.
- Mummenhoff, Wilhelm: Zu Geschichte der Pest in Recklinghausen. In: Alt-Recklinghausen. Zweimonatsschrift zur Geschichte und Volkskunde der Stadt und des Festes Recklinghausen, Jg. 6, Nr. 1. 1925, Sp. 4-6.
- Pennings, Heinrich: Geschichte der Stadt Recklinghausen und ihrer Umgebung. Band 1 Recklinghausen 1930, Band 2. Recklinghausen 1936.
- Pest im Ruhrgebiet. Seuchen und Krankheiten im 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zum Jubiläum „350 Jahre Westfälischer Frieden“. Stadt Herne, Der Oberbürgermeister. Das Emschertal-Museum, Band 56,1998.
- Manfred Hildebrandt: „…bey den spätesten Nachkommen in beständig gutem Andenken zu erhalten…“-Denkmäler in Herne und Wanne-Eickel, In: Der Emscherbrücher Band 14 (2008/09), Seiten 71 und 72, herausgegeben von der Gesellschaft für Heimatkunde Wanne-Eickel e. V., Herne 2008.
- Walter Schott: „Die Pest in Castrop“, In: Kultur und Heimat, Heimatblätter für Castrop-Rauxel und Umgebung. Herausgegeben vom Ortsverein Castrop-Rauxel des Westfälischen Heimatbundes, 50. Jahrgang, 1999, Seiten 133 und 134.
- B. Stegmann-Sodingen: „Die Pest in unserer Heimat“, In: Heimatblätter für Castrop und Umgebung. Monatsschrift des Vereins Heimatpflege. 5. Jahrgang, Nr. 7, Juli 1926, Seiten 99ff. und Nr. 8, August 1926, Seiten 123ff.
- Alexander Berner: „Die Pest in Castrop und das ‚Obercastroper Bokenbuch'“, In: Kultur und Heimat, Herausgegeben vom Verein zur Förderung von Kultur und Heimat in Castrop-Rauxel e. V., 71. Jahrgang, 2020, Seiten 133ff.
Anmerkung
- Eine gute Erklärung zu den früheren Dorflinden findet sich unter: Treffpunkt Dorflinde. Letzter Zugriff: 01.03.2023. ↩︎