125 Jahre Stadt Herne

In der bekannten „Westfälischen Geschichte“ des Johann Diederich von Steinen, verlegt in Lemgo 1757, findet sich folgender Hinweis: „Herne ist ein weitläufig aus 116 Häusern bestehendes und einem Flecken ähnliches Kirchdorf, in der Herrschaft Strünkede, an der Landstraße, die von Dortmund über den Krang nach Holland führet, anderthalb Stunde von Bochum und eben so weit von Castrop gelegen. Die Gegend umher ist sehr fruchtbar und angenehm.“

Herne hieß ursprünglich Haranni und bedeutet Hanglage oberhalb der Emscher. Im Jahr 881 wird Herne erstmals im Heberegister des Klosters Werden bei Essen erwähnt. Die Westfälische Gemeindeordnung von 1844 ließ das Amt Herne entstehen.

Bürgermeisterei Herne, 1823, ab 1844 Amt Herne, Repro Stadtarchiv Herne

Nach der Bürgerlichen Revolution von 1848 liberalisierte die Preußische Regierung die Gesetzgebung, sodass die Unternehmer mit dem industriellen Abbau des schwarzen Goldes im Ruhrgebiet beginnen konnten. Der Bochumer Kaufmann Endemann erkannte die Zeichen der Zeit und sicherte sich im Herner Raum die Bergbaurechte. Doch die notwendigen Investitionen zum Abbau der Kohle überstiegen seine finanziellen Möglichkeiten.

Im Sommer des Jahres 1854 entstiegen zwei gutgekleidete Herren dem Zug im Herner Bahnhof. Sie riefen nach einer Droschke und ließen sich über die Bahnhofstraße bis in den Dorfkern an der Dionysiuskirche bringen. Von dort ging es nach Westen den Herne-Eickeler Communalweg entlang, bis der Kutscher in der Nähe des Hofes von Bauer Sengenhoff halten musste. Die beiden Männer stiegen ab. Als der Bochumer Holzhändler Endemann hinzukam, wurde dem Kutscher klar, dass es um Kohle ging, um viel Kohle. Einer der beiden Ausländer: der Ire William Thomas Mulvany, der auf dem Acker von Bauer Sengenhoff 1856 den ersten Schacht in Herne abteufen ließ. Innerhalb von 40 Jahren entwickelte sich das Dorf Herne zur selbstständigen Stadt. Als die Zeche Shamrock 1860 die Kohleförderung aufnahm, wohnten gerade 2 800 Menschen im Amt Herne. 1880 waren es bereits 8400, 1890 fast 14 000 Einwohner. 1897 erhielt Herne die Stadtrechte unter Bürgermeister Hermann Schaefer. Die neue Stadt zählte bereits 22 633 Einwohner, d.h. innerhalb von 40 Jahren stieg die Anzahl der Bevölkerung um das Achtfache.

Hof Sengenhoff und Shamrock, Dorf trifft Industrie, Foto Stadtarchiv Herne
Hof Sengenhoff und Shamrock, Dorf trifft Industrie, Foto Stadtarchiv Herne

Die Zeche Shamrock förderte als erste Herner Schachtanlage 1860 die erste Kohle zu Tage. Im Jahr 1858 lebten in Herne 357 Bergarbeiter, 1908 waren es bereits 20 000 Bergarbeiter.

Im Jahr 1867 ergriff eine belgische Bergwerksgesellschaft die Initiative zum Abteufen der Zeche Barillon in den Ortsteilen Baukau und Holsterhausen, die nach der Übernahme durch die Harpener Bergbau AG im Jahr 1889 in Julia umgetauft wurde. 

Im Jahr 1864 erhielt die Zeche Von der Heydt ihren ersten Schacht. Zunächst hieß die Zeche „Providence“, ebenfalls im Besitz der belgischen Bergwerksgesellschaft. Im Jahr 1889 wurde diese Zeche ebenfalls von der Harpener Bergbau AG übernommen und in „Von der Heydt“ umbenannt.

Die Zeche Friedrich der Große war die erste Zeche in Herne, die nicht mit ausländischem Kapital gegründet wurde. Im Jahr 1870 gründeten die Industriellen Friedrich Grillo und August von Waldthausen die Steinkohlengewerkschaft Friedrich der Große. Schacht I/II wurden 1870 in Horsthausen niedergebracht. 1907 folgte Schacht III/IV weiter ostwärts in Börnig.

