Stadtwerdung von Wanne-Eickel

Unser Ziel sei: In der Stadt Wanne-Eickel soll sich jeder wohlfühlen

„Wenn ich als jetzt Unbeteiligter und aus der Ferne die Verhältnisse, wie sie geworden sind, überschaue, so will es mich bedünken, daß bei einer etwaigen Aufteilung des Landkreises Gelsenkirchen die Eingemeindung mindestens des östlich der Dorstener Straße belegenen Teils von Holsterhausen nach Herne in beiderseitigem Interesse liegt. Es handelt sich hier um eine Wiedervereinigung zusammengehöriger und noch nicht lange getrennter Gemeinden. Daß bezüglich einer Wiedervereinigung von Wanne und Eickel mit Herne in irgend einer Form jüngst geschwebt haben, ersah ich aus den Zeitungen. Ich meine, man sollte allerseits, unter Hintansetzung zu überwindender Bedenken, zur Vereinigung schreiten.“

Die Bürgermeisterei Herne, 1823, Repro Stadtarchiv Herne

So brachte Hermann Schaefer, Amtmann, Bürgermeister und Oberbürgermeister von Herne, 1922 eine Hoffnung zum Ausdruck, die sich erst viel später erfüllen sollte. Gleichzeitig weisen seine Gedanken auf ein Pokerspiel in den rheinisch-westfälischen Landkreisen hin, welches bereits ab Anfang 1900 begonnen wurde und das in der ersten kommunalen Gebietsreform von 1926 bis 1929 seinen Abschluss fand. Mit den notwendige „Anpassungen“ des rheinisch-westfälischen Industriegebietes sollte eine „Beruhigung der kommunalen Grenzen“ einhergehen. Ein Ergebnis dieser Gebietsreform war die Bildung der Stadt Wanne-Eickel aus den ehemals selbstständigen Ämtern Wanne und Eickel. Am 1. April 1926 wurde die Ehe geschlossen, und fast hätte Goldhochzeit gefeiert werden können.
Wie kam es aber zu diesem Zusammenschluss? War es eine Liebes- oder eher eine Vernunfthochzeit? Arrangierte man sich oder wurde Zwang ausgeübt? Nachfolgender Text geht den Bemühungen um die Verleihung der Stadtrechte seit Beginn des 20. Jahrhunderts nach. Zum besseren Verständnis der damaligen Situation erscheint ein Blick in die Zeit zwischen 1875 und 1900 hilfreich.

Die Vorgeschichte 1875 – 1900

Bis zum 1. August 1875 gehörten die fünf Gemeinden, die die spätere Stadt Wanne-Eickel bilden sollten, zum alten Amt Herne. Dieses Amt wurde 1875 in das neue Amt Herne mit den Gemeinden Herne, Baukau, Horsthausen, Hiltrop, Bladenhorst und Pöppinghausen und das Amt Wanne, bestehend aus den Gemeinden Bickern, Crange, Röhlinghausen, Eickel und Holsterhausen, geteilt. Das neugegründete Amt Wanne verblieb einstweilen im Kreis Bochum, der nach dem Ausscheiden der Stadt Bochum ein Jahr später den (Rest-)Landkreis Bochum bildete. Seit 1885 wurde das Amt Wanne dann dem neugebildeten Kreis Gelsenkirchen und nach der Einrichtung eines Stadtkreises Gelsenkirchen 1896 dem gleichnamigen Landkreis zugeordnet.

Fünf Jahre zuvor – 1891 – waren die Gemeinden Eickel und Holsterhausen aus dem Amt Wanne ausgeschieden und zum neuen Amt Eickel vereinigt worden. Diese Veränderungen historisch überkommener Zusammenhänge konnten wirtschaftliche, soziale und kulturelle Beziehungen der eng aneinandergrenzenden Gemeinden Wanne und Eickel nicht auflösen, da die sich zusehends verwischenden kommunalen Grenzen kaum noch erkennbar waren, je stärker sich die Bebauung verdichtete.

Altes Amtshaus Wanne, Repro Stadtarchiv Herne
Das alte Amtshaus Wanne, Repro Stadtarchiv Herne

1875 wohnten im Amtsbezirk Wanne 4.990 Menschen. In den folgenden Jahrzehnten verzeichnete man eine deutliche Bevölkerungszunahme. 1918 hatte das Amt 55.077 Einwohner. Die Gemeinden Eickel und Holsterhausen brachten es 1890 auf 12.000 Einwohner, das Amt Eickel hatte 1918 36.222 Einwohner. Bis in die 1890er Jahre erklärt sich die Bevölkerungszunahme in den Gemeinden vorwiegend durch verstärkte Zuwanderung aus den Provinzen Posen, Ost- und Westpreußen sowie aus Österreich-Ungarn, Holland und Italien. Grund für diese Bevölkerungsentwicklung war die 1856 einsetzende Industrialisierung. Der Kohlenbergbau hielt Einzug und löste die bis Mitte des 19. Jahrhunderts dominierende Landwirtschaft als Haupterwerbszweig mehr und mehr ab.

Stärker als diese Entwicklung beeinflusste in Wanne die Eisenbahn den Aufschwung. 1847 wurde die Teilstrecke Oberhausen-Herne-Hamm der Köln-Mindener Eisenbahn in Betrieb genommen. Zu dieser Zeit rollten die Züge noch an den unbedeutenden Landgemeinden vorbei. 1856 bekam die Zechenverwaltung Pluto die Genehmigung zur Errichtung eines kleineren Güterbahnhofs. 1871 profitierte man schließlich vom Bau eines Abzweigs der Köln-Mindener Strecke nach Recklinghausen-Münster-Bremen-Hamburg. 1872 wurde der Bau eines neuen Personenbahnhofs abgeschlossen, der bald zum bedeutenden Knotenpunkt aufstieg. Bis 1895 verdichtete sich das Steckennetz in einer Weise, dass insgesamt neun Eisenbahnstrecken in Wanne zusammenliefen. Weil Güterumschlag und Personenverkehr an diesem wichtigen Verkehrsknoten beachtliche Zahlen schrieben, entwickelte sich der Bahnhof Wanne zu einem verkehrsgeografischen Mittelpunkt.

