Vom Dorf über den Bergbau zurück zur Natur
Bekannt ist der Name Sodingen bereits seit dem 11. Jahrhundert. Das geht aus dem Heberegister der Benediktinerabtei zu Werden hervor, in dem von einem Höfner in Sothinke die Rede ist. Professor Dr. Franz Darpe, einstens Gymnasialdirektor in Coeln, schrieb um 1906 in seiner Geschichte des Landkreises Bochum, der inzwischen untergegangene Rittersitz Sodingen habe auf der Höhe nordöstlich von Schulzenhofe gelegen und sei 1313 im Besitz des Adam von Sodingen gewesen. Jedoch schon im 16. Jahrhundert starb die Familie von Sodingen aus, und ihr Besitz ging über an Walter von Loe (1556 bis 1589), der auch Herr zu Dorneburg war.
Aber auch in der Familie von Loe blieb der Besitz nicht allzu lange. Schon 1632 wird das Gut als „ein Sattelgut, den Erben Dalwik zu Herbede zu Knippenburg gehörig“ verzeichnet. Wenige Jahre darauf geht der Sodinger Besitz an Konrad von Strünkede über und wird von diesem mit Strünkede selbst vereint. Dabei blieb es bis 1786. In diesem Jahr wird als neue Besitzerin des Sodinger Gutes die Freifrau von Düngelen zur Wiesche genannt.
Eine Deutung des Namens Sodingen – dasselbe gilt auch für Gysenberg – ist umstritten. Die Schreibweise beider Namen taucht in alten Urkunden in den verschiedensten Formen auf, und eine eingehende sprachwissenschaftliche Betrachtung wäre für den historischen Alltagsbedarf sowohl zu lang als auch zu langweilig.
Der Name Gysenberg erscheint zum ersten Mal 1217 in Fahnes Wappengeschichte. Nach der Westfälischen Geschichte des Dietrich von Steinen war Gysenberg „ein Rittersitz, eine Stunde Weges von Castrop und eine halbe Stunde von Herne, an der Schmedebecke gelegen.“
Andere alte Überlieferungen berichten von einer Wasserburg, deren Gräfte von dem Wasser der Schmedebecke (Ostbach) gespeist wurde. Der Letzte der Familie von Gysenberg, der Hildesheimer Domherr Adolf Arnold Robert (1651 bis 1725), lebte auf Haus Henrichenburg, das den Gysenbergern seit 1480 gehörte. Nach dem Tod des Domherren fiel das Gut Gysenberg 1725 durch Erbschaft an die Grafen von Westerhold. Diese ließen es durch Rentmeister verwalten. Noch bis zum Ankauf des Gutes 1927 durch die Stadt Herne gab es eine Renteiverwaltung; sie lag in den Händen der Familie Galland.
Übrigens war Gysenberg über Jahrhunderte hinweg eine selbständige politische Gemeinde. Erst in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, 1844, wurde sie mit Sodingen zu einer Gemeinde zusammengefasst.
Aus ihrer ländlich beschaulichen Ruhe wurden Sodingen und Gysenberg später als andere Gemeinden in der Nachbarschaft gerissen, denn erst im Jahr 1875 nahm der erste in Sodingen abgeteufte Bergbauschacht, Schacht 1 der Zeche Mont Cenis die Kohleförderung auf – um auch gleich die erste schwere Krise zu erleben: denn seit der Jahreswende 1873/74 war auch in Deutschland einem Zusammenbruch der Aktienkurse eine allgemeine Wirtschafts-Depression gefolgt. Die Aufträge blieben aus, Neugründungen brachen serienweise zusammen, die Betriebsschließungen überstürzten sich. Um 1885 etwa wurde der niedrigste Stand der Kohlen- und Eisenpreise erreicht.
Insgesamt vergingen nach dem Beginn der Krise runde 20 Jahre, bis ihre Auswirkungen überwunden waren. Auch Mont Cenis in Sodingen gehörte zu den vielen Zechen im Reviers, die sich nur mühsam über Wasser hielten während dieser Krisenjahre. Unter anderem deshalb konnte erst 1897 der neue Schacht 2 in Betrieb genommen werden, der zur Entlastung von Schacht 1 unbedingt nötig war.