Im Juli 1872 erteilte die Bergbehörde die Bestätigung des Gewerkschaftsstatut für die neue Zeche Mont Cenis in Sodingen. Sie entstand auf dem vom Bauer Schulte-Alstede erworbenen Gelände. Die Felder wurden von dem Bochumer Unternehmerpionier Wilhelm Endemann erforscht, der seine Besitzrechte an den Bergingenieur Joseph Monin aus Marseille und den Rentner Franz-August Viviers aus Lyon verkaufte.

Zeche Mont Cenis, 1971, Foto Bildarchiv Herne
Zeche Mont Cenis, Schächte 1 und 3, 1971, Foto Bildarchiv Herne

In Holthausen wurde 1907 der Schacht der Zeche Teutoburgia abgeteuft. Der Betrieb wurde 1911 aufgenommen. Die dazugehörige Bergarbeitersiedlung gehört zu den Musteranlagen des Reviers und zieht bis heute viele Besucher aus dem In- und Ausland an. Viele alte Zechennamen blieben im Revier erhalten und zeugen von der Initiative von irisch-englischen Kapitalgebern und von belgisch-französischen Beteiligungen beim industriellen Ausbau des Reviers. Einer der heimischen Pioniere war der Bochumer Wilhelm Endemann, der im Herner Raum viele Bohrungen durchführte, in großer Tiefe die Kohlenfelder entdeckte und an andere verkaufte.

Neben den Gründungen der Zechen entwickelte sich im Herner Raum schnell eine Maschinenindustrie, die die technischen Voraussetzungen für den Steinkohlenbergbau schaffte. Den Anfang machte 1869 die Firma Viktor Halstrick mit der Herstellung von Gruben- und Kokswagen. Die Firma Berninghaus stellte u.a. Dampfkessel her, die Firma Geßmann Drahtseile. 1883 wurde die Maschinenfabrik Baum gegründet, die sich durch ihre Aufbereitungsanlagen für Kohle und durch die Produktion von Transportanlagen einen internationalen Ruf erwarb. Die Namen Beien, Herner Herdfabrik, Dorn und Flottmann mit ihren Gesteinsbohrmaschinen und Presslufthämmern stehen für diese weiter Entwicklung. Diese im Raum Herne angesiedelten Fabriken waren größtenteils in Familienbesitz und benötigten gut ausgebildete Facharbeiter. Es entstand ein sehr großer Bedarf an Arbeitskräften, der dazu führte, dass die Städte der Emscherzone entscheidend durch die Ostzuwanderung aus Schlesien, West- und Ostpreußen geprägt wurden. Einige Zechen wurden in der Emscherzone des Ruhrgebiets als sogenannte „Polen-Zechen“ bezeichnet.

Werbeanzeige der Maschinenfabrik Baum AG, um 1920, Repro Stadtarchiv Herne
Werbeanzeige der Maschinenfabrik Baum AG, um 1920, Repro Stadtarchiv Herne

Einen lebendigen Eindruck von den Verhältnissen in der Zeit vor der Stadtwerdung Hernes, von den Schwierigkeiten, die mit der Entwicklung zur Stadt verbunden waren, gewinnt man aus den Schilderungen des ab 1897 ersten Oberbürgermeisters der Stadt Herne, Hermann Schaefer:

„Als ich 1879 nach Herne kam, gewann ich bald die Überzeugung, daß die Gemeinde einem bedeutenden Aufschwung entgegengeführt werden könne, wenn es gelingen würde, ihr Grundgebiet zu erweitern und die auseinanderstrebenden Faktoren zu gemeinsamen Handeln zu vereinigen. Unter diesen Faktoren verstehe ich die damalige alteingesessene Bevölkerung, an ihrer Spitze die Landwirtschaft, und zweitens die Industrie. Beide standen sich argwöhnisch gegenüber. Die Alteingesessenen betrachten die Industrie – Beamte wie Arbeiter – gewissermaßen als Eindringlinge, die durch Schulen, Wegebau und Armenlasten höhere Steuern verursachten. Sie sahen aber nicht die Vorteile, die der Geldstrom der Industrie für alle Gemeinde-Insassen mit sich führte … Die Kommunalwahlen standen damals unter der Parole: hier Dorf, dort Zeche. Es hat vieler Jahre bedurft, den für die Entwickelung des Gemeinwesens notwendigen Ausgleich zu schaffen.“