Alter Bahnhof, um 1910, Foto Stadtarchiv Herne
Der alte Wanner Bahnhof um 1910, Foto Stadtarchiv Herne

Die Bebauung im Amt folgte ganz den Vorgaben der Industrieansiedlungen. Abseits der historischen Dorfkerne entstanden erste Wohnkolonien, zunächst ohne nennenswerte Bindung zur ortsansässigen Bevölkerung. Diese systemlose Streuung mit dazwischenliegenden landwirtschaftlichen Nutzflächen prägte – wie in der Mehrzahl der Industriegemeinden des Emschertales – auch das äußere Erscheinungsbild Wannes. Mit der Eröffnung des Bahnhofs verdichtete sich die Bebauung mit zumeist dreigeschossigen Häusern entlang der von Norden und Süden dem Bahnhof zuführenden Straße, der heutigen Hauptstraße. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts kam es hier zu einer Konzentration von Gewerbe und zu Ansätzen geschlossener Bauweise, auch in einigen Nebenstraßen

Sehr stark bestimmte die Interessenpolitik der im Gemeinderat vertretenen Grundbesitzer die Bodennutzung. Aus dieser Politik resultierte jene unorganisch gewachsene Siedlungswucherung, die von Schienenwegen kreuz und quer durchschnitten wurde. 1897 erhielt Wanne zwar einen Bebauungsplan, der aber mangelhaft in der Qualität und ohne politische Durchschlagskraft kaum System in die Entwicklung brachte. Von einem Zeitgenossen lakonisch auf die Formel gebracht: „Ein merkwürdig nüchternes Aussehen haben unsere Gemeinden behalten. Leute, die zum Vergnügen in unseren Gemeinden und auch im Industriegebiet wohnen, gibt es wohl nicht.“

Insgesamt kennzeichnete auch die überaus angespannte Finanzlage die innere Entwicklung aller Gemeinden der Amtsbezirke bis weit in die 1920er Jahre hinein. Die Notwendigkeit, den überwiegenden Teil des Haushaltsbudgets über Steuern aufbringen zu müssen, erhob die Steuerpolitik zur alles bewegenden politischen Frage in den Industriedörfern. Eine Reform der Grundsteuer war jedoch in keiner der Gemeindeversammlungen bis 1920 durchsetzbar. Bis dahin erfolgte ihre Erhebung nach den Grundsätzen der staatlichen Veranlagung aufgrund eines Gesetzes von 1861, das nicht den Wert, sondern den Ertrag von Grundstücken für die Besteuerung vorsah. Dies hatte zur Folge, dass Grundstücke in bester Verkehrslage und damit von hohem Wert, die aber nur geringen Ertrag abwarfen, vom Staat unbelastet blieben und damit den Gemeinden keine Einkünfte brachten.

Auswege schien die besondere Entwicklung des ehemaligen Industriedorfes Gelsenkirchen aufzuzeigen, das, erst 1875 zur Stadt erhoben, 1903 eine erhebliche Gebietserweiterung vornahm. Die Gelsenkirchener Vorgehensweise der Schaffung eines leistungsfähigen Gemeinwesens basierte auf einem Zusammenschluss der sieben beteiligten Körperschaften zu einer Großstadt durch vertragliche Auflösung der ehemaligen politischen Grenzen.

Die Stadtrechtskampagne von 1902 bis 1914

An das Gelsenkirchener Modell konnte die Wanne-Eickeler Zusammenschlussdiskussion anknüpfen, zumal die Problemlage in diesem Gebiet gewisse Parallelen aufwies, wenn auch Größenordnung und lokale Verhältnisse nicht genau dem Gelsenkirchener Vorbild entsprachen. Es mehrten sich die Stimmen, das Gelsenkirchener Modell als Blaupause für eigene kommunale Neugliederungpläne in die politische Diskussion einzubringen. Dabei wurden seit 1902 in Wanne und Eickel drei verschiedene Varianten zur Schaffung eines leistungsfähigen Gemeinwesens diskutiert:

  1. die Vereinigung der Ämter Wanne und Eickel bei gleichzeitiger Erhebung zur Stadt,
  2. die Möglichkeit einer getrennten Stadterhebung der Hauptgemeinden Wanne und Eickel,
  3. die Auflösung der Amtsverbände und Eingemeindung in die benachbarten Großstädte Gelsenkirchen und/oder Bochum bzw. Herne.

Es folgte eine von unterschiedlichen Interessenslagen bestimmte Flut von Debatten zu den favorisierten Varianten, die gut 25 Jahre dauern sollten.

Der Westdeutsche Herold eröffnete die Diskussion am 22. Januar 1903. Die Zeitung druckte einen Artikel, den sie der Rheinisch-Westfälischen Zeitung in Essen entnahm, in dem es hieß: „In der Gegend von Wanne und Eickel ist in den letzten Jahren eine derartige Entwicklung vor sich gegangen, welche eine Zusammenlegung dringend wünschenswert macht. Die Gemeinden Wanne, Crange, Röhlinghausen, Eickel und Holsterhausen zählen zusammen 58.340 Seelen auf 2.147 Hektar Fläche, das ergibt eine Bevölkerungsdichte von 27 Personen je Hektar. Die Art der Bebauung und die ganzen wirtschaftlichen Verhältnisse lassen nur eine größere Stadt erkennen. In richtiger Würdigung des Interesses haben die Gemeinden in voriger Woche die gemeinschaftliche Errichtung eines Realgymnasiums beschlossen. Andere dringende Aufgaben, die nur gemeinschaftlich gelöst werden können, stehen bevor. Ein größeres Amtsgericht wäre für diesen vollständig arrondierten Bezirk sehr am Platze. […] Die Bildung einer großen Stadt Wanne wird um so dringender, je mehr sich Gelsenkirchen und Herne entwickeln.“

Das Realgymnasium für Eickel und Wanne in den 1920er Jahren, Foto Stadtarchiv Herne

Die weitere Chronologie der Wanne-Eickeler Stadtrechtskampagne sah wie folgt aus: Im April 1904 formulierte der Haus- und Grundbesitzerverein in Wanne einen Antrag an den Gemeinderat, auf der Grundlage einer Vereinigung mit Eickel die Stadtrechte anzustreben. Ein halbes Jahr später setzten sich die Gemeinderatsmitglieder mit diesem Antrag auseinander, ohne jedoch einen Beschluss zu fassen, da sich die Mehrheit für einen Aufschub der Angelegenheit aussprach. So kam es, dass die kurz aufflackernde Begeisterung für dieses Projekt vier Jahre ruhte, bis im Mai 1908, diesmal vom Allgemeinen Bürgerverein ausgehend, die Stadtrechtsfrage wieder thematisiert wurde.

Obwohl die daraufhin eingerichtete Gemeinderatskommission ein negatives Votum des Gelsenkirchener Landrates erhielt, fasste noch im gleichen Jahr nun auch der Gemeinderat in Eickel den eindeutigen Beschluss, in die Vereinigungsverhandlungen mit der Nachbargemeinde einzutreten. Ende 1908 kam es dann zu Konsultationen unter Vorsitz des Landrates mit einem Vertragsentwurf als Ergebnis, der die Vereinigung der Gemeinden der Ämter Wanne und Eickel vorsah. Doch dieser Entwurf reichte nicht aus, um Konsensfähigkeit herzustellen. Das Kompromisspapier konnte die Verhandlungen nicht zu einem für alle Seiten befriedigenden Abschluss bringen.