Politisch gehörte die Gemeinde Sodingen mit Börnig und Holthausen bis zum 01. April 1902 zum damaligen Amt Castrop. Von diesem Zeitpunkt an bildeten die drei Gemeinden einen eigenen Amtsbezirk, dessen Gesicht fast ausschließlich vom Bergbau geprägt war. Die typischen Zechenkolonien, die damals rund um Mont Cenis entstanden, zeugen noch heute davon. An der Thorner-, Eupener-, Händel-, Wilhelm-Busch- und Uhlandstraße,1 um nur einige zu nennen, wuchsen sie flotter als Pilze aus der Erde; schön sind sie nicht, und sie waren es auch nie, aber es ließ sich darin wohnen.
Nach der Jahrhundertwende, im Jahre 1906, wurde auch der öffentliche Personennahverkehr ausgebaut. Die Emschertalbahn, mit einem Bahnhof in Börnig, wurde durch die Straßenbahnlinie Herne-Sodingen ergänzt. Vier Jahre später, 1910, kam dann auch die Fortführung dieser Linie nach Castrop zustande.
Erwähnt zu werden verdient aus dieser Zeit vor allem der Amtmann Max Wiethoff, der wegen seiner unbürokratischen Entschlussfreudigkeit auch bei der Bevölkerung in Sodingen sehr beliebt war. Er war es, der es fertigbrachte, den Beimberg mit seinem alten Buchenbestand zu einem Volkspark mit Aussichtsturm umgestalten zu lassen. Bei schönem Wetter kann der Besucher noch heute von dort aus bis weit in die Haardt hineinsehen.
Wie überall sonst unterbrach auch in Sodingen der Erste Weltkrieg die bauliche Entwicklung, und erst im Jahre 1919 bis 1923 kam der Wohnungsbau wieder auf die Beine – um dann erneut liegen zu bleiben, weil gerade wieder mal Krisenzeit war. Und weil die französische Besatzung (1923/24) der Entwicklung des Ortes auch nicht gerade dienlich war.
Aber die Franzosen alleine waren es gar nicht. Die drohende Eingemeindung – es war gerade die zweite Neuordnungswelle dieses Jahrhunderts in Gang gekommen – bremste alleine schon das Entwicklungstempo in Sodingen und in den anderen Gemeinden des Amtes. Umstritten war zunächst lediglich, wer von den größeren Nachbarn Sodingen eingemeinden werde: Herne oder Castrop. Herne machte das Rennen: am 1. April 1928 wurde die Eingemeindung vollzogen. Der Grundstein zur Entwicklung der späteren Großstadt Herne war gelegt.
Ein halbes Jahr zuvor schon, im September 1927, war der Gysenberger Wald in das Eigentum der Stadt Herne übergegangen, und im April 1928, genau zum Zeitpunkt der Eingemeindung Sodingens nach Herne, öffnete die Stadt Herne den Gysenberger Wald der erholungsbedürftigen Bevölkerung als öffentlichen Park.
Zum Gut Gysenberg gehörten damals noch zwei Mühlen, eine Kornmühle, die heute als Fachwerkhaus gegenüber den Teichen erhalten ist, und die schon vor langer Zeit abgerissene Ölmühle, die früher einmal am östlichen Ufer des Ostbaches in Höhe des Forsthauses gestanden hat.
Eine besondere Attraktion erhielt der Gysenberger Wald im Jahre 1934: ein Tierpark wurde eingerichtet. Leider verfielen die Tiergehege und fast sämtliche Gebäude des Tierparkes während des Zweiten Weltkrieges, nachdem sie zuvor unter vielen Opfern und Mühe erstellt worden waren. Erst nach dem Krieg, 1951, konnte die Stadt Herne mit dem Aufbau eines neuen, des heutigen Tierparkes beginnen.
Über die Grenzen des Reviers hinaus wurde Sodingen in den 1950er Jahren bekannt: durch die Fußballmannschaft des SV Sodingen. Ballartisten wie Adamik. Harpers, Cieslarczik und Sawitzki machten den Herner Ortsteil Sodingen zu einem Begriff in der Fußballwelt. Wer heute von Sodingen und vom Gysenberg spricht, denkt aber wohl weniger an den Fußball als an den beeindruckenden Freizeit- und Erholungspark mit seinen Attraktionen wie Eissporthalle, Wellenbad, Aktivarium und Freizeithaus; der Revierpark Gysenberg ist heute eines der meistbesuchten Freizeitzentren im gesamten Ruhrgebiet.