Bekanntmachung Verleihung der Städte-Ordnung für Herne, 9. Oktober 1896, Repro Stadtarchiv Herne

Am 1. April 1897 wurde die Gemeinde Herne durch die Einführung der neuen Städte-Ordnung zur Stadt erklärt. Am 9. Oktober 1896 verfügte der Regierungs-Präsident von Arnsberg, „daß die bisherige Landgemeinde Herne in Folge dessen aus dem Amtsverbande gleichen Namens ausscheidet, sowie daß die städtische Verfassung mit dem 1. April k. Js. in Kraft tritt.“

Von den 21.000 Einwohnern zum Zeitpunkt der Stadtwerdung waren 7.700 Arbeiter und Beamte auf den Zechen und in den Fabriken beschäftigt.

Der neue Oberbürgermeister verhandelte vor der Stadtwerdung mit den Vertretern der Gemeinden Baukau und Horsthausen über einen sofortigen Anschluss an Herne. Doch die Vertreter der Industrie an beiden Orten verhinderten diesen Plan von Hermann Schaefer. Erst elf Jahre später, am 1. April 1908 traten die Gemeinden Baukau und Horsthausen der neuen Stadt Herne bei, wodurch die Einwohnerzahl auf 57.000 anstieg, davon rund 58 Prozent Katholiken und 41 Prozent Protestanten sowie 0,6 Prozent Juden.

Bis 1912 diente ein altes Schulgebäude an der Mont-Cenis-Straße zu Unterbringung der städtischen Verwaltung. Am Nikolaustag, dem 6. Dezember 1912, wurde das neue repräsentative Rathaus der Stadt Herne eingeweiht.

Rathaus mit Zeche Shamrock im Hintergrund, Postkarte, gelaufen 1929, Foto Stadtarchiv Herne

Im weiteren Verlauf der Stadtgeschichte von Herne erlebten die Menschen alle großen historischen Ereignisse zum Beginn des neuen Jahrhunderts: 1914 den Beginn des Ersten Weltkriegs mit der anfänglichen großen Begeisterung für den Krieg gegen Frankreich, die sich spätestens im sogenannten Steckrüben-Winter 1916/1917 legte, 1918 die Novemberrevolution mit der Einführung der parlamentarischen Demokratie und der Spanischen Grippe-Pandemie sowie Hungerunruhen als Kriegsfolgen, 1920 Kapp-Lüttwitz-Putsch mit den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Ruhrgebiet unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes in fast ganz Deutschland.

In Herne als eine zentrale Stadt im größten deutschen Industriebezirk trugen die Berg- und Metallarbeiter die Hauptlast der wirtschaftlichen und finanziellen Folgen des für Deutschland verloren gegangenen Ersten Weltkriegs. Aufgrund der enormen Arbeitsbelastungen und der schlechten Arbeitsbedingungen auf den Zechen kam es zu vielen Unglücken unter Tage. In den Jahren 1918 bis 1920 verloren rund 2.000 Bergleute ihr Leben.

Am 2. Juli 1921 vermerkte das Stenographische Protokoll des Deutschen Reichstags die Rede des Reichsarbeitsministers Dr. Heinrich Brauns: „Meine Damen und Herren! Die traurige Kunde von dem Unglück auf der Zeche Mont Cenis hat unser gesamtes deutsches Volk aufs Tiefste erschüttert. Wir sind in den letzten Jahren zwar an Leid und Tod gewöhnt, und der Bergbau hat auch sonst zahlreiche Opfer gefordert, aber so unerwartet mitten in friedlicher Arbeit über 80 blühende Menschenleben auf dem Felde der Arbeit fallen zu sehen, das ist doch eine furchtbare, eine erschütternde Katastrophe.“ An diesem Tag gedachten die Abgeordneten des Deutschen Reichstags in Berlin über das schwerste Grubenunglück im Jahr 1921 mit 85 Toten auf der Zeche Mont Cenis. Die „Bergarbeiterzeitung“, Zeitschrift des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands, titelte in der vierzehntägig erscheinenden Zeitung „Schon wieder ein Massengrab“. Ursache für die Katastrophe war eine schwere Gas- und Kohlenstaubexplosion infolge massiver Verstöße gegen die Arbeitsschutzbestimmungen der damaligen Zeit.