Wieder einmal war eine Ruhepause angesagt, die Kommission vertagte sich und traf erst im August 1909 wieder zusammen, auch diesmal unter Vorsitz des Gelsenkirchener Landrates. Erneut äußerte man den grundsätzlichen Wunsch eines Zusammengehens, nunmehr wurde die Beantragung der Stadtrechte für das neu zu schaffende Gemeinwesen als gemeinsamer Wille betont. Doch wieder brachte die Kommission kein greifbares Ergebnis zustande: Man vertagte sich einmal mehr auf unabsehbare Zeit mit dem Beschluss, die „weitere Entwicklung abwarten“ zu wollen. Ein im November 1909 formulierter Antrag des Kaufmännischen Vereins und des Vereins der Haus- und Grundbesitzer zu Wanne, gerichtet an den Regierungspräsidenten in Arnsberg und an den Kreistag zu Gelsenkirchen, hatte keine Chancen.

Im März 1910 ergriff dann erneut der Gemeinderat in Wanne die Initiative und beschloss ein neues Vereinigungs- und Stadterhebungsprojekt, das zwei weitere Gemeinden der Umgebung, nämlich Hordel und Günnigfeld, mit einbezog. Wiederum trafen sich die Gemeindebeauftragten am Verhandlungstisch und formulierten einen Vertragsentwurf. Als die Auseinandersetzungen in der Sache zum wiederholten Male keine Einigung brachten, war auch dieses neue Projekt gescheitert. So sehr sich die Bürgerinitiative um die Herstellung von Öffentlichkeit bemühte, so gering erschienen die Aussichten auf Erfolg. Daran änderte auch ein weiterer Vorstoß der inzwischen vereinigten wirtschaftlichen Vereine von Wanne und Eickel nichts: Eingaben für ein neues Stadtprojekt Wanne, Eickel und Röhlinghausen gelangten als Vorlage nicht über den Schreibtisch des Landrats hinaus, bis schließlich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs andere Problemlagen schuf und jegliche Diskussionen abbrachen.

Enthüllung des Bismarck-Denkmals am 26.06.1904 in Anwesenheit von Amtmann Karl Berkermann (vierter von rechts), Foto Stadtarchiv Herne
Der Eickeler Amtmann Karl Berkermann (vierter von rechts) bei der Einweihung des Bismarck-Denkmals, Juni 1904 Foto Stadtarchiv Herne

Welche Interessenkonstellationen lagen diesen Stadtrechtskampagnen zu Grunde? Welche Ziele verfolgten dabei die örtlichen Interessengruppen und ihre Gegner?

Die entscheidenden Impulse gingen eindeutig von den mittelständischen Gewerbetreibenden in Wanne aus, die sich seit der Jahrhundertwende verstärkt gemeindeübergreifend zusammengeschlossen hatten, um im Konkurrenzkampf mit den benachbarten (Groß)städten bestehen zu können. Der Eickeler Amtmann Karl Berkermann zeigte 1908 ein sicheres Gespür für die Motive dieser Interessengruppen, deren Politik darauf abzielte, die verwaltungstechnischen Verhältnisse in den bisherigen Amtsbezirken den ökonomischen Bewegungen anzupassen: „Die kleineren Landgemeinden haben sich im Industriebezirke, wo die Grenzen in- und durcheinanderlaufen, überlebt. Eingeschlossen zwischen den Großstädten Gelsenkirchen und Bochum sowie der vergrößerten Stadt Herne, wird es den hiesigen Gemeinden immer schwerer gemacht. Das wirtschaftliche Übergewicht der Städte wirkt drückend auf die Landgemeinden, namentlich dann, wenn diese steuerlich noch schwer belastet sind, wie das z.B. in erhöhtem Maß bei Holsterhausen der Fall ist. Jede geringe Ausgabe macht sich in einem kleinen Haushalt ganz anders geltend wie in einem größeren. So kommt es, dass die kleinen Gemeinden auf mancherlei Verbesserungen, hygienische Einrichtungen, auf dem Gebiet des Schulwesens, Sprengwagen, Straßenverbesserungen usw. verzichten müssen. Die Folge davon ist Unzufriedenheit nicht nur unter den Beamten, sondern auch unter den Eingesessenen. Abgesehen davon müssen auch Anlagen unterbleiben, die sonst den Eingesessenen zu Gute kommen, so auf gewerblichem Gebiete, Eisenbahnen, Kanäle, Hafen usw. Zudem wachsen in größeren Gemeinden die Grundstückspreise anders wie in kleineren, sie können auch Krisen besser überstehen als letztere. Es ist mithin der Grundbesitzer und Gewerbetreibende, der in erster Linie die Vorteile eines großen, leistungsfähigen Gemeindewesens hat.“

Bergassessor Selbach von der Bergwerksgesellschaft Hibernia schrieb am 3. August 1909: „Ja, es ist ja richtig, der Mittelstand ist nicht sehr stark bei uns vertreten; aber gerade, wenn man uns zu einem größeren Gemeinwesen zusammenfügt, dann werden wir erst in der Lage sein, den Mittelstand bei uns zu bilden und zu erhalten. Ein großes Gemeinwesen, eine Stadt besitzt Anziehungskraft für den Mittelstand und schafft selbst einen Teil des Mittelstandes allein schon durch ihre Organe, die städtischen Beamten, durch Behörden und sonstige Einrichtungen, die in die neue Stadt verlegt werden.“

Kommunalwirtschaftlich zielte die Stadtrechtskampagne auf eine Rationalisierung der Verwaltung. Die Gemeinden Wanne und Eickel hatten einen „Zweckverband mit gemeinsamen Einrichtungen“ gebildet: an der Grenze von Eickel wurde ein gemeinsames Gymnasium unterhalten; der Rangierbahnhof von Wanne lag zum Teil auf Eickeler Gebiet; Wanne gehörte zum Bezirk der Reichsbahnnebenstelle Eickel; man betrieb einen gemeinsamen Schlachthof; die Kanalisationssysteme waren aufeinander abgestimmt. Eine kommunale Neuordnung hätte auf der Ebene der Verwaltung also nur nachvollzogen, was sich auf wirtschaftlicher Ebene abzeichnete.

Postkarte mit Amtshaus Eickel, gelaufen 1906, Repro Stadtarchiv Herne
Amtshaus Eickel und Johanneskirche, Postkarte, gelaufen 1906, Repro Stadtarchiv Herne

Eine Erhebung der vereinigten Ämter Wanne und Eickel zur Stadt hätte eine weitere verwaltungspolitische Konsequenz gehabt: Sie hätte unmittelbar zur Ausweitung von Selbstverwaltungsrechten geführt, da der Erteilung von Stadtrechten zwangsläufig die Kreisfreiheit hätte folgen müssen, so geschehen bei den Stadtgründungen Bochums, Gelsenkirchens und Hernes. Kaufmännischer Verein, Haus- und Grundbesitzerverein, der mitgliederstarke Eisenbahner-Verein, Verkehrs- und Wirteverein lancierten deshalb immer neue Stellungnahmen in die lokale Presse.