Wer sich ein Bild über die Entwicklung des heutigen Herner Stadtteils Constantin machen will, der muss auf die Landschaftsgeschichte, die Geschichte der Herner Mark und auf die Entstehungsgeschichte der Bergarbeiterkolonie dort eingehen. Bereits vor dem 16. Jahrhundert gab es in der Gegend in und um Constantin neben Privat- und Lehnsbesitz auch Gemeinschaftsbesitzungen. Die größte und wertvollste war ohne jeden Zweifel die Herner Mark, die zum Teil auch den Hiltropern gehörte. Es handelte sich um ein großes, mit Eichen und Buchen bestandenes Waldgebiet zwischen dem Gysenberg und Hiltrop. Der immer noch vorhandene Constantiner Busch und der Düngelbruch sind klägliche Reste davon. Genutzt wurde die Herner Mark von den Bauern aber weniger zur Holzgewinnung als für die Schweinemast. Die reichlich anfallenden Eicheln waren nämlich ein vorzügliches und begehrtes Schweinefutter.
Im Übrigen waren die Nutzungsregeln, nach denen die Markgenossen aus Herne und Hiltrop ihren Wald nutzten, im sogenannten Markenbuch haargenau beschrieben und festgelegt. Das Ende der Herner Mark als eines gemeinsamen genossenschaftlichen Besitzes kam mit Friedrich dem Großen, König von Preußen. Er hatte ihm Jahre 1765 durch das sogenannte Teilungs-Edikt die Möglichkeit geschaffen, Gemeinschaftsbesitz aufzuteilen, und die Markgenossen in Herne und Hiltrop machten bald Gebrauch davon.
Mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam auch für den heute Constantin genannten Ortsteil eine Strukturwende. Bis dahin hatten jahrhundertelang die Bauern traditionsgemäß ihre Äcker bestellt, aber damit hatte es innerhalb weniger Jahrzehnte dann ein Ende. Der Einbruch des Industriezeitalters in den landwirtschaftlichen Charakter der Region hatte auch in dieser Herner Gegend endgültig begonnen.
Der größte Teil des Constantiner Busches fiel im Jahre 1893 den Zechengründungen zum Opfer. Hier zum Beispiel wurde der Constantinschacht 4 niedergebracht, und ab 1895 schließlich wurde hier die erste Kohle gefördert, zugleich Schacht 5 abgeteuft. Mit dem Zeitpunkt ihrer Inbetriebnahme brauchte die Zeche Constantin 4/5 natürlich mehr Arbeitskräfte, als in der näheren Umgebung aufzutreiben waren.So mussten Arbeiter in anderen Gegenden Deutschlands und auch im Ausland angeworben werden. Für die Zechenleitung bestanden die Schwierigkeiten weniger darin, ausländische oder ostdeutsche Arbeiter anzuwerben, als darin, ihnen und ihren nachrückenden Familien ausreichend Wohnraum zu beschaffen. Unter diesem akuten Druck wurde die Kolonie Constantin ab 1897 förmlich aus dem Boden gestampft. Und immer neue Straßen wurden angehängt, immer neue Häuser vom selben eintönigen architektonischen Schnitt aufgereiht.
Abgerundet wurde die Kolonie 1902 durch den Bau eines großen Schulgebäudes zwischen Hermann- und Kronenstraße. Die Doppelschule war so groß, dass sie sogar noch die hochgelegene Kolonie überragte. Weithin sichtbar kündete sie vom neuen Constantin. Später, 1908, kam die Waldschule, ein Kleinkindergarten, an der Wiescherstraße hinzu.
Unübersehbare und unvergeßliche Verdienste für das soziale Gefüge der neuen, künstlich aufgeblähten Ortsteile wie Constantin kommen dem damaligen Generaldirektor der Gewerkschaft Constantin, Hermann Pieper, wie auch seinem viel zu früh verstorbenen Sohn und Nachfolger zu. Sie errichteten die ersten evangelischen und katholischen Kleinkinderschulen, sie organisierten Nähschulen für Bergarbeiterfrauen, Krankenpflegedienste in den Kolonien, und Hermann Pieper war es auch, der hinter der Waldschule ein großes Waldgrundstück aufkaufte, und es zu einem Arbeiterpark ausbauen ließ. Alles aus Mitteln der Gewerkschaft Constantin. Heute erinnern an die Piepers in Herne-Constantin die Namen zweier parallel verlaufender Koloniestraßen, nämlich die Hermann- und die Pieperstraße.