Bergarbeiterzeitung, Organ des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands, Repro Norbert Kozicki

Die nächste Etappe von Herne auf dem Weg zur Großstadt sollte die kommunale Eingliederung des Amtes Sodingen werden. Das Amt Sodingen wurde am 01. April 1902 aus den Gemeinden Börnig, Holthausen und Giesenberg-Sodingen (ab 13.05.1913 nur noch „Sodingen“) gebildet und am 01. April 1928 nach Herne eingemeindet. Die Eingemeindung, der erhebliche regionalpolitische Auseinandersetzungen mit  dem Amt Castrop vorausgingen, bedeutete einen Zuwachs von 23.543 Einwohnern, sodass Herne mit 95.730 Einwohnern unmittelbar an die Grenze einer Großstadt rückte. Diese Eingemeindung beendete die jahrelangen politischen Diskussionen über das „Gesetz über die Neuregelung der kommunalen Grenzen im rheinisch-westfälischen Industriebezirk“ vom 26. Februar 1926.

Im Vorfeld dieser Entscheidung berichtete der Chronist der „Herner Zeitung“ vom 2. Oktober 1925 über eine Versammlung im Stadtverordneten-Sitzungssaal des Herner Rathaus mit den Vertretern der politischen Parteien aller Richtungen (von der KPD, über die SPD bis zur DNVP), der Industrie (alle Zechengesellschaften), des Handels und des Gewerbes, der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, der Behörden, der Beamtenschaft und anderer Berufsstände (Lehrerschaft der Stadt Herne). Während der Versammlung wurde „ein flammender Protest gegen die Art und Weise erhoben, wie die Eingemeindungsfragen in dem diesseitigen Teil des rheinisch-westfälischen Industriegebietes geregelt werden sollte. Vor allem richtete sich dieser Protest gegen alle Versuche, den Flächeninhalt des als Mittelstadt am dichtesten besiedelten Stadtkreises Herne zu Gunsten benachbarter Städte ohne Grund zu verkleinern.“ Zur „Vermählung der Stadt Herne mit den Gemeinden des Amtes Sodingen“ publizierte die Stadtverwaltung eine originell gestaltete Festschrift, in der mit viel Humor die Probleme einer Eingemeindung angesprochen wurden. U.a. liest man im Jahr 1928 die Überschrift „Herne bekommt eine Akademie“. Das sollte aber erst 71 Jahre später Wirklichkeit werden.

Das nächste wichtige Datum für die weitere Entwicklung der Stadt Herne und der gesamten Welt bildete der 25. Oktober 1929 mit dem Zusammenbruch der Aktienkurse an der New Yorker Börse mit dem Beginn der weltweiten Wirtschaftskrise. Das Ruhrgebiet mit seinen Hauptwirtschaftszweigen Bergbau und Eisenindustrie wurde besonders betroffen. Auch in Herne ging die Produktion dramatisch zurück mit einem enormen Anstieg der Anzahl von erwerbslosen Menschen. 1932 auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise waren mehr als die Hälfte der Herner Bergarbeiter arbeitslos. 55 Prozent aller berufstätigen Herner Bürger verdienten vor dem Beginn der Krise ihren Lebensunterhalt im Bergbau. Die Folgen wurden auch auf der Herner Bahnhofsstraße mit dem Einzelhandel sichtbar. Im Zeitraum 1930 bis 1932 kam es in Herne zu 99 Konkursen und 46 Vergleichsverfahren. Zeitweise brach das soziale Unterstützungssystem für die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger zusammen.