Und selbst die Gegner des Vereinigungsprojektes erkannten den politisch-ökonomischen Interessenszusammenhang, der aus den Argumenten der Befürworter sprach. „Für die Eingemeindung sind heute eigentlich nur die Beamten und Arbeiter, die durch die Eingemeindung in eine höhere Gehalts- bzw. Lohnklasse aufrücken, sowie die Kaufleute, die sich infolge des Zusammenschlusses eine Belebung des Geschäftsverkehrs erhoffen.“

Offensichtlich aber gelang es den vereinigten Fraktionen Wanner und Eickeler Gewerbetreibender erst nach und nach, die Gemeindevertretungen für ein gemeinsames Stadtprojekt zu gewinnen. Und selbst als im März 1911 das Votum mit 15 zu 2 Stimmen für die Vereinigung und Stadterhebung recht deutlich ausfiel, konnte von einer Beseitigung hinderlicher Probleme kaum die Rede sein: zu heterogen war das Interessengeflecht ökonomischer und politischer Machtfaktoren innerhalb und außerhalb der Gemeinden.

Gescheitert sind die optimistischen Projektionen einer städtischen Zukunft letztlich an der zum Teil widersprüchlichen, schwerlich durchsichtigen, aber einflussreichen Politik der Bergwerksgesellschaften, die sich nur teilweise mit den Ambitionen der Bügerinitiative deckten. Erfahrungen, die schon der erste Herner Bürgermeister und spätere Oberbürgermeister Hermann Schaefer bei dem Kampf um die Stadtwerdung der Landgemeinde Herne machte, „daß damals einflußreiche Leute in Herne gegen die Einführung der Städte-Ordnung waren und sie immer hinauszuschieben wußten“.

Zeche Königsgrube, um 1920, Foto Stadtarchiv Herne

Die Haltung der Zechenbarone gegenüber den Wanner und Eickeler Vereinigungs- und Stadterhebungsplänen lässt keine einheitliche Position erkennbar werden. Politisch trat sie keineswegs als homogener Interessenblock den jeweiligen Projekten gegenüber. Bereits die Verhandlungen der Vereinigungskommisionen zwischen 1907 und 1909, in denen Vertreter aller wichtigen Betriebe der Gemeinden Wanne, Röhlinghausen und Eickel saßen, bestärkten den Eindruck, dass von einem Grundkonsens der Zechenbetriebe in Stadtrechtsfragen kaum die Rede sein konnte.

Die Zeche Königsgrube mit ihrem in Röhlinghausen wohnenden Direktor Daniel Bonacker, „einer mitunter quertreibenden Persönlichkeit“, so der Gelsenkirchener Landrat an den Regierungspräsidenten zu Arnsberg am 14. Januar 1911, vertrat beispielsweise keine eindeutige auf Vereinigung und Stadterhebung ausgerichtete Politik, zumal in diesem Falle eine drastische Steuererhöhung drohte, die man im „Steuerparadies“ Röhlinghausen als gewichtigen Nachteil empfunden hätte. Ihre Gemeindevertreter setzten konsequent eine Politik fort, die den Unwillen zur Finanzierung infrastruktureller Langzeitprojekte festschrieb.

Vollends unübersichtlich wurde die verzwickte politische Lage, als 1911 mit Hordel und Günnigfeld zwei weitere Gemeinden in die Kalkulation des Stadtprojektes einbezogen wurden. In beiden Gemeinden hing die Entscheidung von den Wünschen der Firma Krupp – sie betrieb dort vier Schachtanlagen (Zeche Hannover) – ab, die mit unterschiedlichem Gewicht in den Gemeindevertretungen präsent war. Da weitere vier Schächte (Zeche Hannibal) des Unternehmens auf die Gemeinde Eickel und die Stadt Bochum verteilt waren, konnte die Kruppsche Politik – so jedenfalls schätzte es der gewöhnlich gut unterrichtete Gelsenkirchener Landrat ein – eigentlich nur auf weitgehende Konzentration der Anlagen in einem größeren Gemeinwesen zielen.

Die Rolle des Gelsenkirchener Landrats und Polizeipräsidenten

Viele Jahre hatte Landrat Dr. zur Nieden einen bis dahin erfolgreichen, aber immer ungewisser werdenden Abwehrkampf an mehreren Fronten gegen das mögliche Ende seines Einflussbereiches geführt. Von Regierungsseite drohte durch die Einführung der staatlichen Polizei ab 1909 ein Bedeutungsverlust der Kreisaufsicht bis hin zur Abschaffung des Landratsamtes überhaupt. Der Landrat verkörperte bis dahin die oberste Polizeiinstanz des Kreises, war zugleich auch Vorsitzender des Kreisausschusses, dem die Einsprüche gegen Polizeiverordnungen vorzulegen waren. So kam es, dass in Streitfragen Bürger vor dem Landrat gegen den Landrat klagten. Zwar hatten Amt und Gemeinden auf Grund der Landgemeindeordnung das Recht, per Ortsstatut Anordnungen zu treffen, die rechtsbindende Wirkung erzielten, bedurften aber der Bestätigung durch den Kreisausschuss, also letztendlich durch den Landrat als Vorsitzenden. Aus dieser Perspektive mussten alle Tendenzen, die letztlich die Auflösung des Landkreises Gelsenkirchen hätten forcieren können, konsequent abgewehrt werden. Und in der Tat gelang es Dr. zur Nieden immer wieder, durch geschickte Schachzüge die Interessenblöcke gegeneinander auszuspielen. Zu diesem Zweck begann er einen Schriftverkehr mit den übergeordneten Behörden, dessen herausragende Einzelvorgänge einen zum Teil außerordentlichen Umfang annahmen und dabei auf eindringliche Weise die komplizierte, ja verquere Gesamtsituation widerspiegelten, die schließlich das Stadtprojekt Wanne-Eickel scheitern ließ.

Die starke Stellung der Landräte ergab sich auch aus der Tatsache, dass sie Spitzenfunktionen in wichtigen Zweckverbänden innehatten: der Bochumer Landrat war Vorsitzender der Emschergenossenschaft und des Verbandswasserwerkes sowie zweiter Vorsitzender des Aufsichtsrates der Aktiengesellschaft des Elektrizitätswerkes Westfalen, dem auch der Gelsenkirchener Landrat angehörte. Letzterer saß darüber hinaus einer kommunalen Straßenbahngesellschaft mit einem Anlagekapital von 1,5 Millionen Mark vor und beteiligte sich erfolgreich am Schleppbahn- und Hafenunternehmen Wanne-Herne. Diese Positionen ermöglichten den Landräten zuverlässige Informationen auf Gebieten, die sonst im Wesentlichen nur der Großindustrie vorbehalten waren.