Wie Sodingen wurde schließlich auch Constantin durch eine Straßenbahnlinie mit dem Herner Stadtkern verbunden. Am 21. Oktober 1908 fuhr zum ersten Mal eine Straßenbahn vom Kirchplatz in Herne bis zur Kolonie; sie wurde später bis Gerthe durchgeführt. Im Ersten Weltkrieg diente diese Straßenbahnlinie aber nicht nur der Personen- sondern auch der Kohlenbeförderung. In Constantin 4/5 wurden die Kohlen aus einem Verladebunker über eine Holzbrücke aufgeladen und dann über die Wiescherstraße bis zur Bismarckhütte in Weitmar geschafft.
Wahrzeichen der Kolonie Constantin war jahrzehntelang der Wetterschacht 11 an der Ecke Mühlhauser/Gysenbergstraße. Mehr noch als die Doppelschule kennzeichnete er diesen Herner Ortsteil. 1964, haargenau 50 Jahre nach seiner Errichtung, wurde er wieder abgebrochen. Lebendiges Constantiner Denkmal ist die an der Mühlhauserstraße liegende Gastwirtschaft Voss am Gysenberg. Die heutigen Besitzer sind Nachkommen der letzten bäuerlichen Eigentümer dieses Anwesens.
Mitte der 1920er Jahre übernahm die Stadt Herne von der Arbeiterwohlfahrt das Licht- und Luftbad zwischen Wiescherstraße und Landwehrweg, um es zu einer Tagesheilstätte auszubauen. Der erweiterte gesamte Bau hatte im Endausbau einen U-förmigen Grundriß und war mit Planschbecken, Liegehallen sowie Spielplätzen für Kinder ausgestattet; im Zweiten Weltkrieg wurde diese Heilstätte so stark beschädigt, daß sich ihr Wiederaufbau zunächst nicht mehr lohnte.
Ebenfalls während des Zweiten Weltkrieges wurde zwischen Constantin und Mont Cenis eine Zechenverbindungsbahn angelegt, wegen der Zechenstillegungen später aber wieder abgebrochen und 1972 zu einem Wanderweg ausgebaut. Im Gegensatz zu weiten Teilen des übrigen Herne hatte Constantin nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst große Kriegsschäden zu beseitigen. Die eigentliche Neubautätigkeit setzte erst nach der Währungsreform ein, aufgelockerte moderne Wohnviertel entstanden. Bei dieser Gelegenheit sollte auch die neue katholische Kirche St. Conrad an der Kronenstraße nicht vergessen werden, deren Konsekration in das Jahr 1955 fiel.
Zur selben Zeit setzte im Bergbau des Ruhrreviers das große Zechensterben ein, und es macht auch vor der Schachtanlage im Constantiner Busch nicht halt. Am 22. August 1955 wurde der Förderbetrieb eingestellt, die einseitig auf den Bergbau ausgerichtete Wirtschaftsstruktur in Constantin brach zusammen, die meisten Erwerbstätigen unter den Bürgern in diesem Ortsteil kamen um ihren Arbeitsplatz.
Die Constantinschächte wurden 1967 und 1968 zugeschüttet und ihre Fördertürme mitsamt den Übertageanlagen wurden abgebrochen. Längst steht auch jene riesige Doppelschule zwischen Hermannstraße und Kronenstraße nicht mehr (sie wurde in den Monaten Mai/Juni 1973 abgebrochen). So erinnert an die Bergbauvergangenheit, an das explosive Wachstum des Ortes um die Jahrhundertwende nur noch das typische Bil der Koloniehäuser mit den Ställen im Hof.
Günther Schulz2
Anmerkungen
- Zu den Straßennamen empfiehlt sich ein Blick in unser Digitalisat Stadtgeschichte im Spiegel der Straßennamen. ↩︎
- Der Verfasser des Textes, Günther Schulz, betreute zusammen mit dem Archivar Dietrich Hildebrand das Alt-Herner Stadtarchiv. Von 1977 bis 1979 war er kommissarischer Leiter des „neuen“ Herner Stadtarchivs. Das Amt übernahm er von Rudolf Zienius. ↩︎