Es war die Zeit der politischen Radikalisierung mit einem Zulauf zur NSDAP, die aber bei den Wahlen in Herne im Juli 1932 mit 22,6 Prozent weit unter dem reichsweiten Durchschnitt von 37,4 Prozent lag. Nachdem der Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler einer von der NSDAP geführten konservativ nationalen Koalition berufen hatten, gingen die Nationalsozialisten sofort mit Terrormaßnahmen gegen ihre politischen Gegner vor. Außerdem wurden die Menschen der jüdischen Glaubensgemeinschaft schnell zu einer besonderen Zielgruppe des völkischen Rassenwahns, des Terrors und der Gewalt. Auf dem Herner Rathaus wehte ab sofort für 12 Jahre die Hakenkreuzfahne. Am 17. Juni 1933 brannten dann die Bücher aus dem Bereich des „undeutschen Schrifttums auf dem Scheiterhaufen“ auf dem Platz vor dem Rathaus. Am 9. November 1938 brannte dann die Synagoge an der Schaeferstraße bis auf die Grundmauern nieder. Nach den Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte und Firmen begannen bald die Eisenbahntransporte nach Osten in die Vernichtungslager zu rollen.

Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 mussten viele deutsche Arbeiter zur Front. Ab 1940 gehörten Tausende von Zwangsarbeitern zum täglichen Erscheinungsbild von Herne. Kaum ein Betrieb in Herne hatte während des Zweiten Weltkriegs auf den Einsatz von ausländischen Zwangsarbeitern verzichtet. Am 2. und 3. Juni 1940: englische Bomberpiloten flogen den ersten Angriff auf Herne. Durch neun Sprengbomben entstand aber nur geringer Sachschaden. Beim nächsten Bombenangriff vom 17. auf den 18. Juni starben zwei Menschen. Erklärtes Ziel der Piloten waren Industrieanlagen. Am 31. März 1945 zeichneten sich die Vorboten vom Ende des „1000jährigen Reiches“ ab: Die deutsche Wehrmacht sprengte die Brücken über dem Rhein-Herne-Kanal und der Emscher. Herne wurde unmittelbares Kampfgebiet. Am 9. April 1945 endete für die Bewohner von Herne der Zweite Weltkrieg: Die Wehrmacht, Polizei und NSDAP-Funktionäre räumten die Stadt. Einen Tag später besetzten alliierte Truppen Herne kampflos. Die schreckliche Bilanz nach Kriegsende: Insgesamt 64 Bombenangriffe auf Herne und 419 Tote.

Die britische Besatzungsmacht von Herne sicherte sogleich die Fortführung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und stellte die notwendige städtische Verwaltung her. Nach eigenen Vorprüfungen setzte die Kommandantur den früheren Bürgermeister Meyerhoff als Ersten Bürgermeister ein und als Zweiten Bürgermeister Karl Hölkeskamp, einen bekannten Sozialdemokraten. Nach und nach wurden die demokratischen Parteien nach dem sogenannten Entnazifizierungsverfahren wieder zu gelassen. Am 13. Oktober 1946 fand die erste Kommunalwahl statt, mit dem Ergebnis: CDU 19 Sitze, SPD 14 Sitze, KPD 2 Sitze, FDP 1 Sitz.

Kurt Edelhagen mit seinem Orchester am 13.05.1972 in der Eissporthalle im Rahmen der Herner 75-Jahr-Feier, Foto Stadtarchiv Herne

In der Nachkriegszeit wurde Herne „die goldene Stadt“ genannt. Die Innenstadt mit der Bahnhofsstraße war von Zerstörungen durch Bombenangriffe weitgehend verschont geblieben. Die Menschen aus allen umliegenden Städten kamen, um hier einzukaufen, zu flanieren und sich zu amüsieren. Das ehemalige „Central Cafe“ auf der von Fliegerbomben verschonten Bahnhofsstraße war von den britischen Besatzungstruppen besetzt und hieß in jenen Tagen „Battle Axe Club“. Nur britische Soldaten hatten Zutritt zu diesem Club. Am 11. Juni 1945 wurde eine der ersten Jazzbands nach 1945 in Deutschland aus der Taufe gehoben. Der Herner Junge Kurt Edelhagen gastierte mit seiner Combo im britischen Club. Honorar: ein belegtes Brötchen. Zu Beginn der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts begann die beispiellose Karriere des Herner Jungen in der internationalen Musikszene bis zu „Europas Bandleader Nr.1“.