Die Haltung der Oberbürgermeister der umliegenden Städte

Neben dem Widerstand des Landrates machten auch die Oberbürgermeister der Städte Bochum, Gelsenkirchen und Herne aus ihrer Abneigung gegenüber dem Stadtprojekt Wanne-Eickel keinen Hehl. Vielmehr hegten sie eigene Eingemeindungsabsichten. Die Selbstständigkeit der Gemeinde Wanne in Sachen Kanalprojekt wurde als Hauptargument gegen die Bochumer Eingemeindungspläne herangezogen. Und hatte man erst erfolgreich die Bochumer Ambitionen abgewehrt, so hätte auch der Gelsenkirchener Vorstoß wenig Aussichten auf Erfolg gehabt, denn der Zuschlag des Wanne-Eickeler Gebietes an die jüngere und rivalisierende Großstadt wäre als wirtschaftlicher und geografischer Widersinn aufgefasst worden, zumal die Stadt Gelsenkirchen ihr eigenes Hafenprojekt am Rhein-Herne-Kanal betrieb.

Der Anschluss an die eine oder andere Großstadt führe nach Ansicht der Stadtprojektbefürworter Wannes und Eickels in letzter Konsequenz „zur kommunalen Verödung der Landgemeinden, da der gewerbliche Mittelstand seine ohnehin schwache Basis einbüße und jegliche kommunalen Mitwirkungsambitionen einstellen würde. Die verstärkte Abwanderung der wenigen wohlhabenden Familien, die dann drohe, diene schließlich indrekt der Sozialdemokratie, die sich in den zu erwartenden reinen Arbeiterquartieren ungestört ausbreiten könne. Eingemeindungen förderten die Entstehung schwer regierbarer, unübersichtlicher Arbeitervorstädte und zerstörten den Bestand des örtlichen Bürgertums, wo es doch vordringlich gelte, die Arbeitermassen mit diesem Sauerteig staatsfreundlicher Elemente gleichmäßig zu durchsetzen.“ So die Meinung von Landrat Dr. zur Nieden, die er 1908 äußerte.

Der Wille zur Gründung eines neuen, größeren Gemeinwesens durch Zusammenschluss überdauerte in Wanne und Eickel den Ersten Weltkrieg. Die im Kaiserreich gescheiterten Verhandlungen wurden dann Ende 1918 wieder aufgenommen.

Die Stadtrechtskampagne ab Mitte 1918

Bereits Mitte 1918 hatten der Verein der Textilwarengeschäfte der Ämter Wanne und Eickel e.V. sowie die Vereinigten wirtschaftlichen Vereine der Ämter Wanne und Eickel in etwa gleichlautende Anträge an den Herrn Amtmann Weiberg in Wanne gerichtet, die den „Zusammenschluss der Gemeinden Wanne, Eickel, Röhlinghausen, Hordel und Günnigfeld auf der Grundlage der Städterechte“ zum Inhalt hatten. Am 4. Juli 1918 richteten die Amtmänner und Gemeindevorsteher von Eickel, Wanne und Röhlinghausen einen gleichlautenden Brief an die Gemeinden Hordel und Günnigfeld, in dem auf die verschiedensten Gemeinsamkeiten der jeweiligen Gemeinden hingewiesen wurde. Das reichte vom Hinweis auf die Katholiken, welche aus der Eickeler Umgebung noch jährlich die alte Fronleichnamsprozession in Eickel besuchten, bis zu den Kranken aus den Nachbargemeinden, welche die beiden konfessionellen Krankenhäuser in Eickel fast regelmäßig in Anspruch nahmen. Gegen Ende des Briefes heißt es: „Gemäß dem uns gewordenen Auftrage geben wir hiermit den Gemeinden Hordel und Günnigfeld unter Beifügung einer beglaubigten Ausfertigung der gefaßten Beschlüsse von dem einstimmigen herzlichen und innigen Wunsche unserer Gemeindevertretungen kund, unsere kommunale Zukunft mit den Gemeinden Hordel und Günnigfeld zu vereinen und mit ihnen zusammen eine neue westfälische Stadt zu gründen und zu bilden.“

Friedrich Weiberg, Amtmann von Wanne, Repro Norbert Kozicki
Friedrich Weiberg, Amtmann von Wanne, Foto Stadtarchiv Herne

Nur wenige Monate später fassten die beiden umworbenen Industriedörfer in ihren Gemeindevertretungen den Beschluss, in derartige Verhandlungen einzutreten. Anfang 1919 schalteten sich in diese „Brautwerbung“ auch die Oberbürgermeister von Bochum, Gelsenkirchen und Herne ein. Hernes Oberbürgermeister, Dr. Georg Sporleder, wandte sich „streng vertraulich“ am 3. Februar 1919 an die Ämter Eickel und Wanne: „Soll ein neues Gemeinwesen entstehen, so darf es sich m.E. nur um eine wirklich leistungsfähige Großstadt handeln, die sowohl in der Größe des Flächengebiets, in der Einwohnerzahl und vor allen Dingen auch in wirtschaftlicher Beziehung den benachbarten Großstädten mindestens ebenwürdig ist. Aus diesen Erwägungen heraus mache ich unter Bezugnahme auf die mit den Herren Polizeipräsident zur Nieden, Gelsenkirchen, Amtmann Berkermann, Eickel und Amtmann Weiberg, Wanne gehaltene unverbindliche Vorbesprechung namens der Stadt Herne den Aemtern Eickel und Wanne den Vorschlag der Eingemeindung nach Herne, wobei darauf hingewiesen werden soll, daß auch nach dem Süden und Osten Herne’s hin eine den natürlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechende Abrundung des neuen Stadtgebiets angestrebt und bearbeitet wird durch die Einbeziehung des Amtes Sodingen und von Teilen der Gemeinden Riemke, Bergen, Hiltrop und Gerthe in den Eingemeindungsplan. Die projektierte Großstadt würde 175.000 – 200.000 Einwohner haben, sie könnte sich also neben den Großstädten Bochum und Gelsenkirchen sehr wohl behaupten und ihre Interessen mit gleicher Stärke vertreten.“ In dem vierseitigen Papier pries Dr. Sporleder alle Vorzüge seines Projekts an. Da auch Bochums Oberbürgermeister Graff eine Großstadt von der Ruhr bis an die Emscher im Sinn hatte, mussten diese parallelen Planspiele notwendigerweise zu Konflikten führen.

Am 10. Mai 1919 begann eine Reihe von Verhandlungen mit dem Ziel einer kommunalen Neugliederung. Die ersten Sitzungen waren den Gemeindevertretern von Eickel, Röhlinghausen, Wanne, Günnigfeld und Hordel vorbehalten. Gemeindevertreter Heitkamp aus Wanne machte in der ersten Zusammenkunft im Amtshaus Wanne klar, „daß man sich direkt nach Berlin wenden solle, wenn der Landrat den Eingemeindungsbestrebungen nicht die nötige Unterstützung zuteil werden lasse.“ Schließlich wurde folgender Beschluss gefasst: „Versammlung erkennt einstimmig an, daß eine der wichtigsten und dringendsten Aufgaben, die der Lösung durch die Gemeindevertretungen harren, die Frage der zukünftigen kommunalen Gestaltung der Gemeinden ist und hält ein gemeinsames Vorgehen der fünf Gemeinden Eickel, Günnigfeld, Hordel, Röhlinghausen und Wanne für dringend geboten, um zu vermeiden, daß Gemeinden, die durch ihre Lage, durch die Verkehrsverbindungen und durch ihren wirtschaftlichen Zusammenhang bereits enge Berührungspunkte haben, kommunalpolitische Arbeiten beginnen, ohne dabei Rücksicht zu nehmen auf die gleichen Interessen in Nachbargemeinden. Für alle Gemeinden ist z.B. in Verbindung mit der Verbesserung der Wohnverhältnisse die Aufstellung eines einheitlichen Gesamtbebauungsplanes, die Schaffung einer großzügigen einheitlichen Verkehrspolitik, eine einheitliche Bodenpolitik, Erweiterung der sozialen Einrichtungen und dergl. mehr gleich wichtig.“ In den folgenden Verhandlungen wurde deutlich, dass im Gegensatz zu Hordel der Gedanke einer Vereinigung mit Wanne und Eickel in Günnigfeld keine große Begeisterung hervorgerufen hatte. Am 30. Mai 1919 erklärte Gemeindevorsteher Arens aus Hordel, dass seine Gemeinde außerordentlichen Wert darauf lege, dass Günnigfeld beim Vereinigungsbestreben mittut. In der Verhandlung am 20. Juni 1919 im Amtshaus Wanne war dann erstmals auch ein Vertreter des Eingemeindungsausschusses von Günnigfeld – Herr Wenninga – zugegen. Er führte aus, dass „es jedem einleuchten muß, daß sich Günnigfeld heute noch nicht positiv festlegen kann. Nachdem mit Bestimmtheit anzunehmen ist, daß der Landkreis Gelsenkirchen aufgelöst wird, tritt die Frage an uns heran, was wir machen wollen. Nach irgendeiner Seite müssen wir uns entschließen. Der Wunsch in Günnigfeld geht dahin, möglichst selbständig zu bleiben, daß ist heute aber nicht mehr möglich. Irgendetwas wird geschehen müssen. Es liegen uns die verschiedenen Projekte vor, die Anträge auf Eingemeindung nach Wanne-Eickel, Gelsenkirchen, Bochum und Wattenscheid. Ich darf heute sagen, daß die Stimmung für Wattenscheid im Allgemeinen nicht allzu günstig ist. Anders liegt es bei Gelsenkirchen, anders bei Bochum und anders bei Wanne-Eickel. Wir stehen auf dem Boden und möchten heute die Frage aufwerfen, ob es nicht zweckmäßig wäre, daß Wanne-Eickel sich nach Bochum eingemeinden ließe, um zusammen mit Bochum eine Großstadt zu bilden, dafür würde Günnigfeld sofort zu haben sein. Wenn dieses Projekt nicht zustande kommt, und wenn man uns für ein selbständiges Wanne-Eickel überzeugen kann, so würden wir uns aber auch darauf nicht festlegen.“

Erst Amtshaus Wanne, dann Rathaus Wanne-Eickel, Foto Stadtarchiv Herne

Ein Entwurf der Richtlinien für die vorbereitenden Verhandlungen zur Erlangung der Stadtrechte für die Landgemeinde Wanne mit Einschluss der Gemeinden Eickel, Günnigfeld, Hordel und Röhlinghausen vom 27. Juli 1919 nennt am Ende folgendes Ziel: „Entstehen eines neuen Städtebildes, das, mit freundlichen Plätzen und Grünflächen, gut ausgebauten, zweckmäßig verbindenden Straßen, und allen praktischen, zeitgemäßen öffentlichen Einrichtungen ausgestattet, inmitten des durchweg eintönigen, düsteren Bildes der Industriegegend, alle Vorbedingungen erfüllt, eine Pflegestätte echten deutschen Bürgersinnes zu werden.“

In den folgenden Sitzungen machten Günnigfelds Vertreter mehr oder weniger deutlich klar:

  1. Auf keinen Fall nach Wattenscheid,
  2. Verbesserung der Verkehrsverbindungen,
  3. „Neigung“ zur Eingemeindung in die Großstadt, welche die meisten Zugeständnisse macht,
  4. eine Vernachlässigung eingemeindeter Gemeinden wie z. B. Bulmke, Heßler in Gelsenkirchen.

Der Westdeutsche Herold vom 30. Juli 1919 beschäftigte sich mit der Ruhr-Emscher Metropole Bochum. In dem Zeitungsartikel heißt es unter anderem: „Das gute Bochum will Altenbochum, Laer, Weitmar, Linden, Dahlhausen, Hordel, Eickel, Röhlinghausen, Wanne und sonst noch einige kleine Dörfer eingemeinden. Sie meinen es besonders gut mit uns; sie wollen Eilstraßenbahnzüge mit billigem Einheitsfahrgeld einführen, damit wir uns, wie es in einem Berichte heißt, in den Ruhrbergen von schwerer Arbeit in frischer, guter Luft erholen können. Man muß es den Bochumern lassen, sie gehen aufs Ganze. Es gehört schon eine gute Phantasie dazu, sich das neue Gebilde vorzustellen.“

In der Sitzung am 8. August 1919 im Parkhaus zu Günnigfeld bemängelte der Eickeler Beigeordnete Dr. Maßmann die bisherige Politik, lediglich von dem Gesichtspunkt der Vereinigung von Wanne und Eickel aus geleitet worden zu sein. Er bedauerte es, dass die Wanner Herren, ohne vorher alle Gemeinden von dem Vorhaben zu unterrichten, nach Berlin gereist seien. Er bat, dieses für die Zukunft nicht unbeachtet zu lassen. Amtmann Weiberg aus Wanne verteidigte sich, „dass die Reise nach Berlin auf den ersten Blick den Anschein haben könnte, als ob sie einen einseitigen Charakter getragen habe. Er habe jedoch das projektierte Gesamtgebilde nicht aus den Augen verloren.“

Oberbürgermeister Dr. Sporleder richtete am 10. September 1919 erneut einen Brief an die Arbeitsgemeinschaft der fünf Eingemeindungsausschüsse. Diesem legte er 60 Stücke einer Denkschrift über die Vereinigung der Gemeinden Herne, Eickel und Wanne bei. In seinem Brief wies er darauf hin, „daß eine Vereinigung der Gemeinden schon deshalb erwünscht ist, weil einem großen leistungsfähigen Gemeinwesen die durch den Krieg erforderlichen großen Aufgaben erheblich leichter fallen würden, wie wirtschaftlich schwächeren Verbänden.“

An der Sitzung am 22. September 1919 haben neben den Vertretern der fünf Gemeinden auch Landrat und Polizeipräsident Dr. zur Nieden aus Gelsenkirchen, Oberbürgermeister von Wedelstaedt, Gelsenkirchen, sowie Pressevertreter aus Gelsenkirchen, Bochum und Herne teilgenommen. Ein weiteres kommunalpolitisches Novum war der Beschluss des Verkehrsausschusses vom 3. September 1919, für das Vereinigungsgebiet einen Bebauungsplan aufstellen zu lassen.