Das „Honorar“ von Kurt Edelhagen verweist auf das größte Nachkriegsproblem neben dem akuten Wohnraummangel. Die monatlichen Berichte der Stadt Herne an die Militärregierung in den Jahren 1946/47 vermitteln ein bedrückendes Bild der Mangelsituation an Lebensmitteln in der Stadt. Die Brotversorgung in Herne war völlig unzulänglich. Es mangelte an Zucker, Fett, Fleisch und Kartoffeln. Die Bergleute erhielten über ein Punktesystem Sonderzuteilungen. Trotzdem gab es viele „Feierschichten“, weil die Bergarbeiter auf dem Schwarzen Markt für sich und ihre Familien Lebensmittel beschaffen mussten. Die Neueröffnung einer italienischen Eisdiele im Sommer 1949 markierte den Beginn des Zuzugs von ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter ins Ruhrgebiet und nach Herne. Nachdem es immer schwieriger wurde, in Italien z.B. Arbeitskräfte anzuwerben, verlagerte sich der Schwerpunkt der Anwerbung in die Türkei. Das Wirtschaftswunder konnte unter diesen Bedingungen Fahrt aufnehmen.

In Schwung kamen während der fünfziger Jahre auch die Herner Fußballvereine Westfalia Herne und SV Sodingen. „Der SV Sodingen ist der einzige deutsche Verein, der mit englischer Härte spielt“, diagnostizierte der Weltmeister-Trainer der deutschen Nationalmannschaft Sepp Herberger. Der SV Sodingen spielte in der Endrundenqualifikation um die „Deutsche“ mit. Die Mannschaft aus dem Bergarbeiter-Stadtteil demonstrierte auf dem Platz, was auch „auf´m Pütt“ zählte: Kraft, Ausdauer, Zähigkeit und kompromisslose Härte gegen sich selbst und andere. 1959 wurde Westfalia Herne Westmeister und galt als Mitfavorit für die Endrunde um die Deutsche Fußballmeisterschaft. Die fußballverrückte Stadt Herne erlebte mit ihrer Westfalia eine jener Geschichten, die das Leben nur selten schreibt: den Aufstieg vom unbedeutenden Kellerkind zum Westmeister. Die Herner setzten sich gegen die etablierten Fußball-Dynastien des Westens wie Schalke, Dortmund und Köln durch.

Trotz dieser sportlichen Erfolge verbreitete sich ab 1958 in Herne Krisenstimmung. Bis 1964 schlossen im Ruhrgebiet und in weiteren Kohlerevieren über 27 Zechen für immer ihre Pforten mit dem Verlust von über 50.000 Arbeitsplätzen.  Im Oktober 1964 veröffentliche der sogenannte Rationalisierungsverband, der mit dem Ziel der Gesundschrumpfung der deutschen Steinkohlenwirtschaft gegründet wurde, seine legendäre Stilllegungsliste mit insgesamt 30 Zechen. Auch im Raum Herne standen etliche Zechen zur Stilllegung an. Hochmoderne, mit Millionenaufwand neu eingerichtete Schachtanlagen wie „Graf Bismarck“ in Gelsenkirchen ließen die Besitzer über die Klinge springen, denn die Abkassierung der horrenden Stilllegungsprämie war in vielen Fällen profitabler als die Förderung des schwarzen Goldes. Die Kohle verlor in jenen Tagen den Konkurrenzkampf gegen das billige Öl. Alle Protestaktionen und -märsche der Bergarbeiter nutzten letztlich nichts: 1978 verabschiedete sich mit der Schließung der Verbundanlage Friedrich der Große/Mont Cenis der Bergbau für immer aus dem Stadtgebiet von Herne.  In Herne mussten neue Perspektiven für die weitere Stadtentwicklung gefunden werden.

Im Oktober 1965 hob sich der Vorhang zu einem „politischen Stufentheater“, wie der Alt-Oberstadtdirektor Ostendorf von Herne den Beginn einer jahrelangen Debatte über die kommunale Neugliederung des Ruhrgebiets nannte.  Nach endlosen Diskussionen, vielen Emotionen und so manchem Streit gründeten die Stadtväter und -mütter von Herne und Wanne-Eickel zum 1. Januar 1975 die neue Stadt Herne und verhinderten so die von einigen politischen Kräften geplante Eingemeindung beider Städte nach Bochum. Versuche, die neue gemeinsame Großstadt mit rund 190.000 Einwohnern zum Beispiel Emschertal oder Crange zu nennen, verliefen erfolglos. Der Vertrag für die Städteehe beinhaltete eine „bipolare Entwicklung beider Stadtzentren“, sollte wohl heißen, gleichberechtigte Entwicklung der alten Stadtkerne. Die übergroße Mehrheit der Wanne-Eickeler sieht das mit Sicherheit heute etwas anders.