Einen Tag vor einer örtlichen Besichtigung der fünf Landgemeinden durch Ministerialdirektor Dr. Meister und Regierungsrat Mulert vom Innenministerium in Berlin fand im Sitzungssaal des Kreishauses in Gelsenkirchen am 4. Dezember 1919 eine Sitzung betreffs Aufteilung des Landkreises Gelsenkirchen statt. An dieser wichtigen Zusammenkunft nahmen außer dem Vertreter des Oberpräsidenten von Westfalen der Gelsenkirchener Landrat, Amtmänner, Beigordnete und Gemeindevorsteher der Arbeitsgemeinschaft, Oberbürgermeister und Dezernenten aus Bochum, Gelsenkirchen und Herne sowie Vertreter der Stadt und des Amtes Wattenscheid, des Landkreises Bochum sowie ein Beigeordneter aus Harpen und der Landrat von Hattingen teil.

In den folgenden Monaten wurde immer deutlicher, dass ein Zusammenschluss der fünf Gemeinden wohl nicht zu erreichen sei. In den Schlusssätzen eines Briefes des Wanner Amtmanns Weiberg an den Herrn Landrat zu Gelsenkirchen vom 12. März 1920 heißt es u. a.: „Aus den vorstehenden Darlegungen folgt, daß zum mindesten die Ämter Wanne und Eickel enger zusammen gehören. Sollte aber eine Vereinigung von Wanne, Eickel, Röhlinghausen, Hordel und Günnigfeld nicht zu erreichen sein, so wird letzten Endes Wanne auf alle Fälle für sich die Selbstständigkeit beantragen. Dabei wird es numgänglich nötig sein, eine Grenzregulierung in der Weise vorzunehmen, daß die gemeinsamen Einrichtungen, wie Realgymnasium, Reichsbank und die beiden für Wanne-Süd und Eickel-Nord bestehenden Kirchengemeinden in das Stadtgebiet Wanne miteinbezogen werden. Ferner müßte dann im Osten die Grenze zwischen Herne und Wanne so geregelt werden, daß nicht noch eine andere Kommune, etwa Bochum, wenn Eickel dorthin eingemeindet würde, sich mit einem Keil dazwischen schöbe.“

Stadthalle Wanne-Eickel und Josephskirche, gelaufen 1930, Foto Stadtarchiv Herne
Stadthalle Wanne-Eickel und Josephskirche, Postkarte, gelaufen 1930, Foto Stadtarchiv Herne

Im Juli 1925 feierten Wanne, Eickel und Röhlinghausen gemeinsam eine Werbewoche. Das von den Amtmännern Weiberg (Wanne) und Dr. Maßmann (Eickel) unterzeichnete Geleitwort trägt die Überschrift: Die Werbewoche Wanne-Eickel-Röhlinghausen als Symbol der kulturellen, wirtschaftlichen und kommunalen Einheit. Im Text heißt es u. a.: „So stellen die drei politisch getrennten Gemeinden auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens tatsächlich eine einzige Gemeinde dar, gestützt auf uralten Zusammenhang, geschaffen in allmählicher gesunder Entwicklung, gegründet auf bestem, solidem aussichtsreichem Boden. Für diese alten und neuen Gemeinschaften in breitesten Kreisen der einheimischen und benachbarten Bevölkerung Verständnis zu wecken, erachtet die Werbewoche Wanne-Eickel-Röhlinghausen als eine ihrer vornehmsten Aufgaben. Sie will ferner die Notwendigkeit eines restlosen, endgültigen Zusammenschlusses auch in kommunalpolitischer Beziehung betonen. In allen Veranstaltungen will die Bevölkerung den Beweis erbringen, daß sie fähig und entschlossen ist, weiter Herr im eigenen Hause zu bleiben und ihre Heimat selbst auszugestalten und zu regieren.“ In diesem Zusammenhang wurde die gemeinsam getragene Stadthalle, im Volksmund Käseglocke genannt, eingeweiht.

Plan von Wanne-Eickel, 1925, Repro Stadtarchiv Herne

Im September 1925 erstatteten Staatsminister a.D. Dr. Südekum, Berlin, Prof. Dr.-Ing. Blum, Hannover, und Prof. Kanold, Hannover, ein „Gutachten über die Stadtbildungen Wanne-Eickel und Wattenscheid aus dem Landkreise Gelsenkirchen“, gerichtet an die Herren Mitglieder des Preußischen Staatsrats Berlin. Darin wurde folgende Entscheidung gutachtlich gestützt:

Jahrelangen Bestrebungen folgend haben in den Jahren 1920-21 die Gemeindevertretungen des Landkreises Gelsenkirchen und auch der Kreistag einmütig beschloßen, durch Vereinigung der Gemeinden zwei Mittelstädte:

‒ „Wanne-Eickel“ ‒
aus den Gemeinden Wanne, Eickel und Röhlinghauen
(ca. 95.000 Einwohner),


‒ „Wattenscheid“‒
durch Vereinigung der Stadt mit den Gemeinden des
Amtes Wattenscheid (ca. 60.000 Einwohner) zu bilden.

Dieses Gutachten war 1925 die wesentliche Grundlage für den Referentenentwurf des Preußischen Staatsrats in Berlin. Ministerpräsident Braun und Innenminister Severing legten am 28. Oktober 1925 den Entwurf eines Gesetztes über die Neuregelung der kommunalen Grenzen im rheinisch-westfälischen Industriebezirk vor. Der Unterabschnitt A, §§ 6-8 regelt die Grenzänderungen, die die Stadtgemeinde Wanne-Eickel betreffen. Die Vorschriften lauten im Einzelnen:

§ 6
Die Landgemeinden Wanne, Eickel und Röhlinghausen
des Landkreises Gelsenkirchen werden zu einer
Stadtgemeinde mit dem Namen Wanne-Eickel vereinigt,
unter Grenzberichtigungen gegenüber den Städten
Herne, Bochum und Gelsenkirchen …


§ 7
Die Stadtgemeinde Wanne-Eickel bildet einen selbständigen
Stadtkreis.


§ 8
Die Ämter Wanne und Eickel werden aufgelöst.

An die Bürger der Stadt Wanne-Eickel!, Repro Stadtarchiv Herne

Die Landgemeinde Günnigfeld wurde der Stadtgemeinde Wattenscheid und die Landgemeinde Hordel der Stadtgemeinde Bochum zugeordnet. Die §§ 6-8 dieses Entwurfs sind wörtlich in den Text des Gesetzes über die Neuregelung der kommunalen Grenzen im rheinisch-westfälischen Industriebezirke vom 26. Februar 1926 übernommen worden. Das Gesetz ist am 1. April 1926 in Kraft getreten.

Ein Vierteljahrhundert dauerte es also von den ersten Gedanken an „Heirat“ bis zur „Eheschließung“ von Wanne und Eickel. Dem Gedanken immer treu geblieben sind die „Anfangskandidaten für die Städteehe“ Eickel, Wanne und Röhlinghausen. Andere Brautwerber sind in der entscheidenen Phase zu unentschlossen gewesen (Hordel, Günnigfeld) oder sie waren zu aufdringlich (Bochum, Gelsenkirchen, Herne).

In dem Aufruf ‚An die Bürger der Stadt Wanne-Eickel‘ der kommissarischen Stadtverwaltung vom 1. April 1926 ist unter anderem zu lesen, dass dieser Augenblick die Krönung 25jährigen Bemühens sei. Freier Wille, nicht Zwang habe sie zusammengeführt.

Ganz pragmatisch zeigte man sich bei den erfolgten „Grenzberichtigungen“ aus Anlass der Stadtwerdung: Den in anderen Gemeinwesen übertretenden Bürgern rufen wir ein herzliches Lebewohl, den neu hinzugekommenen Bürgern der Stadt Wanne-Eickel ein ebenso herzliches Willkommen zu.

Großes Fest zur Stadtwerdung am Eickeler Markt, April 1926, Foto Stadtarchiv Herne

Wegen der wirtschaftlichen Not in dieser Zeit wolle man auf Fest und Kundgebung verzichten. Alle bildeten ab 1. April 1926 eine engere Schicksalsgemeinschaft, in der Parteihader, Konfessionszwist und Standesunterschied zurücktreten müssen hinter der Gemeinschaftsarbeit, die allen Belangen diene.

„Unser Ziel sei: In der Stadt Wanne-Eickel soll sich jeder wohlfühlen“, heißt es dann zum Schluss des Aufrufes.

Erster Oberbürgermeister der neuen Stadt wurde Wilhelm Kiwit, der sich mit großem Engagement um die Belange der Bürger gekümmert hat. Sein Wirken wurde im September 1933 von den Nazis beendet, weil er keine linientreue Arbeit zu leisten bereit war.

Wilhelm Kiwit, erster Oberbürgermeister von Wanne-Eickel, Foto Stadtarchiv Herne

Nach der Stadtwerdung von Wanne-Eickel

Am 27. Juni 1930 beschloss der Preußische Landtag die Errichtung eines Amtsgerichtes in der jungen Stadt Wanne-Eickel und erfüllte somit einen Wunsch, der, wie weiter oben beschrieben, bereits 1903 geäußert wurde. In der Begründung zum Gesetz über die Errichtung eines Amtsgerichtes in Wanne-Eickel formulierte das Preußische Staatsministerium viel Positives über die noch junge Stadt. Wanne-Eickel wurde als eine bedeutende Industriestadt dargestellt, die nicht nur von der Ausdehnung des Bergbaus und den damit zusammenhängenden industriellen Betrieben profitiert. Wanne-Eickel bilde einen von den Nachbargemeinden unabhängigen, wirtschaftlichen Mittelpunkt. Besonders wurde die günstige Verkehrslage der Stadt skizziert, die sich aus der Verbindung des Wasserweges mit dem weitverzweigten Schienennetz der Eisenbahn ergab.

Ein bedeutungsvoller Tag für Wanne-Eickel war der 21. April 1955: Rüdiger Klaus wurde als einhunderttausendster Bürger der Stadt Wanne-Eickel geboren. Damit reihte sich die Stadt als 52. in die Reihe der deutschen Großstädte ein. Es trafen Glückwünsche von Ministerpräsident Karl Arnold, Regierungspräsident Biernat, Hernes Oberbürgermeister Brauner und Oberstadtdirektor Ostendorf sowie Wanne-Eickels ehemaligem Oberbürgermeister Kiwit ein.

Glückwunsch der Stadt Herne zur Großstadtwerdung, Repro Stadtarchiv Herne

Festredner bei der Feierstunde am 17. Mai 1955 war der damalige nordrhein-westfälische Innenminister Dr. Franz Meyers. Die Firma Heiland schenkte den Eltern des neuen Erdenbürgers einen Kinderwagen, das Textilwarengeschäft Sturhann & Maus alles Nötige vom Badetuch bis zu Windeln und die Milchversorgung Herne-Wanne-Eickel einen Gutschein über täglich einen Liter Vollmilch für die Dauer eines Jahres.

Die „Wiedervereinigung“ mit Herne

„Natürlich sind die Stadtbezirke Wanne und Eickel benachteiligt, aber nicht dadurch, dass die Verwaltung bewusst und vorsätzlich für Nachteile sorgt. Die Nachteile ergeben sich schon aus Lage und Größe der erst 1926 gebildeten einstigen Stadt Wanne-Eickel.“ Günter Varney von der Gesellschaft für Heimatkunde Wanne-Eickel brachte mit diesen Worten das Dilemma der Stadt Wanne-Eickel, die keine 50 Jahre alt werden sollte, auf den Punkt.

Unterzeichneter Gebietsänderungsvertrag, Repro Stadtarchiv Herne

In der Tat, die Hochzeit von Wanne und Eickel fand in Zeiten von Unruhen und Umwälzungen statt. Die Stadtwerdung wurde durch Einflüsse wie Zersplitterung, Trennung durch die Bahn, Wirtschaftskrisen, Krieg sowie Bergbaukrise behindert. Und so kam es, dass nach dem zweiten großen Neugliederungsspiel, welches Mitte der 1960er Jahre begann, am Ende die von Hermann Schaefer erhoffte „Wiedervereinigung“ von Herne und Wanne-Eickel vollzogen wurde.

Manfred Hildebrandt, Jürgen Hagen

Erstveröffentlichung des ursprünglichen Textes: „Unser Ziel sei: In der Stadt Wanne-Eickel soll sich jeder wohlfühlen – Die Stadtwerdung von Wanne-Eickel am 1. April 1926“. Manfred Hildebrandt, Jürgen Hagen. In: „Der Emscherbrücher“ Band 18 (2019/20). Seiten 7 bis 21. Herausgegeben von der Gesellschaft für Heimatkunde Wanne-Eickel e. V. Herne 2019.