Nach der Schließung der letzten fördernden Zeche im Revier im Jahr 2018 wurde vielen Menschen schmerzlich bewusst, dass eine Epoche endgültig zu Ende gegangen ist. Das Ruhrgebiet und die Stadt Herne im Zentrum des Reviers standen für den Aufbruch und den Abbruch des fossilen Kapitalismus. Nichtsdestotrotz schreiben die politisch Verantwortlichen in Herne eine neue respektable Erfolgsgeschichte der unausweichlichen Veränderung. Die im Rahmen der Eingemeindung des Amtes Sodingen im Jahr 1928 gemachte Vorhersage, Herne bekommt eine Akademie, wurde im Jahr 1999 Wirklichkeit. Aus den Orten des Bergbaus und der Metallindustrie wurden Orte der „Produktion“ von Kunst (Künstlerzeche Unser-Fritz /Zeche Teutoburgia) und Orte der Sozio- und Veranstaltungskultur (Flottmann-Hallen).

IBA-Projekt Fortbildungsakademie Mont-Cenis Sodingen: Auf dem ehemaligen Zechengelände wird seit 1999 nicht mehr körperlich, sondern geistig malocht. Foto Gesa Hagen

Auch die Ansiedlung des Westfälischen Landesmuseums für Archäologie steht stellvertretend für diesen gesamten Prozess der Neuausrichtung von Herne. Wer hätte jemals gedacht, dass sich im ehemaligen Bergarbeiter-Stadtteil Röhlinghausen eine Fachhochschule für Verwaltung des Landes NRW ansiedelt. Das neueste Projekt in Herne wird ein biotechnologisches Kompetenzzentrum für Zukunftsforschung werden, wobei die enge Kooperation mit der Ruhr-Universität Bochum weiterentwickelt wird. Im Vordergrund wird u.a. das Thema Wasserstoff stehen, und damit wären wir wieder beim Thema „Energieträger“. Die Bergbau-Pioniere des 19. Jahrhunderts Thomas Mulvany und Hans Endemann hätten ihre Freude an dieser Weiterentwicklung. Eines wussten beide: die Menschen müssen immer mitgenommen werden.

„Vivat hoch, Du neu Haranni, o wie herrlich liegst Du da,

Du bist uns so lieb´, so teuer, Vivat hoch Harannia!“ (Karl Kühn, 1977)  

Norbert Kozicki

Quellen:

Johann Diederich von Steinen: Westphälische Geschichte, Lemgo, 1757

Amtsblatt der Königlich Preußischen Regierung zu Arnsberg, 1897

Johannes Decker: Heimatbuch der Stadt Herne, Herne, 1927

Hermann Schaefer: Die Geschichte von Herne, Herne, 1912

Stadt Herne: Bericht über die Entwicklung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten der Stadt Herne vom 1. April 1897 bis 1. April 1922

Tageszeitung „Herner Anzeiger“, Jahrgang 1922

Denkschrift zur Vereinigung des Amtes Sodingen mit der Stadt Herne, Herne, 1928

Festschrift zur Vermählung der Stadt Herne mit den Gemeinden des Amtes Sodingen, Herne, 1928

Eingemeindungsvertrag zwischen den zum Amte Sodingen gehörenden Gemeinden und der Stadt Herne, 1926

Adolf Schmidt: Herne – Beiträge zur Stadtgeschichte, Herne, 1967

Frank Braßel/ Michael Clarke/ Cornelia Objartel-Balliet: „Nichts ist so schön wie…“- Geschichte und Geschichten aus Herne und Wanne-Eickel, Essen, 1991

Stenografische Protokolle des Deutschen Reichstags, 1921

Bergarbeiterzeitung des Alten Verbandes

Digitales Geschichtsbuch Herne und Wanne-Eickel, https://herne-damals-heute.de/